Nach fünf spannenden Tagen in Hamburg, endet das Filmfest mit einer jungen koreanischen Frau, die ein Filmscreening verlässt und sich auf ihren Weg durch die erbarmungslose Kälte zurück nach Hause macht. Am Vortag hatte sie Bekanntschaft mit dem Regisseur des Films geschlossen. Er ist nun wieder abgereist, sie bleibt zurück. Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo war hier in Hamburg auch der letzte Film den Patrick gesehen hatte, und es scheint fast so als könnte das kein Zufall sein (Patricks Besprechung hier). Auch ich verlasse nach diesem Screening das Kino und mache mich durch die ungewohnte, herbstliche Kälte Hamburgs auf nach Hause. Der Tag hat wie von Geisterhand auf so ein Ende hingearbeitet. Zuvor hatte ich Raúl Perrones Samuray-s gesehen, eine Erfahrung, die ich nur mit den Filmen Stan Brakhages und Kenneth Angers vergleichen kann – weniger wegen einer formalen oder motivischen Nähe, sondern wegen ihrem Effekt auf mich. Samuray-s ist ein kinematisches Traumwandeln, eine hypnotische Erfahrung aus Bild- und Toneindrücken, die sich immerzu verdichtet und wieder ausdehnt: eine filmische Lavalampe, ich schäme mich für den Vergleich. Ich war heilfroh nicht im Anschluss gleich einen weiteren Film sehen zu müssen. In der eintretenden Dunkelheit, bin ich durch St. Pauli gewandert, habe nach Luft geschnappt, versucht wieder aufzuwachen. Hong lullt einen anders ein. Was er macht, ist fast ebenso wenig zu fassen, wie Samuray-s. Die rotzigen Schwenks und Zooms, die Klarheit seiner Bilder, die unfassbar detailreiche Ausstattung der Räume, in denen er seine Schauspieler aufeinanderprallen lässt. Perrone und Hong scheinen in ihren Filmen an völlig gegensätzlichen Dingen interessiert zu sein, doch im Kern spürt man beiden eine große Liebe zum Kino, eine Faszination für die (Film-) Geschichte, aber eine totale Hingabe an die Gegenwart, die bei Hong in einer detailreich konstruierten, klinisch-lebendigen Wirklichkeit mündet, und bei Perrone in einer verzückend abstrakten Scheinwelt aus Schatten und Schemen, die durch ihre immersive Qualität zur Wirklichkeit wird.
Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo
Der letzte Tag, ein Tag, an dem nichts zusammenpasste, und irgendwie doch alles. Ein Schweben in eisiger Kälte, unterbrochen durch die Geborgenheit des Mutterleibs Kino (selbst wenn dieser Mutterleib von außen, besprayt und heruntergekommen aussieht wie das B-Movie Kino). Währenddessen kämpfe ich mit der Technik. Auch das gehört irgendwie zu einem Festival dazu. Läuft man den ganzen Tag mit Laptop herum und versucht in den Pausen zu schreiben, oder verlegt man das auf die Morgen- und Abendstunden? Was tut man, wenn der Laptop bockt, und auf einmal die Umschalttasten nur mehr sporadisch funktionieren? schreibt man dann einfach klein weiter, ohne rücksicht auf verluste, oder müht man sich mit irgendwelchen behelfen ab, die den schreibfluss unterbrechen? Aufgrund meiner neurotischen Veranlagung gelingt es mir nicht über orthographische Mängel hinwegzusehen und ich wähle die letztere Alternative. Das Leben geht weiter, mit und ohne Großschreibung, auch nach dem Festival, auch nach Hong.
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Das konstante Gefühl eines Missverstehens, eines Missverständnisses beginnt im Fall von Hong Sang-soos phänomenalen Locarno-Gewinner Right Now, Wrong Then bereits im Titel, der zu Beginn nicht der gleiche ist. Der in zwei Teile gegliederte Film beginnt mit Right Then, Wrong Now und einer Melodie in den Wolken, die in aller Sanftheit, Schlichtheit und Unschuld dafür sorgt, dass man missversteht, was passieren wird.
Man findet sich sehr schnell im Hong-Universum: Der junge Filmemacher ist ein Mann, ein Mann, der sich selbst und Frauen mag, der sich selbst nicht mag, ein Mann, der feststellt, dass der Kontakt mit Frauen kein leichter ist; die junge Frau ist eine Kunststudentin, etwas verloren, treibend, sich findend, sie will sich mögen, tut es kaum. Man geht zusammen trinken, man geht zusammen essen, man redet über sich und über dich und über Kunst, man trinkt mehr, man ist betrunken, es gibt peinliche und zärtliche Momente, man geht spazieren, man lacht, man lügt, man weint, man wird müde, es ist kalt, Schnee fällt; man verpasst sich, man wartet auf eine Reaktion, man schaut, man begehrt, man macht Fehler, man möchte im Boden versinken und doch ist alles voller Wärme. Im Kern sucht man sich vielleicht und versteht sich nicht, es sind Missverständnisse der Selbstwahrnehmung. In diesem ersten Teil seines Films sehen wir den verzweifelten Versuch des Filmemachers, die Kunststudentin zu verführen, ein Versuch, der auf Lügen basiert, die letztlich in der gleichen Einsamkeit scheitern, in der sie begonnen haben. Dazu die Kälte im Süden Koreas und der Schnee, der Hongs Welten mit einer wiederkehrenden Schutzhülle umgarnt.
