Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Il Cinema Ritrovato 2017: Until They Get Me von Frank Borzage

Unsett­led Moments of Har­ried Ner­ves: Die Fra­gen der akti­ven Hand­lung und gen­re­mä­ßi­gen Action in Frank Bor­za­ges frü­hen Wes­tern Until They Get Me, der im Rah­men der „Time-Machine“-Sektion mit Fil­men aus dem Jahr 1917 gezeigt wur­de, erle­digt sich mit dem Beginn des Films: Ein Titel ver­or­tet den Zuse­her in Zeit und Raum und teilt mit, dass ein Mann drin­gend ein Pferd suche. Mit einer Cache-Blen­de ein­ge­führt, rei­tet die­ser Mann durchs Bild: ACTION, möch­te man mei­nen, doch Bor­za­ge ist Bor­za­ge und war auch schon in jun­gen Jah­ren Bor­za­ge. Die nächs­te Ein­stel­lung ist eine Tota­le. Sie zeigt eini­ge Gestal­ten unter einem majes­tä­ti­schen Baum lun­gern. Der Baum weht im Wind, es ist als wür­de der Fil­me­ma­cher dar­an erin­nern, dass es Bäu­me gibt im Wes­ten und Natur und spä­ter auch Frau­en und Roman­zen und Begeh­ren. Es ist bezeich­nend, dass der Baum in der Sequenz um den ein­zi­gen töd­li­chen Pis­to­len­schuss des Films stän­dig ins Bild ragt. Die Zeit hält sich an, der Film sagt uns, dass wir schau­en sol­len, nicht erblin­den. Immer wie­der bleibt Bor­za­ge eini­ge Frames län­ger auf Bil­dern, die bereits von Figu­ren ver­las­sen wur­den bezie­hungs­wei­se bevor die­se ein­tre­ten. Das gilt beson­ders für Bäu­me, aber auch für das Feu­er eines Kamins, die Spie­ge­lung eines Pferds im Was­ser oder das Gras einer Wiese.

Drei Schick­sa­le ver­knüpft der Film mühe­los und man könn­te sagen, dass sich drei Figu­ren von Ste­reo­ty­pen in kom­ple­xe Figu­ren ver­wan­deln im Lauf des Films. Mehr noch wer­den aus Figu­ren Men­schen. Es geht um Kir­by, einen Mann, der auf dem Weg zu sei­ner gebä­ren­den und ster­ben­den Frau einen Mann tötet, es geht um sei­ne Flucht und den kana­di­schen Poli­zis­ten Sel­wyn, der ihn ver­haf­tet, dann ver­folgt, aber auch ver­steht (man ach­te auf eine Nah­auf­nah­me des Poli­zis­ten, als er Kir­by fest­nimmt und des­sen Baby sieht) und um die jun­ge Mar­gy, die als Die­ne­rin auf einer Farm arbei­tet und die­sem Schick­sal ent­kom­men will, schließ­lich mit Sel­vyn im Ford lebt. Mar­gy wird von der fan­tas­ti­schen Pau­li­ne Stark gespielt, die öfter mit Bor­za­ge zusam­men­ar­bei­te­te und unter ande­rem auch für D.W. Grif­fith und John Ford vor der Kame­ra stand. Sie hat – wie auch alle Män­ner im Film – etwas – und man zögert, es zu schrei­ben – was man ein Bor­za­ge-Gesicht nen­nen kann. Es ist als wür­den Dar­stel­ler in sei­nen Fil­men in den Augen und im Gesicht häu­fig eine Sanft­heit haben, die direkt aus dem Her­zen kommt. Pas­send dazu fin­det er häu­fig spe­zi­fi­sche Ges­ten (das gilt für sei­ne Ton­fil­me genau wie für sei­ne Stumm­fil­me), die etwas unver­gleich­ba­res in sei­ne Figu­ren legen. In Until They Get Me ist das ein trot­zi­ger Wisch mit der Hand zwi­schen Nase und Mund, den Mar­gy dem Sohn ihrer Arbeit­ge­ber­fa­mi­lie zuwirft.

