Text: Patrick Holzapfel
Im Jahr 1947 verfasste der sizilianische Lyriker Salvatore Quasimodo ein Gedicht, dessen Titel der belgische Filmemacher Paul Meyer dreizehn Jahre später als Titel für einen der schönsten, traurigsten Filme hervorholte:
Già vola il fiore magro
Non saprò nulla della mia vita,
oscuro monotono sangue.
Non saprò chi amavo, chi amo,
ora che qui stretto, ridotto alle mie membra,
nel guasto vento di marzo
enumero i mali dei giorni decifrati.
Già vola il fiore magro
dai rami. E io attendola
pazienza del suo volo irrevocabile.
–
Schon fliegt die dürre Blume
Nichts werde ich wissen von meinem Leben,
dunkle Monotonie des Bluts.
Noch wen ich liebte, wen ich liebe,
jetzt, wo ich hier beengt, geduckt auf meinen Gliedern
im verdorbenen Märzwind
aufzähle die Plagen der entzifferten Tage.
Schon fliegt die dürre Blume
von den Ästen. Und ich erwarte
die Geduld ihres unwiderruflichen Flugs.
Dem Dichter geht es, wie vielen seiner Zeit, nach dem Zweiten Weltkrieg um ein „soziales Engagement“, das sich in der Sprache der „einfachen Leute“ ausdrückt. Sein Gedichtband Giorno dopo Giorno, dem Già vola il fiore magro angehört, ist eine Anrufung des wehrlosen Menschlichen gegen das herrschende Unmenschliche. Statt des hermetischen Stils seiner früheren Gedichte, nun die Schlichtheit dessen, was es noch auf der Welt gibt. Ein Schrei, Tränen, Verzweiflung, Demut, Widerstand, Würde. Geprägt von den Grauen des Zweiten Weltkriegs entwirft der Dichter so das Bild eines Menschen als vom Wind der Zeit hinfort getragene Blüte.
Meyer muss sich in dieser Haltung wiedergefunden haben, sein Film könnte ein Gedicht aus dem gleichen Band sein. Er ruft nach Erhabenheit im Elend. Nicht um etwas zu beschönigen, nicht um etwas zu ästhetisieren, sondern um gemeinsam mit den Menschen zu schauen, was möglich ist, was noch möglich ist. Vielleicht ist uns das Herz geblieben, heißt es in einem anderen Gedicht Quasimodos, vielleicht das Herz. In der Hölle von Borinage, dem Braunkohleabbaugebiet in Wallonien, droht eben jenes Herz der italienischen „Gastarbeiter“ in den endlos kargen Halden zu versanden. Die Bedingungen fressen den Menschen auf, ersticken seine Fähigkeit zu Wärme. Der Film schenkt ihnen diese Wärme oder lässt sich von ihnen mit ihr beschenken, sie nehmen sie durch den Film auf, schaffen sie für den Film gegen die Kälte der Tage, die Arbeitslosigkeit, den Alkohol, die fremde Sprache, die Entfremdung. In diesem Sinn verleiht sein Film eine Stimme an jene, die vor lauter Staub in den Lungen und Kindern unter den Armen nicht mehr sprechen können. Es sind ihre Lieder, die man hört und es ist ihre Schönheit, die man sieht.
Eigentlich sollte Meyer einen dokumentarischen Film über die gelungene Integration italienischer Kinder in der Region realisieren, mit der Wirklichkeit konfrontiert, entschied er sich aber für die Wahrheit. Er drehte einen fiktionalen, dem neorealistischen Kino Roberto Rossellinis ebenbürtigen Film mit Laiendarstellern und schuf das bleibende Bild einer schmerzvollen Verlorenheit. Dafür wurde Meyer bestraft. Trotz bisweilen enthusiastischer Besprechung in den Cahiers du Cinéma oder in Positif wurde sein Film nur selten gezeigt, er durfte nie wieder einen Kinofilm drehen.