Aber dann schneidet Hong in einer dieser herausragenden Bilder, die der Film selten und dadurch effektiv in seine Grammatik der nackten Essenz einstreut, auf eine Buddha-Statue und das Spiel beginnt von vorne. Es ist nicht so als wäre das Prinzip der Wiederholung etwas Neues für Hong, man denke an die Begegnungen mit dem unvergesslichen Life Guard in In another country oder die Avancen gegenüber der Kellnerin in Woman is the Future of Man. Aber derart klar hat Hong noch nie eine Narration nach diesem Prinzip aufgebaut. Die Geschichte beginnt von vorne, aber im Gegensatz zu einem Film wie Groundhog Day geschieht die Repetition nicht im Bewusstsein der Figuren. Vielmehr könnte man von einem Déjà-vu sprechen, also einer eher unbewussten Wahrnehmung dieser Wiederkehr (Hong selbst hat den Begriff in diesem Interview abgesegnet). Letztlich aber beginnt ein neuer Film (Titel: Right Now, Wrong Then), eine neue Chance. Der Filmemacher ist immer noch ein Mann, doch statt dem Prinzip der Lüge folgt er nun jenem der absoluten Ehrlichkeit, um diese Frau nicht mehr lediglich zu verführen, sondern möglichst zu heiraten. Es sind die gleichen Settings, zum Teil die gleichen Dialoge, aber doch ist alles anders. Gerade durch die Wiederholung legt Hong den Fokus auf die Differenzen. Manche Szenen werden aus anderen Einstellungen gefilmt, der Voice Over verschwindet,verschiedene Sätze werden leicht verändert gesagt oder nur mit einem anderen Ton, dann gibt es völlig neue Situationen (man darf nicht glauben, dass Hong sich hier sklavisch an ein Konzept hält) und ein beständiges Spiel zwischen der Erwartung dessen, was da kommen wird und der unendlichen Verzögerung einer Enttäuschung dieser Ewartungen. Schließlich ist Hong der genuine Filmemacher der Enttäuschung. Das kann sich sowohl in einem absurden oder bitteren Humor ausdrücken, als auch im plötzlichen Schmerz einer Erkenntnis. Dabei geht es viel um Missverständnisse, die dadurch entstehen, dass man nicht ausdrücken kann, was man möchte.
Right Now, Wrong Then auch ein Film über unsere Wahrnehmung im Kino. Man kann förmlich an sich selbst studieren, was eine andere Einstellung, ein anderer Dialog mit einer Szene macht. So verschwindet das Lachen außer in einer dieser unfassbaren Szenen des Betrunkenseins samt Striptease aus dem zweiten Teil. Szenen, in denen man zu Beginn lachen oder schmunzeln musste, kommen einem nun sehr ernst vor. Man fragt sich, ob das nur an der Wiederholung liegt. Im zweiten Teil ist es der Herzschmerz, der dominiert, ohne dass Hong auch nur eine Sekunde von seiner Leichtigkeit verlieren würde. Durch die Doppelung beginnt erst die Konzentration des Blicks. Es ist eine Beunruhigung, in der jede Nuance mit unserer Antizipation und Erinnerung gleichermaßen spielt. Mal interpretiert man seine eigene Antizipation als Erinnerung und mal die Erinnerung als Antizipation. Im Loch, das sich zwischen diesen Missverständnissen öffnet, entsteht ein wunderbares Kino der Gesten, Fettnäpfchen, Sehnsüchte und Einsamkeit. Der Film erzählt auch von einer verzweifelten Suche nach einer männlichen Identität. Er macht dies sowohl ironisch als auch emotional.
Dabei ist Hong ein derart guter Beobachter menschlicher Verhaltensweisen, dass jeder Blick seiner Figuren, jede Geste und jede Bewegung einen Subtext enthält, der völlig greifbar vor dem Zuseher liegt, ohne jemals ausgesprochen zu werden. Es ist keine Frage, dass für dieses Kino das Schauspiel von äußerster Wichtigkeit ist. Jeong Jaeyeong gibt den Filmemacher derart überzeugend, dass wir hier von einer der besten schauspielerischen Darbietungen der letzten Jahre reden können. Bei ihm kann ein Lächeln alles bedeuten und all das wird für die Kamera sichtbar, nicht aber für ihn selbst oder seine Mitmenschen. Bei Hong besteht Reduktion nicht nur in wenigen und langen Einstellungen, sondern letztlich auch in einer Präzision gegenüber der Zeit, einem Timing, das Missverständnisse erst ermöglicht. Jeong Jaeyeong legt dort hinein diese unersetzliche Fähigkeit, seinen Körper und seine Stimme zu trennen. Was er sagt, ist selten, das was er macht und was er macht, ist selten das, was er sagt. Daher sehen wir dann seine nackten Emotionen.
In mancher Hinsicht scheint Right Now, Wrong Then ein religiöser Film zu sein. Das Treffen des Pärchens in einem Tempel und die Bedeutung des Buddhas sowie das überstrahlende Thema der Wiederkehr, der zweiten Chance im Hinblick auf Verhaltensweisen und Auffassungen von zwischenmenschlichen Beziehungen deuten darauf hin. Gleichermaßen ist der Film aber auch ein Märchen, denn Hong macht Filme, die eine Traumwelt versetzen, eine Welt, in der man gerne leben würde bis man feststellt, dass man bereits in ihr lebt. Es gibt eine Fluktuation zwischen seinem Blick und der Realität, die einen mit anderen Augen sehen lässt. Man stellt fest, es sind seine Augen, in denen man leben will. So ist es konsequent, dass der Film mit dem Verlassen des Kinos endet und man im Schnee von Hong in diese zärtliche Einsamkeit fällt, die an einem haften bleibt, wie der Geschmack eines Madeleines.
