Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zu Peter Nestler: Mülheim/​Ruhr

Text: Alex­an­der Scholz

In einem Inter­view von 2004 beschreibt Rei­nald Schnell, der mehr­fach mit Peter Nest­ler zusam­men­ar­bei­te­te, Mülheim/​Ruhr als dia­lo­gi­schen Film. Die­ser zei­ge Nest­lers und sei­nen Dia­log dar­über, „was das Ruhr­ge­biet eigent­lich ist“ und tau­ge als Basis, wei­te­re, poli­ti­sche Dia­lo­ge zual­ler­erst füh­ren, „über gewis­se Din­ge über­haupt spre­chen zu können“.

Mülheim/​Ruhr ver­zich­tet indes auf Wor­te. Wie vie­le von Nest­lers frü­hen Fil­men ver­wen­det er – ent­ge­gen den Gepflo­gen­hei­ten der Zeit – kei­nen Syn­chron­ton, son­dern ver­traut auf die Musik von Die­ter Süver­krüp und den Schlag eines Metro­noms. Erler­nen wir weni­ge Jah­re spä­ter, in Rhein­strom, das Voka­bu­lar für die Arbeit von See­leu­ten, ver­fol­gen wir in Mülheim/​Ruhr allein deren Hand­grif­fe vor dem Klang der Sai­ten. Mit den Ein­drü­cken blei­ben wir aller­dings nicht allein. Den Film zeich­net eine Sorg­falt der Bil­der und der Kom­po­si­ti­on aus, die kei­ner Wor­te bedarf, um Bezie­hun­gen und Aus­tausch zu stif­ten, um sei­ne Zuschauer:innen einzubeziehen.

Mül­heim kommt dar­in als ein Ort des Über­gangs in den Blick. Zu Beginn fah­ren wir mit dem Zug, mit dem Schlep­per und mit dem Auto in eine Stadt ein, die wir am Ende per Schiff ver­las­sen wer­den. Dazwi­schen erfah­ren wir das Dazwi­schen. Eine Stadt, in der bereits die ers­ten Zechen geschlos­sen wur­den, in der der Wan­del im vol­len Gan­ge ist bzw. nie aus­ge­setzt hat. Eine Stadt, der kein klas­si­sches Por­trait, kein Zen­trum abge­run­gen wer­den kann, wes­halb der Film schnell durch ihre Mit­te has­tet, um uns im gemäch­li­che­ren Takt ihre Rän­der zu zeigen.

Hier begeg­nen sich zeit­li­che, sozia­le, mate­ri­el­le Schich­ten: Denk­mä­ler aus dem Kai­ser­reich, von denen bald zum Fried­hof geschnit­ten wird, aus den Fabrik­to­ren eilen­de Arbeiter:innen und Bürger:innen, die gemes­se­nen Schrit­tes die sau­be­re Ruhr­pro­me­na­de ent­lang schrei­ten, moder­ne Bun­ga­lows, vor denen neue Autos par­ken, und hohe schma­le Mehr­fa­mi­li­en­häu­ser, hin­ter denen Gär­ten Bra­chen ähneln, Ein­schuss­lö­cher und Sicht­be­ton. Ungleich­zei­ti­ges im flot­ten Rhyth­mus ste­ter Ver­än­de­rung. Wäh­rend wir das Metro­nom schla­gen hören, fügen sich in der Mon­ta­ge Hin­wei­se auf die Epo­chen, die der Wirt­schafts­wun­der­zeit vor­aus­ge­hen, zu den Boten ihres Aus­klin­gens und ihrer Widersprüche.

Dazwi­schen Kin­der. Nest­ler zeigt sie häu­fig als Men­schen in For­mung begrif­fen, noch am Über­gang. Sie müs­sen sich schon in Rei­hen vor den ihnen zuge­dach­ten Insti­tu­tio­nen auf­stel­len, toben aber lie­ber noch über den Schul­hof oder tan­zen gar selbst­ver­ges­sen auf der Mit­te der Stra­ße. Die Gesell­schaft repro­du­ziert sich und schiebt ihre neu­en Mit­glie­der in Kin­der­wä­gen vor sich her: vor­bei an Knei­pen, ent­lang des die­si­gen Fluss­betts der Ruhr.