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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Filmfest Hamburg Tag 6: Stranger Things

Der letzte Festivaltag brachte mit American Honey von Andrea Arnold einen meiner beiden Lieblingsfilme des diesjährigen Filmfests Hamburg. Ähnlich nachhaltig beeindruckt hat mich sonst nur Der traumhafte Weg von Angela Schanelec. Der Film ist eine folgerichtige Etappe im Gesamtwerk von Schanelec (Patricks Besprechung des Films hier). Es gibt aktuell wohl nur wenige Filmschaffende, die in einer so konsequenten Formsprache ihre künstlerischen Ideen artikulieren. Es ist eine Form des Filmemachens, die einen großen Teil der Verantwortung in die Hände (bzw. die Köpfe) des Publikums abgibt, ohne dabei je beliebig zu werden oder an Konkretheit zu verlieren (wobei Schanelecs Filme zu komplex sind, um sie in so wenigen Zeilen präzise beschreiben zu können).

American Honey von Andrea Arnold ist kaum mit Der traumhafte Weg vergleichbar, offenbart bei genauerer Betrachtung aber überraschende Qualitäten. Was leicht als wenig inspirierter Indie im Geiste typischer Sundance-Kost interpretiert werden könnte, ist eine kluge Auseinandersetzung mit einer Reihe ineinander verzahnter Faktoren, die das heutige (und vergangene) Amerika prägen. Die Britin Arnold begibt sich tief ins Innere des Landes, um dort aus Americana, Klischees und genauer Beobachtung ein zielloses Roadmovie und ein kraftvolles coming-of-age Drama zu kreieren (eine längere Besprechung von mir hier).

American Honey von Andrea Arnold
American Honey von Andrea Arnold

Über O Ornitologo von João Pedro Rodrigues habe ich bereits an früherer Stelle kurz geschrieben. Patrick hat dessen Nähe zu Alain Guiraudies Rester Vertical in einem der vorangegangenen Festivalartikel bereits angedeutet. Die beiden Filme verbindet weniger ihr visueller Stil oder ihre Themenauswahlen, sondern die inszenatorische Freiheit mit der die Regisseure ihre Ideen umsetzen. Sowohl O Ornitologo als auch Rester Vertical beginnen mit einer unaufgeregten, einführenden Passage, in der die jeweiligen Protagonisten durch die Natur ziehen. Aus diesem bedächtigen Naturalismus entwickeln schließlich beide Filme eine zunehmende Verrücktheit. Wo anfangs alles fein geordnet zu sein scheint, werden nach und nach einzelne Elemente ver-rückt. Rodrigues orientiert sich dabei für seine Version des Magischen Realismus an mythologischen und christlichen Motiven, spielt mit Wahrnehmung, Beobachtung und Identitäten. Guiraudies Bildgestaltung bleibt nüchtern, seine Wege führen ihn nicht ins Reich des Übernatürlichen, sondern in die Absurditität des Alltäglichen. In der Konfrontation mit einem ansonsten gewöhnlichen Umfeld werden seine absurd-komischen Einfällen deshalb als noch irritierender wahrgenommen (so machen es auch die Surrealisten). Die Vorgänge im Leben des Protagonisten Léo sind unwirklich, aber die Welt ist es nicht. Deshalb wirken Guiraudies Einfälle zum Teil abgehoben und laufen Gefahr zum Selbstzweck zu werden, Schrulligkeit und Komik um ihrer selbst willen zu erzeugen. Rester Vertical entgeht dem Verdikt der totalen Beliebigkeit letztendlich durch seine kreative Güte, durch das schiere Ausmaß der Verrücktheit und durch Schauspieler, die mit Haut und Haar darum kämpfen ihre spröden Figuren in der Realität zu erden.

Weil es bis dato noch nicht vorgekommen ist, muss ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass Patrick einen Gratis-Wrap gewonnen hat, weil er an der Kassa des Cup’n’Go (eine Art Kartoffel-Fastfoodrestaurant) einen Dreier-Pasch gewürfelt hat (ich habe natürlich nichts gewonnen). Und das ausgerechnet nach der Vorstellung von Yourself and Yours (man darf darüber spekulieren, ob ihn dieses Erlebnis zu seiner Besprechung des Films inspiriert hat). Letzte Erkenntnis des Tages (und des Festivals): Wer den abschließenden Tagebucheintrag verfasst, hat eine Menge Artikel zu verlinken.

Der traumhafte Weg von Angela Schanelec