„Hamburg ist nicht nur eine Stadt, Hamburg ist eine Einstellung.“ – Some random guy
Der Deutsche ist als pünktlicher Mensch bekannt (man möchte sagen „verschrien“). Das ist prinzipiell eine durchaus löbliche Eigenschaft, doch treibt sie hier recht seltsame Blüten. Zwar schätze ich es, wenn nicht Verspätungen meine sorgfältig getakteten Pläne über den Haufen werfe, doch einen Film gar mehr als fünf Minuten vor angekündigtem Beginn anlaufen zu lassen, schießt dann doch etwas über das Ziel hinaus. So waren gerade die ersten Sekunden aus Saul fia zu sehen, als ich pünktlich um 16:55 zur 17-Uhr-Vorstellung in den abgedunkelten Kinosaal trat. Nicht nur, dass das für mich persönlich sehr ärgerlich war, die Anzahl der Zuspätkommenden (die es immer gibt) erhöhte sich dadurch beträchtlich (genau genommen, kamen sie, wie ich auch, gar nicht zu spät) und die ersten fünfzehn Minuten im Saal waren dementsprechend unruhig.
Saul fia von László Nemes
Saul fia wurde seit seinem Erscheinen, wahrscheinlich zu Recht, von einigen Seiten für seine marktschreierische Ästhetik und seine Behandlung der heiklen Holocaust-Thematik kritisiert. Saul fia ist auf keinen Fall ein Meisterwerk, Filmemacher wie Alain Resnais oder Claude Lanzmann haben sich des Themas auf eine Art und Weise angenommen, die László Nemes nicht erreicht. Sollte man angesichts dieser gewichtigen Vorarbeit damit aufhören, den Holocaust filmisch zu verarbeiten? An manchen Stellen wirkt der Film ohne Zweifel wie „ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts“, wie Patrick es formuliert hat. Was Nemes unternimmt ist gewagt und seine Motive sind alles andere als klar, doch ungeachtet dessen ist Saul fia eine spannende Gratwanderung zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, die nicht immer gelingt, aber es trotz aller Zweifel vermag, drängende Fragen aufzuwerfen. Der Film ist ein Schmelztiegel aus moralischen Fragen über Religion, Familie, Gewalt und Krieg; alle diese Fragen werden an der Figur des Saul Ausländer durchexerziert, der als Platzhalter und Identifikationsobjekt fungiert. In der restlichen Inszenierung mag sich Nemes um Realismus bemühen, Saul Ausländer ist der aufgesetzte Katalysator, den man entweder akzeptiert, oder auch nicht. Er erlaubt es Nemes, sich relativ frei durch das KZ-Setting zu bewegen und dennoch einen Fokuspunkt zu behalten. Die Leichenberge zeigt er nur verschwommen, und vertraut dabei auf ein kulturelles Gedächtnis, das mit diesen Bildern gesättigt ist, POVs setzt er dann ein, wenn Saul aus seiner Rolle als Platzhalter fällt und als Mensch auftritt: wenn er seinen toten Sohn entdeckt, wenn er den jungen im Wald anlächelt. Klar hat das auch mit einer gesteigerten emotionalen Bezugnahme zu tun, aber Saul fia geht weit darüber hinaus, den Holocaust nur emotional greifbar zu machen (ergriffen wird man davon relativ schnell – das schaffte sogar Roberto Benigni), sondern unternimmt den Versuch ihn intellektuell fassbar zu machen. Das schafft er zugegebenermaßen nur stellenweise, aber er versucht es auf eine mutige und andere Art und Weise, weshalb ich dem Film im Gegensatz zu Patrick einiges abgewinnen konnte.
The Song of the Sea von Tomm Moore
Die Verteidigung von Saul fia liegt mir weniger am Herzen, als über den wunderbaren Song of the Sea zu schreiben. Der Film stammt aus der Feder des Iren Tomm Moore, der, wie schon in seinem letzten Film The Secret of Kells, seine Qualitäten als Geschichtenerzähler beweist. Wie die meisten großen Animationsfilmer, vermag es Moore sich gleichzeitig an ein kindliches und erwachsenes Publikum zu richten. Souverän bereitet er die komplexe keltische Sagenwelt auf. Das kommt nicht nur den Kindern zugute, sondern auch jenen Zusehern, die nicht mit dieser Kultur vertraut sind. Moore kommt dabei zugute, dass sich phantastische und tragische Elemente in diesen Mythen von vornherein die Waage halten. Diese Elemente strukturiert Moore um die Figur des Ben. Er ist der Sohn des Leuchtturmwärters Conor und seit dem Verschwinden seiner Mutter vor sechs Jahren etwas verloren. Seinen Vater hat dieser Verlust denkbar schwer getroffen und er verhält sich seither abwesend und zeigt mehr Zuneigung für seine Tochter Saiorse, die der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Als die beiden Geschwister just zu Halloween zu ihrer Großmutter ziehen und Ben seinen geliebten Hund Cú zurücklassen muss, zerfällt seine heile, wenn auch brüchige Welt endgültig zu einem Scherbenhaufen. Er will nach Hause zurückkehren, sieht sich aber schon bald mit weit größeren Problemen konfrontiert, denn es stellt sich heraus, dass seine Schwester (wie auch seine Mutter), eine Selkie ist, der es obliegt eine böse Eulenhexe zu stoppen, die magischen Kreaturen ihre Gefühle entzieht und sie zu Stein verwandelt. Ben ist durch die Geschichten seiner Mutter gut mit den Protagonisten der Sagenwelt vertraut, spätestens zu diesem Zeitpunkt, wird Saiorse zum eigentlichen Zentrum der Handlung. Der Film nimmt hier eine düstere Wendung, die anfängliche kindliche Unzufriedenheit mit der Großmutter und die Angst vor dem Verlassen des Zuhauses wird durch weit größere Gefahren relativiert. Die schroffe Szenerie der irischen Küste freilich, sorgte schon von Beginn an für eine bedrohliche Atmosphäre. Viel obliegt in einem Film dieser Art dem Zeichenstil. Moore löst dabei die wilde und ungebändigte Landschaft in vorwiegend runden, weichen Formen auf. Der Kontrast zwischen Bedrohung und Geborgenheit, sowie dem Fremden und der Familie dient als Leitmotiv, dass sich inhaltlich wie formal durch den Film zieht. The Song of the Sea ist zugleich bedrückender Gruselfilm, wie herzerwärmendes Familiendrama. Ein Film, der nicht auf Schock- und Spektakelwert abzielt, um Kinder (und Erwachsene) zu unterhalten, sondern eine Gefühlswelt schafft, mit der sie sich identifizieren können und die sie auf positive Art und Weise mit unangenehmen Fragen konfrontiert.
