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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

American Honey von Andrea Arnold

Filmfest Hamburg: American Honey von Andrea Arnold

Alle Men­schen sind in letz­ter Kon­se­quenz Ster­nen­staub. Aus die­sem Grund hat Stars Mut­ter ihr bei der Geburt die­sen extra­va­gan­ten Namen gege­ben. Die Mut­ter ist mitt­ler­wei­le tot. Wie so vie­le Ange­hö­ri­ge der ame­ri­ka­ni­schen Unter­schicht des Mitt­le­ren Wes­tens ist sie der gefähr­li­chen Anzie­hungs­kraft von Crys­tal Meth zum Opfer gefal­len. Da ihr Vater sein Leben nicht sehr viel bes­ser auf die Rei­he bekommt, küm­mert sich Star um ihre bei­den jün­ge­ren Geschwis­ter. Die ers­ten Minu­ten von Ame­ri­can Honey deu­ten auf ein düs­te­res Sozi­al­dra­ma hin, auf eine uner­bitt­li­che Abrech­nung mit der Lebens­rea­li­tät der ame­ri­ka­ni­schen Unter­schicht im bible belt. Doch dann kommt Jake und sein Mob ver­rückt-aus­ge­las­se­ner Kreuz­rit­ter, die in der stol­zen Tra­di­ti­on des ame­ri­ka­ni­schen sales­man mit Zeit­schrif­ten-Abon­ne­ments unter dem Arm durchs Land zie­hen und Star in ihre Bru­der-/Schwes­tern­schaft auf­neh­men. Ein wei­tes Land ist das, durch­aus facet­ten­reich, kli­schee­be­la­den, aber in letz­ter Fol­ge durch eine Rei­he wech­sel­sei­ti­ger Bezie­hun­gen geprägt. Bezie­hun­gen zwi­schen Klas­sen, Ras­sen, Geschlech­tern, Kli­ma­ta und Öko­sys­te­men. Andrea Arnold wirft in Ame­ri­can Honey einen Blick auf die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, der auf der einen Sei­te tief in Ame­ri­ca­na ver­an­kert zu sein scheint, auf der ande­ren Sei­te (allein durch die Her­kunft der Regis­seu­rin) von außen kommt. Am Anfang steht da gedul­di­ge Beob­ach­tung und eine Fas­zi­na­ti­on für die lang eta­blier­ten (und fil­misch ver­ewig­ten) Rei­ze die­ses Lands – die end­lo­sen Wei­ten, die Gold­grä­ber­men­ta­li­tät, der uner­mess­li­che Reich­tum –, aber auch ein sozi­al­kri­ti­sches Bewusst­sein für das Elend der unte­ren Schich­ten, für die struk­tu­rel­le Dis­kri­mi­nie­rung und die feh­len­de Per­spek­ti­ve für wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung. Aus die­sen Schich­ten rekru­tiert sich die Grup­pe an jugend­li­chen Ver­käu­fern, die unter der Ägi­de der eisi­gen Krys­tal (ein Hybrid aus White Trash und Sou­thern Bel­le) durch das Land rei­sen, um mit ihren Zeit­schrif­ten die gut­mü­ti­ge­ren und wohl­mei­nen­de­ren unter den Bür­ger übers Ohr zu hau­en. Bis auf Shia LaBe­ouf, der Krys­tals rech­te Hand Jake ver­kör­pert, rekru­tier­te Arnold dafür eine beein­dru­cken­de Rie­ge expres­si­ver Phy­sio­gno­mien. Die schil­lern­de Trup­pe an inter­es­san­ten Gesich­tern, die für sich bereits eine eige­ne Geschich­te erzäh­len ist wohl eine der Haupt­at­trak­tio­nen in Ame­ri­can Honey. Dazu kommt noch die Phy­sio­gno­mie der Land­schaft. Zwar ver­zich­tet Arnold dar­auf mit Land­schafts­auf­nah­men der step­pen­ar­ti­gen Wei­ten des Mitt­le­ren Wes­tens zu prot­zen, doch hat sie eine Viel­zahl an Orten gefun­den, die man nicht in all­zu gro­ßer Regel­mä­ßig­keit im Kino sieht: die Slums der kri­sen­ge­beu­tel­ten zen­tra­len Bun­des­staa­ten, wie man sie z.B. aus Winter’s Bone kennt, die aus dem Nichts gewach­se­nen (Schiefer-)Ölfelder der Dako­tas und Mon­ta­nas, die Sky­line und Vil­len­vier­tel von Kan­sas City. Gera­de die Aus­wir­kun­gen des Schie­feröl­booms sind bis­her nur spär­lich kine­ma­tisch in Sze­ne gesetzt wor­den – in die­sen ehe­mals ver­nach­läs­sig­ten, nun neu­rei­chen Regio­nen hat der Film sei­ne bes­ten Szenen.