Die Figu­ren han­deln nicht ein­fach, sie sind zuerst. Wenn Kir­by sein Pferd sucht und mit einem Mann ver­han­delt, dann ist er ver­zwei­felt und ner­vös und das prägt sei­ne Hand­lung. Die Sou­ve­rä­ni­tät von Wes­tern­hel­den geht die­sem Film völ­lig ab. Als Kir­by auf sein Baby trifft, steht er ver­ängs­tigt, zärt­lich in einer Tür. Er ist erschöpft von sei­nem Ritt, aber über­wäl­tigt als ein Lächeln über sein Gesicht huscht. Bor­za­ge gibt die­sen Augen­bli­cken der Lie­be mehr Zeit als den Augen­bli­cken der Gewalt. Sein Kon­flikt ent­steht aus der Gege­ben­heit, dass die Gewalt und Angst immer wie­der die Lie­be durch­kreuzt. Aus einem Moment der Wär­me, wie jenem der Begeg­nung zwi­schen Kir­by und sei­nem Kind, ent­steht eine immense Ver­zweif­lung, weil er kurz dar­auf erfährt, dass sei­ne Frau die Geburt nicht über­lebt hat. Bor­za­ge macht ein Kino der ver­zwei­fel­ten Mensch­lich­keit im Schat­ten und im Licht einer mensch­li­chen Ver­zweif­lung. Das heißt nicht, dass sei­ne Fil­me und auch Until They Get Me nicht eini­ges an trot­zi­gem Humor auf­wei­sen würden.

Der Mör­der auf der Flucht han­delt aus Lie­be, der kana­di­sche Poli­zist ist irgend­wann von sei­nen Emo­tio­nen über­wäl­tigt und die jun­ge Frau ist ähn­lich wie John Fords Seven Women oder noch mehr Bar­ba­ra Lodens The Fron­tier Expe­ri­ence eine Erin­ne­rung an die Exis­tenz eines beson­ders in die­sem Gen­re bis­wei­len völ­lig über­gan­ge­nen Geschlechts. Nicht nur als erstaun­lich moder­ne Geschich­te einer Eman­zi­pa­ti­on, son­dern allein die Tat­sa­che, dass auch die Män­ner im Film Fami­li­en haben, um die sie sich küm­mern wol­len, ist Until They Get Me bezüg­lich sei­ner reprä­sen­ta­ti­ven Arbeits­wei­se bemer­kens­wert. Noch ein Wort zur Dra­ma­tur­gie, die nach den anstren­gen­den Zei­ten ewi­ger Epi­so­den­dra­men des letz­ten Jahr­zehnts etwas erschöpft hät­te sein kön­nen. Aber Bor­za­ges Geheim­nis ist Rhyth­mus. Man hat das Gefühl, dass sich der Film eigent­lich um die Geschich­te von Kir­by ent­zün­det. Mar­gy und der Poli­zist Sel­wyn wer­den ähn­lich der Flash-For­wards von Alain Res­nais (etwa in La Guer­re est finie) mir kur­zen, schein­bar unzu­ge­hö­ri­gen Sze­nen ein­ge­führt um via Par­al­lel­mon­ta­ge eine Eng­füh­rung mit der bis dato domi­nan­ten Hand­lung zu errei­chen. Es ist erstaun­lich wie flüs­sig das gelingt, ein wenig erin­nert ins­be­son­de­re die Ein­füh­rung von Mar­gy gar an Vir­gi­nia Woolf und ihre dra­ma­tur­gi­schen Sprün­ge, die erst rück­wir­kend im gro­ßen Bild gefun­den wer­den kön­nen. Da der Film für die Tri­ang­le Film Coöpe­ra­ti­on ent­stand, jene Fir­ma, die auch hin­ter Into­le­rance von Grif­fith steckt, sei kurz bemerkt, dass Bor­za­ge die­se Ver­knüp­fun­gen nie­mals an gro­ße phi­lo­so­phi­sche Ideen knüpft, son­dern ledig­lich an Rela­tio­nen zwi­schen Zeit, Ort und vor allem Men­schen. Am Ende steht eine mensch­li­che Ges­te von Sel­wyn, der nach Jah­ren Kir­by gefan­gen hat. Es ist eine Ges­te, die viel­leicht nichts wert ist, viel­leicht alles. So oder so fügt sie alles zusam­men und löst alles auf.

„And so I ran away. But every year, until they get me, I’m going back on the seventh of Sep­tem­ber to see my litt­le kid.“