Es gibt hier ein Kino, das heißt Passage – ich muss an Walter Benjamin denken.
Das kaum von Wolken getrübte spätsommerliche Wetter in Hamburg weicht unangenehmen, grauen Herbstwetter. Womöglich liegt das an meiner Ankunft, vielleicht weint der Himmel aber auch, weil Patrick im Begriff ist abzureisen. Im Land der Fischköpfe feiern wir bei einer wohlschmeckenden Folienkartoffel (Kumpir) Abschied. Patrick kehrt zurück nach Wien, mich zieht es nach Berlin (redaktionelle Expansion also). Bevor es soweit ist, führe ich aber das Filmfest-Tagebuch fort. Ein Kollektivtagebuch – würde das Walter Benjamin gefallen?
Dheepan von Jacques Audiard
Eine skurrile Querverbindung erlaubt es mir, es Patrick gleichzutun und mit meinem Tagebucheintrag gleich zwei Tage zu erfassen. Die Verbindungsglieder, um die es sich dabei handelt, sind klassische Festivalerfahrungen; Zufallsbegegnungen, die man macht, wenn man aus einer unüberschaubaren Fülle an Filmen, eine relativ willkürliche Auswahl trifft. Zwei Tage hintereinander war es jeweils ein bestimmter Schauspieler, der eine Rahmung anbot. Am ersten Tag war es Marc Zinga, der Hauptdarsteller von Qu’Allah bénisse la France. Den Film habe ich eigentlich nur gesehen, da ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, und keine Lust hatte die Location zu wechseln. Zwei Filme standen zur Auswahl, und ich entschied mich gegen Songs My Brother Taught Me, ohne das wirklich begründen zu können, zumal die Prämissen alles andere als optimal waren: Qu’Allah bénisse la France ist ein Biopic über den französischen Rapper Abd al Malik, der damit sein Filmregiedebüt ablegte. Doch der Film präsentierte sich ganz anders als ich befürchtet hatte. Qu’Allah bénisse la France ist eine unaufgeregte Charakter- und Milieustudie in stimmigem Schwarz-Weiß. Die Bilder sind fabelhaft, das Schwarz-Weiß wirkt nie wie ein billiges Gimmick, sondern als wäre schon beim Dreh auf eine geeignete Farbpalette geachtet worden. So wirkt der Film visuell sehr organisch und stimmig. Darüber hinaus vermeidet Abd al Malik Schemata, die man aus anderen (Musiker-) Biopics kennt; große Höhenflüge und große Tiefschläge bleiben glaubhaft und werden relativ nüchtern aufgearbeitet. Vielleicht liegt das daran, dass Abd al Maliks Leben dann doch nicht so aufregend ist, wie das der grimmigen US-Gangsterrapper, oder er es ganz einfach nicht nötig hat aufzubauschen, was in den Vororten Straßburgs passiert. Die Lebenswelt im banlieu Neuhof scheint nicht so weit entfernt zu sein, von der eigenen Lebenserfahrung, wie die groß inszenierten Bandenkriege in vergleichbaren amerikanischen Produktionen. Marc Zinga brilliert in Qu’Allah bénisse la France in der Rolle des Abd al Malik und trägt seines dazu bei, dass der Film mich persönlich sehr positiv überraschte. Später am selben Tag sollte mir Zinga noch einmal unterkommen. In einer kleinen Nebenrolle im diesjährigen Cannes-Gewinner Dheepan, spielt er Youssouf, den Kontaktmann des Protagonisten, der diesem seinen neuen Job als Hausmeister erklärt. Auch in Dheepan sieht man das Leben in den französischen banlieus. Doch endet der Film in einer blutigen Abrechnung in Rambo-Manier und verliert dadurch jeden Funken an Glaubwürdigkeit, die er in der ersten Stunde so sorgfältig aufgebaut hat. Bis dahin zeigt der Film auf sehr eindringliche Art, mit welchen Problemen Einwanderer, in diesem Fall Kriegsflüchtlinge, konfrontiert sind. Leider verliert der Film im letzten Drittel seine Balance, die Ambivalenz von unbewältigtem Kriegstrauma, Hoffnung, Hoffnungslosigkeit und Schock wird in einer Ballerorgie in den Wind geschossen.
