Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Esther Kahn von Arnaud Desplechin

Film als Widerspruch: Esther Kahn von Arnaud Desplechin

Arnaud Des­plech­ins Esther Kahn ist ein Film der Wider­sprü­che. Der augen­fäl­ligs­te davon: Es ist zugleich ein uni­ver­sel­ler und ein spe­zi­fi­scher Film. Uni­ver­sell, also all­ge­mein gül­tig, weil sein The­ma eines ist, das zu uns allen spricht, weil es jeder­mann betrifft, weil wir uns jeden Tag damit befas­sen müs­sen. Wie soll ich älter wer­den? Wie wer­de ich erwach­sen? Vor allem auch: Wie erschaf­fe ich mei­ne Per­sön­lich­keit? Die Fra­gen, die der Film bezüg­lich sei­ner Prot­ago­nis­tin in jeder Sze­ne stellt, sind so breit, so zeit­los wie mög­lich. Wie muss ich auf die Welt reagie­ren? Wie muss ich han­deln? Muss ich über­haupt irgend­et­was tun? Damit geht die Fra­ge ein­her, was eine Hand­lung ist. Die­se Fra­ge wird im Film direkt ange­spro­chen, als Esther Kahn, aspi­rie­ren­de Büh­nen­schau­spie­le­rin, von ihrem Men­tor erklärt bekommt, was es bedeu­tet, zu schau­spie­lern. Die­se Fra­gen loten das Ver­hält­nis vom Indi­vi­du­um zur Gesell­schaft aus, den ewi­gen Kampf, Ein­gang ins Leben, in die Umwelt zu fin­den, den die­ses Ver­hält­nis mit sich bringt. In die­ser Hin­sicht kön­nen wir uns alle mit dem Film respek­ti­ve sei­ner Haupt­fi­gur identifizieren.

Spe­zi­fisch ist der Film wegen sei­ner Detail­ver­ses­sen­heit. Zeit­punkt und Ort sind so exakt umris­sen, dass er nur genau dann und dort der­art statt­fin­den könn­te: jüdi­sche Immi­gran­ten, Schnei­der­fa­mi­lie, im Lon­do­ner East End, um das Jahr 1900. Und obwohl die Figur der Esther Kahn eigent­lich so nach­voll­zieh­bar, so bekannt weil in uns selbst ange­legt wäre, wird sie so prä­sen­tiert, als sei sie eine Aus­ser­ir­di­sche. In Arthur Sym­ons gleich­na­mi­ger Kurz­ge­schich­te, die im Film oft als erzäh­le­ri­sches Voice-Over zitiert wird, heißt es: «[Esther Kahn’s] who­le face see­med to await, with an infi­ni­te pati­ence, some moul­ding and awa­ke­ning force, which might have its way with it. It wan­ted not­hing, anti­ci­pa­ted not­hing; it wai­ted. Only the eyes put life into the mask, and the eyes were the eyes of the tri­be; they had no per­so­nal mea­ning in what see­med to be their mys­tery; they were rea­dy to fasci­na­te inno­cent­ly, to be into­le­ra­b­ly ambi­guous wit­hout inten­ti­on; they were fathom­less with mere sleep, the uncon­scious dream which is in the eyes of ani­mals.“

Esther Kahn von Arnaud Desplechin

Die Iden­ti­fi­ka­ti­on wird neu­tra­li­siert durch Ent­frem­dung; ers­tens durch das Ansie­deln der Hand­lung in einem fer­nen und her­me­ti­schen Milieu, zwei­tens durch das Abgren­zen der Haupt­fi­gur, ihre Nicht­an­ge­passt­heit an die­ses Milieu (Geschwis­ter, Eltern, Rab­bi­ner, sämt­li­che sozia­len Kon­tak­te), und drit­tens durch die Nicht­an­ge­passt­heit an unse­re Jetzt­zeit; an grund­sätz­li­chen Gepflo­gen­hei­ten, Umgangs­for­men, die in allen Kul­tu­ren die­sel­ben sind und erwar­tet wer­den: bei­spiels­wei­se Reak­ti­on, irgend­ei­ne Reak­ti­on, auf Impul­se der Umwelt.

