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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Filmfest Hamburg Tag 4: Staffellauf und Sammelklagen

Wie letztes Jahr an dieser Stelle fällt mir die Aufgabe zu, Patricks Festivaltagebuch weiterzuführen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst und ich kann nur mein bestes versuchen Doppelungen und Überschneidungen zu vermeiden. Deshalb beginne ich anekdotisch (die Anekdoten kann Patrick mir nämlich nicht wegnehmen, Ha!):

Acht Uhr früh Ortszeit in Hamburg. Der Nachtzug aus Wien kommt dreißig Minuten zu früh am Bahnhof an. Die Akkreditierungsstelle im Festivalzentrum öffnet um 9 Uhr 30 (die Wartezeit überbrücke ich mit Kaffee und Franzbrötchen). Um 10 Uhr sitze ich in den gemütlichen Sesseln des seelenlosen Multiplexes am Dammtor und lasse mich in die teils bizarre, teils verzückende Wunderwelt von O Ornitólogo von João Pedro Rodrigues entführen. Letztes Jahr habe ich im gleichen Saal The Assassin von Hou Hsiao-hsien als ersten Film in Hamburg gesehen. Ganz so hoch ist O Ornitólogo zwar nicht einzuschätzen, aber es ist immer schön, wenn ein Festival mit einem Glanzlicht beginnt.

O Ornitologo von João Pedro Rodrigues
O Ornitologo von João Pedro Rodrigues

Der paraguayische Festivalbeitrag La última tierra von Pablo Lamar ließ mich ähnlich unentschieden/perplex zurück (jedoch in nicht ganz so positivem Sinne). Mit der mythologisch angereicherten Zauber-/Traumwelt von Rodrigues hat La última tierra zwar nicht allzu viel zu tun, aber in der Beobachtung allgemeiner Trends im Festivalkino scheint die beiden Filme zumindest eines zu verbinden. Sie erarbeiten sich beide aus einer Art filmischen Naturalismus (der eigentlich gar keiner ist) inszenatorischen Freiraum. Während Rodrigues daraus ein sehr vielschichtiges Muster spinnt und verspielt ganze Ideen- und Bilderwelten wild zirkulieren lässt, mündet sie bei Lamar in einem kompromisslosen filmischen Skulpturalismus. Kann man einem Filmemacher vorwerfen, dass er unfassbare, schillernde Bilder schafft? Bin ich zu misstrauisch, wenn ich die überbordende Ornamentik, die langen Einstellungen und den Verzicht auf Dialog als leere Gesten zu erkennen glaube? Kann überwältigende Schönheit Sünde sein, wenn sie zur Fototapete wird? Wie lässt sich ein Film einschätzen, der zwar eine Sache wirklich gut macht, aber so vollkommen substanzlos daherkommt, dass man ihn eigentlich am liebsten als nichtig abtun würde?

Noch eine Anekdote: In der Vorstellung von Inimi cicatrizate von Radu Jude (Patrick hat bereits über den Film geschrieben), die ich besuche sitzt einige Plätze weiter in meiner Reihe eine ältere Dame, die einerseits ziemlich leicht durch Nacktheit und Ekel zu schockieren ist, und andererseits bei jeder der zahlreichen Texteinblendungen laut aufseufzt (es sind Zitate aus den Werken von Max Blecher, auf denen der Film basiert), als ob ihr das Lesen körperliche Schmerzen zufügen würde. Eine Sammelklage beim Filmfest wäre angebracht: zum Lesen hätte sie nicht den beschwerlichen Weg durch die spätherbstliche Hafenmetropole auf sich nehmen müssen, sondern auch einen verstaubten Roman zur Hand nehmen können. Vielleicht konnte die Dame auch einfach nicht mit der entwaffnenden Stille umgehen, die in diesen Momenten den Kinosaal erfüllte.

Sammelklage, die Zweite: die Vorstellung von Behnam Behzadis Inversion beginnt mit einer grundlosen 25-minütigen Verspätung, die dazu führt, dass ich mich ziemlich sputen muss, um noch rechtzeitig vor Beginn des nächsten Films in meinem Programm die absurd weite Entfernung zwischen den Festivalkinos zu überbrücken.

Sammelklage, die Dritte: wer sich nicht hinten in der Schlange anstellt, sondern eine Abkürzung in Betracht zieht, um sich den besten Sitzplatz für Paul Verhoevens Elle zu ergattern, der zieht damit die ganze Wut des deutschen Bildungsbürgertums zu. Als handzahme Cinephile, die ohnehin nicht von der letzten Reihe aus mit dem Opernglas auf die Leinwand spähen wollen, haben Patrick und ich diesen Skandal natürlich nur in einer Zuschauerrolle erlebt.