Qu’Allah bénisse la France! von Abd al Malik
Den nächsten Tag „prägte“ Ron Livingston of Office Space-Fame, der in den beinahe zwanzig Jahren seit seinem Durchbruch sein Äußeres kaum verändert hat (dennoch musste ich auf die Endcredits warten, um sein Gesicht einem Namen zuzuordnen). In James White spielt Livingston Ben, einen Freund des kürzlich verstorbenen Vaters des Protagonisten. Dieser Protagonist ist einer dieser hoffnungslosen Loser, die sich im amerikanischen Independentkino Sundance’scher Prägung im Moment großer Beliebtheit erfreuen. Sein Gesicht dürfte man dennoch nicht so schnell vergessen. Der Grund dafür ist eine zweifelhafte formale Entscheidung der Filmemacher, den Film quasi komplett mit Handkamera in Nah- und Halbnahaufnahmen zu drehen. Der wild herumhüpfende, schlechtrasierte Kopf von James White hat sich mir ins Gehirn gebrannt. Hier zeigt sich allerdings, dass es nicht immer ratsam ist, eine Sache konsequent durchzuziehen. Üblicherweise bin ich ein großer Verfechter von Kompromisslosigkeit, aber gerade angesichts der Thematik – der Vater ist soeben gestorben, die Mutter leidet an Krebs – wäre etwas Distanz angebracht gewesen, um Raum zur Kontemplation zu geben. James White gibt einem praktischen keine Gelegenheit das Gezeigte zu verarbeiten und lässt einen schließlich genauso ratlos zurück wie den Protagonisten. Das mag wie ein kluger inszenatorischer Schachzug klingen, führt aber leider ins Nirgendwo.
In The End of the Tour ist Livingston in einer noch kleineren Rolle zu sehen. Hier spielt er den Vorgesetzten von Jesse Eisenbergs David Lipsky, der ihm ein Interview mit David Foster Wallace (Jason Segel) bewilligt. Zwei Minuten Screentime reichen mir allerdings für diese Überleitung, denn The End of the Tour ist auf jeden Fall eine Erwähnung wert. Zwei ungemein starke wie brüchige (bei Wallace ist das kein Widerspruch) Figuren werden da gegeneinander ausgespielt und finden in Eisenberg und Segel zwei ideale Darsteller. Beeindruckend die Chemie zwischen den beiden, die Intensität, wenn der bullige Wallace bedrohlich den schmächtigen Lipsky überschattet; einnehmend, wenn die beiden sich in überhöht künstlichem Intellektuellensprech in ein Dialogstakkato steigern. Diese thespische Sprache ist der größte Vorzug von The End of the Tour, der wie James White ein Film über das Ende und unzählige Anfänge ist. Für mich ist das Ende noch fern. Das Filmfest ist noch nicht vorbei.
Ich schreibe diese Zeilen sehr früh am Morgen. Draußen ist es noch dunkel. Ich kann nur einige fallende Blätter beleuchtet von einer Laterne sehen. Der Grund für mein frühes Erwachen ist keine innere Beunruhigung, sondern ein ständiges Vibrieren meiner Decke. Es klingt als würde jemand mit einem Klavier auf einem Skateboard im Zimmer über mir Kunstsprünge machen. Am bittersten dabei ist, dass das billige Kronleuchterimitat an meiner Decke noch eine Minute nach der Vibration zittert und dabei ein blechernes Geräusch von sich gibt. Ich erinnere mich an das vergangene Jahr, als am letzten Tag plötzlich ein riesiger Feuchtigkeitsfleck an meiner Decke erschien und diese plötzlich aussah wie in einem Film von Tarkowski oder Tsai Ming-liang.
Der Grund für den Lärm könnte aber auch ein Kampf im Stockwerk über mir sein. Nach den drei Filmen, die ich mir am Vortag angesehen habe, würde mich das kaum überraschen. Es waren alles drei Filme über das Versagen eines Männlichkeitsbildes, die in gewaltvollen Schwanzvergleichen endeten. Los ging es mit dem superb beobachteten Un etaj mai jos von Radu Muntean. Dort geht es um einen Mann, der einen großen Verdacht hat, wer die junge Frau ein Stockwerk tiefer ermordet hat, aber der Polizei nichts sagt. Es beginnt ein Psychoduell zwischen ihm und dem jüngeren Mann, den er verdächtigt. Dabei gelingt es Muntean zusammen mit seinen Autoren Alexandru Baciu und Răzvan Rădulescu ein Gefühl für diesen Mann, gespielt von einem unfassbaren Teodor Corban zu entwickeln, dass in einer selten so gesehenen männlichen Unsicherheit beständig gegen sich selbst arbeitet. Vieles im Film wirkt wie die Light-Version eines Cristi Puiu Films, aber vieles dafür wirkt auch sehr richtig. Natürlich wird irgendwann gekämpft, etwas unbeholfen, aber extrem körperlich.
Deutlich extremer ging es in Schneider VS Bax von Alex van Warmerdam zur Sache. Es ist ein vogelwilder Film, der lange nicht so erfrischend unzugänglich ist wie van Warmerdams Borgman, aber mit dem selben tiefschwarzen Humor angereichert oder besser: durchschossen wird. Der Name des Films ist hier Programm. In abartigen Paralellmontagen (nicht die Montagen sind abartig, sondern was darin passiert) führt der Film den Schriftsteller und Auftragsmörder Bax in ein Duell mit dem Familienvater und Auftragsmörder Schneider. Bax wird von van Warmerdam selbst gespielt und nimmt ausufernd Drogen. „Ufer“ ist auch ein gutes Sprichwort, denn dieses Duell zwischen Männern, das eigentlich auch ein Duell zwischen Männern und Frauen ist, spielt durchgehend an einem Ufer. Im Seehaus von Bax (dieser Name!), im Schilf, im Sumpf. Ich glaube, wenn Schneider und Bax aufeinandergetroffen wären, dann hätte die Vibration an meiner Decke nicht ausgereicht.