Die­ser Non­kon­for­mis­mus ist moti­viert weni­ger durch jugend­li­chen Wider­stand gegen das Umfeld oder eine beson­de­re, aus­ge­fuchs­te Schlau­heit (sie wird als „neither cle­ver nor stu­pid; but inert“ beschrie­ben) als durch Esthers Rat­lo­sig­keit, durch ihre Nicht-Iden­ti­fi­ka­ti­on, durch Unver­ständ­nis ihm gegen­über; durch das Nicht-Sol­len-Wol­len; das bedeu­tet gera­de auch Eigen­stän­dig­keit, die ihr von allen stets abge­spro­chen wird, und eine fra­gi­le Wür­de. In einer para­bel­ar­ti­gen Sze­ne zu Beginn, als die Kin­der der Fami­lie zu Bett gehen, wird Esther von ihrer Schwes­ter gefragt, auf wel­che Eigen­schaft sie beson­ders Wert legt. Sie zögert; die eine Schwes­ter sagt, auf ihre Schön­heit, die ande­re, auf ihre Intel­li­genz, der Bru­der möch­te reich wer­den. Esther fin­det kei­ne Ant­wort. Dass sie spä­ter das Thea­ter und das Schau­spie­lern als ihre „Domä­ne“ ent­deckt (iro­ni­scher­wei­se gera­de sie als per­ma­nent anti-per­for­ma­ti­ve Lebens­künst­le­rin), wird nicht, wie zu erwar­ten, als Kata­ly­sa­tor zu einer groß ange­leg­ten Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung ver­wen­det. Der Kon­flikt zwi­schen ihr und der Umwelt persistiert.

Die Figur Esther Kahn erscheint uns des­halb bizarr, los­ge­löst, distan­ziert; aber auf war­me, sen­si­ble Art. Nicht nur wird uns damit die Mög­lich­keit gege­ben, sie zu hin­ter­fra­gen, son­dern auch uns selbst. Viel­leicht nur, weil ich kurz zuvor Ordet gese­hen habe, aber: Esther Kahn scheint mir in gewis­sen Din­gen ähn­lich Drey­ers Film. Bei­de Fil­me distan­zie­ren uns mit der glei­chen Ges­te, mit der sie uns zu sich holen. Drey­ers Ein­stel­lun­gen beschwö­ren eine los­ge­lös­te, zeit­lo­se Welt, die wir durch einen Guck­kas­ten betrach­ten, die aber aus unse­rem Inners­ten zu kom­men scheint, uns so uner­gründ­lich bekannt wie ein längst ver­ges­se­ner Traum. Alle Figu­ren in Ordet, selbst der „ver­rück­te“ Johan­nes, erschei­nen uns logisch und authen­tisch; in Zeit­lu­pe kön­nen wir die ent­ste­hen­den, unver­meid­ba­ren Kon­flik­te betrach­ten, ver­gleich­bar her­an­zie­hen­den, unheil­vol­len Wol­ken, Resul­tat kol­li­die­ren­der inne­rer Wer­te­sys­te­me. Über­haupt sind der sich selbst als Jesus­fi­gur sehen­de Johan­nes und Esther Kahn ein­an­der ähn­lich, trotz ihrer Gegen­sätz­lich­keit; unfrei­wil­lig apart vom Rest der Gesell­schaft ste­hend, als Reak­ti­on letz­te­rer auf ihren unter- (Esther) respek­ti­ve über­trie­be­nen (Johan­nes) Wil­len, ihre Per­son zu erfin­den; das heißt ihrem Nicht-Mit­ge­hen des Weges, der für ihre Per­sön­lich­kei­ten von der Gesell­schaft vor­ge­se­hen ist.

Die Vor­gän­ge bei­der Fil­me bezeu­gen wir wie durch ein her­me­tisch abge­schlos­se­nes Reagenz­glas, wie eine che­mi­sche Reak­ti­on, obwohl Esther Kahn fil­misch ganz ande­re Mit­tel anwen­det als Ordet. Ein sinn­lich-impres­sio­nis­ti­scher Stil herrscht vor. Es kon­fron­tie­ren uns, durch Hand­ka­me­ra, Rea­li­täts-Schnip­sel, Frag­men­te, in Groß­auf­nah­me, ein biss­chen wie in Bruce Bail­lies Valen­tin de las Sier­ras. Die­se Schnip­sel, die uns außer­or­dent­lich nahe ans Gesche­hen, an Details her­an­brin­gen (und Details, Hand­ge­lenk, Wan­ge, wer­den in der ers­ten Hälf­te des Films oft noch beson­ders betont durch den Ein­satz von Iris­blen­den) las­sen uns auch etwas ver­lo­ren zurück, zer­brö­seln die Rea­li­tät, die wir uns noch­mals neu zusam­men­bas­teln müs­sen. Arthur Sym­ons schreibt in sei­ner Geschich­te: «Some­ti­mes, when [Esther] had been wat­ching [her fami­ly] until they had all see­med to fade away and form again in a kind of visi­on more pre­cise than the rea­li­ty, she would lose sight of them altog­e­ther, and sit gazing straight befo­re her, her eyes wide open, her lips par­ted.» Die­ses stän­di­ge Push and Pull wird eigent­lich den gan­zen Film über prak­ti­ziert; in einer genia­len Sze­ne wird die­ser Satz aber wort­wört­lich umge­setzt, als wir sehen, wie Esther die Fami­lie betrach­tet, und ver­schie­de­ne Fami­li­en­sze­nen sanft über­blen­det wer­den, sich tat­säch­lich zu einem gro­ßen, mul­ti­di­men­sio­na­len Puz­zle for­mend, das Uni­ver­sel­le und das Spe­zi­fi­sche vereinend.