Die ersten Gehversuche des Kinos würde ich als „acquired taste“ einordnen. Als ich zum ersten Mal Filme der Gebrüder Lumière und ihrer Operateure sah, maß ich ihnen eher historische als künstlerische Bedeutung bei. Die kurzen, ausschnitthaften Ansichten von öffentlichen Plätzen, Gebäuden und Sehenswürdigkeiten erscheinen recht willkürlich, außer dem einen oder anderen Blick eines Passanten in die Kamera fehlt das Spektakel. Dem Auge fehlt der rote Faden, dem es folgen kann, wie es das gewohnt ist.
Ein „acquired taste“
Kurz: Lange Zeit fand ich es eher mühsam und etwas langweilig mir eine halbe Stunde am Stück diese Filme anzusehen (und ich vermute, es ging nicht nur mir so). Es war hier in Bologna, wo ich in den letzten Jahren eine neue Wertschätzung für die vues Lumière entwickeln konnte. Das hat vielerlei Gründe: Zunächst bekommt man hier eine breite Auswahl an unterschiedlichem Material vorgesetzt, das über die paar dutzend anerkannten, und immer wieder gezeigten Lumière-Klassiker der ersten Stunde (von L’arrivée d’un train über La sortie de l’usine bis zu Repas de bébé), hinausgeht. Zudem sind die Programme exzellent zusammengestellt, ob nach ausführenden Operateuren, geographischen Begebenheiten oder wiederkehrenden Motiven. Und außerdem, und das ist vielleicht der gewichtigste Grund, wird die Präsentation den Filmen gerecht: ein dunkler Kinosaal, eine große Leinwand, Live-Begleitung am Klavier, ein lebendiges Publikum.
Die Seherfahrung in dieser Konstellation ist eine andere, als bei einem pixeligen Youtube-Video zuhause oder in einem zu hellen und technisch schlecht ausgestatteten Hörsaal. Diese Filme können sich am besten entfalten, wenn sie sich entfalten können, wenn das Auge eingeladen wird über die Leinwand zu schweifen, sich in Details zu verlieren, die gemäldeartigen Ansichten zu betrachten wie ein Gemälde – der fehlende rote Faden, die ungewohnte Bildstruktur werden dann zum herausstechenden Merkmal. Ich erkennen meinen Blick wieder, mit dem ich Lumière-Filme sehe, er ist verwandt mit der Art, wie ich Loznitsa sehe, wie ich Akerman sehe, wie ich Tsai Ming-liang sehe, man könnte diese Liste weiter fortsetzen.
Kino des Vermessens
Die vues Lumière laden zum Vermessen des Bildraums ein. Das unterscheidet sie vom Kino des Eintauchens, des Akzentuierens, des Vorbetens. Die Ansichten – und nicht nur jene, die mit der Exotik ferner Plätze kokettieren – faszinieren zunächst als Seh- und dann als Zeitkapseln. Es ist, denke ich, nötig hinzuweisen, dass sich diese Filme nicht in ihrer Funktion als historische Aufzeichnungen erschöpfen. Selbstverständlich hat die Faszination mit den Filmen auch damit zu tun, dass sie einen Blick auf die Vergangenheit freigeben, die Möglichkeit bieten mit den Augen eines Menschen von vor einhundertzwanzig Jahren zu sehen, den Vergleich zwischen Damals und Heute nahelegen. Zu gleichen Teilen sind sie aber Beispiele für eine filmgeschichtlich vernachlässigte Form des Sehens, und für das Öffnen des Bilds für den Zufall, wenn Passanten die Kamera blockieren oder wenn Pferde scheuen (ich habe bereits letztes Jahr kurz darüber geschrieben, wie die Unreinheiten diese Filme bereichern).
Stummfilme sind selbst in den meisten Programmkinos und Cinematheken nur selten zu sehen, auch ihre Restaurierung hat keinen hohen Stellenwert. Was historischen Wert hat wird gerne (wie auch Wochenschauen) als Materialsammlung veröffentlicht, auf DVD oder gar in einer Online-Mediathek. Die Vermittlung dieser Filme wird aus dem Kinosaal ausgelagert auf die eigenen vier Wände des Publikums. Obwohl gerade diese Filme von einer lebendigen Auseinandersetzung profitieren. Hier in Bologna sprach Aboubakar Sanogo über die Ägypten-Filme des produktivsten Lumière-Operateurs Alexandre Promio.
Für mehr Lumière in den Kinos!
Sanogos Kommentare waren augenöffnend. Da ging es weniger um die Entstehungsgeschichte der Filme oder um ihre genaue Verortung und Verzeitlichung, sondern um allgemeine Fragen des Filmischen. Er problematisierte die Besonderheit der Seherfahrung, den dokumentarischen Gehalt dieser Bilder und wie sie sich von anderen unterscheiden – von anderen Bildern aus der gleichen Zeit, die an anderen Orten aufgenommen wurden, und von nachfolgenden Bildern, die andere Politisierungen der Orte und Menschen zum Ziel haben (die Filme der Lumières waren Produkte des Kolonialismus).
Es scheint, kaum eine Filminstitution fühlt sich heute mehr verpflichtet diese Filme zu zeigen, die wunderbar katalogisiert, in passablem Zustand und recht gut verfügbar sind. Das ist ein Versäumnis, denn nicht nur wer nach Bologna reist, sollte Gelegenheit dazu bekommen sich diesen „acquired taste“ anzueignen.