Ufer ist auch ein gutes Stichwort für den nächsten Männerfilm: Chevalier von Athina Rachel Tsangari. Dort befindet sich eine Gruppe von Männern auf einem Boot und aus einer Langeweile heraus beginnt ein Spiel: Die Männer wollen sich gegenseitig beurteilen, wer von ihnen der Best in allem ist. Ja, hier haben wir einen leicht ironischen, aber nie überspitzten Blick auf den Mann an sich in all seinen Ausprägungen (mit Errektion und ohne und verschiedene Zwischenstadien). Aber am Ufer schwebt immer etwas Politisches mit, Athen am Horizont und es ist schon auffällig wie verspielt all diese Männer sind in Südeuropa. Dabei denke ich zum Beispiel an eine ganz ähnliche Episode in Arabian Nights von Miguel Gomes oder Yorgos Lanthimos, dessen The Lobster ich am folgenden Tag sehen durfte. Darin liegt natürlich ein gewisser Wahnsinn und eine gewisse Realität. Zum einen weil diese Spiele etwas über die Politik aussagen und zum anderen, weil sie meilenweit davon entfernt scheinen. Jedoch verliert sich Tsangari immer wieder in verschiedenen Szenen, die nicht nur das Ufer aus dem Blick verlieren sondern auch die Figuren selbst. Das Kämpfen wird dann trotz diverser Zwischenfälle zu einer Art Legende, in den Raum des Fiktionalen gelegt, denn was hier wirklich passiert, ist nichts. Habe ich mir das Vibrieren also nur eingebildet? Ich frage mich manchmal, ob ich auf Festivals andere Träume habe. Man schläft weniger, wird ständig mit Eindrücken bombardiert, immerzu in dunklen Räumen beschallt von Echos aus anderen Welten. Aber ich erinnere mich eigentlich kaum an meine Träume auf Festivals, nur an die Filme.
Vor einiger Zeit durfte ich einen Programmtext zu einer Hou Hsiao-Hsien Retrospektive schreiben. Das Lektorat hat mir dabei meinen letzten Satz gestrichen, mit der Begründung, dass dieser zu poetisch sei und man lieber Klarheit wolle. Wenn man sich die Filme von Hou ansieht und insbesondere The Assassin, der ihm dieses Jahr in Cannes den Preis für die Beste Regie einbrachte, dann kann man mir schlicht nicht erzählen, dass es menschlich ist, nicht in lyrische Formulierungen zu fallen. Die Erfahrungen, die man mit Hou macht, sind jenseits nüchterner Beschreibungen. Dennoch werde ich mich zusammenreißen.
Acht Jahre sind vergangen seit Hous letztem Langfilm, Le voyage du ballon rouge. „Vergangen“ ist auch ein gutes Stichwort für das Kino des Taiwanesen…
Es ist schwer, wenn man nicht schwärmen darf. Wie soll ich mich halten? Ich gebe nach zwei Zeilen auf.
Gegen Ende des Films stehen zwei Frauen auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Nebel dringt aus der Schlucht zum Himmel, man fühlt sich erinnert an das titelgebende und im Vergleich irgendwie billig wirkende Wolkenphänomen bei Hous Freund Olivier Assayas in dessen Clouds of Sils Maria. In seinen bisherigen Arbeiten konnte man durchaus davon sprechen, dass Hou das Vergehen von Zeit wie den Wind filmt, ein Wind, in dem sich Erinnerungen und die Gegenwart umschlingen zu einer bloßen Präsenz. In The Assassin nimmt Hou das wörtlich. Es ist – und ich verweise da gerne auf diesen Text von Serge Daney – der vielleicht dritte Film nach The Wind von Victor Sjöström und Trop tôt/Trop tard von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, der den Wind filmt. Wir sehen den Wind in den Blättern der Bäume, den Gewändern, den seidenbehangenden Räumen, in die Vorhänge wie von anmutiger Geisterhand zitternd geschoben werden, Seide, die vor Bildern weht, die unseren Blick selbst zum Wind macht und schließlich die Kamera, die Kamera des größten Kameramanns unserer Zeit, Mark Lee Ping Bin, die wieder hypnotisch und in einer derart scharfen Klarheit, dass man glaubt, zum ersten Mal zu sehen, zwischen den Figuren schwenkt, nicht wirklich auf der Suche, sondern bereits mittendrin. In 35mm und im alten Academy Ratio, das mehr Platz für den Wind außerhalb des Bildes lässt, filmt dieser auch die beiden Frauen auf dem Gipfel, der kein wirklicher Gipfel ist, sondern eine Zwischenebene. Muss man wissen, wer diese Frauen sind? Vielleicht später, zunächst muss man die bloße Erhabenheit und Dynamik dieses Bildes erfassen, das wie fast jede Einstellung des Films zu viel ist, zu viel für meine Augen. Die eine Frau steht schon von Beginn an dort, sie steht auf einem Felsen, es ist eine Unmöglichkeit, dass sie dort steht und wer die übermenschlichen Bewegungen des übersinnlichen wuxia-Genres hier und da vermisst, hat nicht hingesehen. Sie ist die Meisterin. Nennen wir es so. Ganz in weiß gehüllt, wie eine Erscheinung, thront sie über einem Abgrund, den wir nur durch die aufziehenden Wolken erahnen können, Wolken, die gelenkt scheinen. Hinter dem Felsen erscheint die Protagonistin, ein schweigender Schatten, der wie ein Licht in schwarz durch die Bilder schwebt und deren inneres Leben Hou in jedes einzelne Bild zu legen scheint: Die titelgebende Nie Yinniang gespielt von Hous Muse Qi Shu.
