In Kinder. Wie die Zeit vergeht, dem dritten Teil der Halle-Neustadt Trilogie von Thomas Heise gibt es eine dieser Szenen, die es nur in Filmen geben kann. Man sieht etwas, aber es geht nicht von den Augen ins Gehirn sondern direkt in den Körper. Diese Szenen lösen eine Resonanz im Zuseher aus, die zur gleichen Zeit persönlich wie auch philosophisch wirkt. Mit „philosophisch“ ist hier gemeint, dass sie trotz der emotional-persönlichen Wirkung zu einer allgemeineren Auseinandersetzung einladen. In der Szene, über die ich im Folgenden nur aus meiner Erinnerung an ein Screening vergangene Woche schreiben kann, folgt die Kamera dem jungen Paule bei einem Jugendfußballspiel. Paule ist der jüngere Sohn von Jeanette Gleffe, deren Leben im Zentrum des dritten Teils der Trilogie steht.
Es ist eine erstaunliche Szene, da sich der Kameramann bei einem offensichtlich tatsächlichen Kinderfußballspiel zwischen den Spielern auf den Platz bewegt. Daraus entsteht eine Dynamik, die man normalerweise nur aus stilistisch extrem erhöhten Nike-Werbespots kennt. Auf der Tonspur hört man unablässig das Atmen des jungen Paule, an dem die Kamera klebt, obwohl sie immer wieder droht, ihn zu verlieren, Rufe gehen durcheinander, alles findet in diesen massiv poetischen schwarz-weißen Bildern statt, die das Sonnenlicht zu einer schwachen Unwirklichkeit verdammen. Paule rennt in alle Richtungen, dann bleibt er stehen, er schaut, er ist konzentriert und im Spiel versunken. Da die Kamera nur ihm folgt, wirkt er trotz oder gerade wegen der anderen Spieler isoliert. Es sind einsame Momente da auf dem Fußballplatz. Jeder Junge spielt für sich und seine Anerkennung/Eltern. Einige Einstellungen zeigen den Gegenschuss. Beobachtende Eltern, eine Parallelfahrt entlang der Zaungäste, zunächst wirkt es fast wie in einem Film von Ulrich Seidl, eine kleine Freakshow mit diskutierenden Vätern in Trainingsanzügen, wild gestikulierend und den hyperventilierenden Müttern, die ihre Freude über den „Starstatus“ ihres Sohnes kaum verbergen können. Ein paar abwesende Gesichter dazu und man befindet sich in der Welt, die man eben überall auf Nachwuchsplätzen und darüber hinaus wahrnimmt. Doch in dieser Einstellung liegt auch eine ungeheure Sinnlichkeit, ein Verständnis für Zusammenhänge, die über Generation laufen. Wer selbst Fußball gespielt hat, findet sich wieder in dieser Situation zwischen dem Spiel, dem Ich in diesem Spiel, den Eltern, dem Wettbewerb. Es ist ein zutiefst komplexes Gefühlsgewebe, da sich für einen Jungen dort und eigentlich für jeden Spieler im Moment des Spiels, die Welt abspielt. Hier lag für mich jenes persönliche Moment, das in einer theoretischen oder praktischen Auseinandersetzung mit Film oft hinter eine Sachlichkeit oder eine Professionalität zurücktritt. Da ich selbst dieses Kind war und bin, konnte ich mich nicht nur, wie man das oft vom Hollywoodkino behauptet, in die Figur hineinversetzen, nein, ich konnte etwas über den größeren Zusammenhang spüren, ein kleiner Hauch eines Verstehens meiner Selbst, meiner Eltern und der Motivationen, die uns alle antreiben oder nicht antreiben. Ein Fußballspiel, vor allem auf niedrigerem Niveau oder im Nachwuchsbereich hat eine komische Eigenschaft, die mit der Perspektive verbunden ist. Steht man selbst auf dem Platz wirkt alles äußert schnell, intensiv und spektakulär. Schaut man aber zu, verliert sich dieses Gefühl. Man sieht die Schwächen, die Mängel und Unzulänglichkeiten. Heise schafft es in dieser Szene beides zugleich in Szene zu setzen. Damit trifft er die Seele eines Jugendfußballspiels.
Gleichzeitig ist es eine Szene, in der ganz wie in Herz Franks Ten Minutes Older tatsächlich das Älterwerden eines Kindes in Echtzeit vor uns abläuft. Bei Frank läuft dieser Prozess in einer Beobachterposition ab, während bei Heise der Junge selbst in Aktion tritt. Dadurch etabliert sich eine Orientierungslosigkeit, die zwar ein Ziel hat, aber nach dem Erreichen dieses Ziels wieder suchen muss. Es ist auch eine unheimlich poetische Szene, die in ihrer Schönheit an eine Fußballszene in Wong Kar-wais Happy Together erinnert und die Bewegungen und Blicke, die Stimmen und Gesichter ständig in einen größeren Zusammenhang setzt.
Doch Heise hat noch ein besonderes Geschenk für Paule und den Zuseher, denn Paule wird ein Tor schießen. Seine Jubelschreie und die seiner Kollegen erschallen zugleich wie der am Ende des Films in Worten verbildlichte Schrei, der vor dem Mund kommt und die unschuldige Erinnerung einer Kindheit. In dieser Freude liegt bereits das eingefrorene Zeitbild, der verbildlichte Zeitsprung, der wie ein unablässiges Herz im Keim dieser Welt pocht. Es gibt einen langen Moment des Glücksgefühls, Paule breitet die Arme aus, er schreit, seine Mitspieler schreien. Dann steht er wieder am Mittelkreis. Wie in einer anderen Welt. Er atmet schwer und schaut sich um. Vielleicht gab es einen spähenden Blick zum Spielfeldrand. Und weiter geht’s.