American Honey von Andrea Arnold

Aber Obacht, es lau­ern Stol­per­fal­len am Weg, die zu Kri­tik am Film ein­la­den: all­zu pla­ka­ti­ve Ver­ur­tei­lun­gen der Ein­kom­mens­ver­tei­lung und blut­lee­re Kri­tik am Kapi­ta­lis­mus; eine Bild­spra­che, die in vie­ler­lei Hin­sicht an die Sun­dance-Ästhe­tik ande­rer US-Indies erin­nert; ein Über­maß an Musik­zi­ta­ten. Aber all das hat auf einer ande­ren Ebe­ne sei­ne Berech­ti­gung und ent­puppt sich bei genaue­rer Betrach­tung als viel­schich­ti­ger, als man das zunächst zuge­ben will. Es hat etwas Iro­ni­sches wenn ein Klein­bus vol­ler wei­ßer Süd­staat­ler sich von Hip Hop Musik zur kapi­ta­lis­ti­schen Jagd aufs Geld moti­vie­ren lässt (ich wür­de behaup­ten, dass money im Kon­text der schwar­zen Musik­kul­tur eine ande­re Bedeu­tung hat, als für den wei­ßen Geld­wä­scher, der sich auf­macht Mil­lio­när zu wer­den). Zudem peitscht die Musik nicht nur die Prot­ago­nis­ten, son­dern auch den Film vor­an, ver­leiht ihm eine Form roher Ener­gie, die sehr gut mit dem Road­mo­vie-Rhyth­mus har­mo­niert. Die Lager­feu­er­ro­man­tik à la Sun­dance bricht Arnold mit feh­len­der Schrul­lig­keit und dem Ver­zicht auf die Glo­ri­fi­zie­rung und Weich­zeich­nung von Armut, sowie einer Absa­ge an jed­we­de Form der nar­ra­ti­ven Schlie­ßung. Der Sozi­al­rea­lis­mus ver­mengt sich mit einem ober­fläch­li­chen Bezie­hungs­dra­ma zu einer Art ziel­lo­sem Road­mo­vie (ist es nicht eigent­lich kon­sti­tu­tiv für die­ses Gen­re, dass eine im Vor­hin­ein fest­ge­leg­te Desti­na­ti­on ange­steu­ert wird?), das in den rich­ti­gen Momen­ten unein­deu­tig, hart, aber zugleich hoff­nungs­voll bleibt. Ame­ri­can Honey ist ein coming-of-age Dra­ma ohne abschlie­ßen­des Befrei­ungs­er­leb­nis, eine Roman­ze mit unkla­ren Aus­gangs- und End­punk­ten und eine gedul­dig beob­ach­ten­de, aber macht­lo­se Sozialstudie.

Man kann so eini­ges kri­ti­sie­ren an Ame­ri­can Honey, doch 160 Minu­ten kraft­vol­le Bil­der spre­chen für sich. Ver­meint­li­che Schmu­se­äs­the­tik trifft auf bru­ta­len Rea­li­täts­glau­ben, die Hoff­nung auf schnel­les Geld auf das öko­no­mi­sche Elend, gefühl­vol­les Lie­bes­spiel auf fleisch­li­che Begier­de. Es lässt sich wie­der ein­mal mit Cris­ti Puiu sagen: Es ist alles nicht so einfach.