Wie habe ich das gemeint, mit dem inneren Leben und dessen Verhältnis zur Bildsprache Hous? Pier Paolo Pasolini, ein Mann, der Hou sehr beeinflusst hat, hat einmal einen Text geschrieben über die freie indirekte Rede im Film. Dabei geht es – sehr vereinfacht – um die Möglichkeiten eines Filmemachers, durch den Stil etwas über das Innenleben von Figuren auszudrücken. So hängt etwa die Wahl des Objektivs in Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni am nervösen Seelenleben der Protagonistin. Und wie zeigt sich das jetzt in The Assassin, ein Film, der meiner Meinung nach beständig von einem solchen inneren Konflikt erzählt? Nicht alleine in der Schönheit der Bilder, sondern auch in diesem harrenden Schwebezustand, diesem zögernden Warten und der Antizipation der Gewalt, die Hou viel mehr interessiert als die tatsächlichen Kampfszenen, die er fast im Stil eines Robert Bressons nur in ihrer Essenz zeigt. Nie Yinniang hängt ebenfalls in dieser Antizipation, sie ist zerrissen zwischen ihrer Aufgabe, ihrer Emotion und ihrem eigenen Urteilsvermögen. Der Film beginnt in drei Vignetten in den Farben schwarz und weiß (wie Godard einst über Bresson geschrieben hat) und erzählt vom Töten und Nicht-Töten-Können der Protagonistin. Zunächst wandelt sie tänzerisch in einem Wald mit nackten Bäumen, um einen Mann mit tödlicher Eleganz zur Strecke zu bringen. Der Martial Arts Aspekt ist hier eher eine Drohung, ein Versprechen, als ein ästhetisches Vergnügen. Wie seine Hauptfigur, so will auch der Film diese Kämpfe umgehen, sie minimalisieren… Nie Yinniang will auch nur das Nötige tun, sie ist wie der Wind, wie der Film. In der zweiten Vignette kann sie einen König nicht töten, weil dieser gerade mit seinem Kind spielt. Sie lässt ihn am Leben. Es ist als würde plötzlich die Schönheit der Welt zwischen ihr und der Gewalt stehen. Diese Dinge sind Hou offensichtlich wichtiger als wuxia Verweise, die in diesem China des 9. Jahrhunderts inspiriert von der chuangi Literatur eher einen Rahmen bilden. Hou geht es in diesem Genre um zwei Dinge: Die Moral und die Frage wie sich die Geschichte in eine Gegenwärtigkeit übersetzen lässt.
Nie Yinniang, das schwarze Licht (solche Formulierungen könnte man streichen, aber wer, der den Film kennt, würde nicht sagen, dass man die Protagonistin so beschreiben muss?), die sich oben auf dem Berg unter die Meisterin auf dem Felsen stellt, wird für ihr Versagen bestraft. Sie soll ihren Cousin Tian Ji’an töten, dem sie einst versprochen war. Von diesem Augenblick an folgen wir ihr und mit ihr dem Leben des Cousins mit seiner Familie und seinen politischen Entscheidungen, wir können uns nicht wirklich nähern, weil wir tödlich sind. Es ist eine derartige Konzentration in den Bildern, in denen das Beiläufige und Zwingende zu einer absoluten Notwendigkeit verschmelzen. Es ist eine Notwendigkeit, die jedes Bild mit Leben füllt und es dennoch über dasselbige hebt. Dabei entsteht das Bild einer Zeit vor unseren Augen. Zeit wird erfahrbar, weil wir den Wind spüren, weil wir die Töne hören (Hou drehte zwar in mandarin, aber angeblich in einer völlig befremdlichen Syntax, die selbst für jene, die diese Sprache beherrschen, nicht verständlich ist, aber genau darum geht es auch nicht, es geht darum diesen Rhythmus zu hören und in ihm zu verschwinden während man sich gleichzeitig einer unendlichen Distanz bewusst sein muss) und weil wir die Materialität der Orte, Kleider und Menschen fühlen. Hou hat wie in City of Sadness, The Puppetmaster oder Flowers of Shanghai eine Möglichkeit gefunden, dass die Re-Präsentation einer Zeit gleich einem Wind durch unsere Augen weht. Es ist zugleich Erinnerung, Präsenz und alles dazwischen. Es geht nicht um die Informationen der Geschichte, sondern um das Leben in und wegen der Geschichte. Immer wieder sehen wir das einfache Leben, Kinder, die spielen, ein Gespräch, Arbeit. In diesen Bildern treffen sich die Moral und die Vergegenwärtigung. Die Moral ist der Zweifel, ob man im Angesicht dieses Lebens töten kann und die Vergegenwärtigung ist die akkurate Beiläufigkeit einer Distanz, die wie ein schüchterner Beobachter nicht eingreifen will in diese Welt, sondern sie schlicht sehen und hören will.
Zum Sehen und Hören gibt es einiges zu sagen. Wir sind zurück am nebeligen Abgrund. Immer wieder tauchen diese Aufnahmen auf, in denen Hou Landschaften wie Körper zelebriert. Etwas lebt in ihnen und sie sind ein Spiegel der Zeit, des Innenlebens einer Geschichte und einer Figur, der Zeit und Geschichte dieser Figur. In ihnen liegt die ganze Präsenz dieser Vergänglichkeit, die ihr Ebenbild einzig in den melancholischen Augen der Figuren findet. Nein, es gibt nichts konkreteres in diesem Film, weil es konkreter gar nicht geht. Dabei wird The Assassin keineswegs von derselben Dekadenz heimngesucht wie Flowers of Shanghai. Vielmehr ist es eine Abkehr, ein Untertauchen in diesen massiven Bildern von Perfektion. Man kann sagen, dass Hou, der im Vergleich zum anderen großen Vertreter des Neuen Taiwanesischen Kinos, Edward Yang, immer als ein Filmemacher der Natur und Ländlichkeit galt, hier zum ersten Mal tatsächlich mit der Landschaft atmet statt sie im Stil seiner frühen Arbeiten, als pastoralen Hintergrund einer Erinnerung zu verwenden. In dieser Ländlichkeit erfährt The Assassin die Meisterschaft eines Filmemachers, der es geschafft hat eine eigene Sprache nicht nur zu finden, sondern zu meistern. Das ist aber auch gefährlich. Die Perfektion der Bildsprache ist derart hoch, dass dem Film trotz seiner fragmentarischen Ezählweise, in der wichtige Ereignisse zum Teil im Off geschehen oder nur ganz kurz an einem vorbeihuschen wie die Schleier im Wind, manchmal an Kantigkeit fehlt. Statt der jugendlichen Desorientierung, die sich auf die Bildsprache von Goodbye South Goodbye oder Millenium Mambo übertrug, gibt es hier eine überzeugte Zerbrechlichkeit. Alles ist perfekt. Wie könnte man das kritisieren? Man kann nicht. In dieser Hinsicht erinnert mich der Film an ¡Vivan las Antipodas! von Victor Kossakovsky. Ein Film, über den der Filmemacher sagte, dass es nicht (mehr) um Realismus ginge, sondern um etwas Größeres. Hou scheint hier auch an etwas Größerem interessiert zu sein als bisher.
Außer der Natur gibt es Räume, die verwinkelt sind mit Farben, die Fieber haben. Immer wieder filmt Mark Lee Ping Bin durch Seidentücher und erzielt hypnotische Effekte mit Kerzen vor seinen Linsen…es brennt in unseren Augen, der Schleier der Zeit, der Hauch der Unsicherheit. In einer der unfassbarsten Sequenzen, die ich je im Kino gesehen habe, unterhält sich der Cousin mit seiner Konkubine während die Kamera hinter den Vorhängen ganz zart bewegt lauert. Wir wissen lange nicht, ob es ein Point-of-View-Shot der Auftragsmörderin ist oder nicht. Es ist ein Spiel mit Blicken und der Distanz, die sich mal vor uns schiebt und dann wieder verschwindet. Hier liegt die Sehnsucht nach einem anderem Leben und der Horror der drohenden Gewalt derart greifbar vor uns, dass wir nicht anders können, als sie gemeinsam in ihrer Gleichzeitigkeit oder gar gelöst von Zeit oder gar mit der Zeit verwoben zu begreifen, obwohl wir das niemals könnten. Wir spüren diese Welt und die Unsicherheit einer Figur, die wir erst später als eine Silhouette, als fremden Eindringling in ihrem eigenen eigentlichen Leben erkennen. Sie erscheint wie der Nebel aus der Schlucht. Man blinzelt und sie ist da, man blinzelt und sie ist weg. Sie wäre wohl am liebsten ganz da oder ganz weg.
Der Ton ist das leise Flüstern aus der Schlucht, aus der dieser Nebel dringt. Jedes Geräusch ist klar und voller Kraft und Zerbrechlichkeit. Manche Sachen hören wir nicht, weil wir sie nur sehen können, andere Sachen sehen wir nicht, weil wir sie nur hören können. Es ist eine Abstraktion, die etwas entstehen lässt, was man vielleicht mit „Gefühl für die Umgebung“ umschreiben könnte. Für die Musik war wieder Lim Giong zuständig. Vor allem ein beständiges Trommeln ist beeindruckend. Zweimal hören wir es ganz klar und laut bevor ein Schnitt in einen Innenraum es in ein Trommeln aus der Distanz transformiert. Abstände werden uns bewusst, zeitlich und räumlich. Auf einer Zither spielt eine Frau in einer Mischung aus Aggresivität, hinbgabe und vollkommener Zärtlichkeit ein Lied. Dazu singt sie von einem Vogel, der nicht singen konnte bis er seine eigene Reflektion sah und dann so lange vom Leid sang bis er starb. Im Film sehen wir so manche Reflektion. Einmal in einem See, dann in den Lichtern von Kerzen und schließlich in diesem Leben, dass Nie Yinniang nicht haben konnte, jene Frau, die nicht töten konnte, weil sie sich selbst nie gesehen hat oder weil sie sich immerzu gesehen hat und deshalb so lange töten musste, bis sie den Gesang des Lebens hörte. Ein anderes Mal sehen wir einen Tanz, der mit uns tanzt und/oder mit Farben.
Nie Yinniang gesteht ihrer Meisterin am Abgrund stehend, dass sie den Cousin und seine Familie nicht töten konnte. Sie liefert ein politisches Argument (kein emotionales). Sie wird als schwach bezeichnet. Inzwischen verdeckt der Nebel den gesamten Bildhintergrund. Ist das Magie? Dann verschwindet sie im Wald. Ein harter Schnitt, von denen es ein paar in The Assassin gibt, wirft uns mitten in einen Kampf zwischen ihr und ihrer Meisterin. Doch Nie Yinniang kehrt sich ab, sie erstickt diesen Kampf erneut. Sie hat kaum etwas gesagt, wir haben sie kaum gesehen, sie ist nur ein Schatten und genau deshalb das Licht dieses Films, der vielleicht letztlich auf einer Suche nach einer zeitlosen Moral und deren Gegenwärtigkeit erfolgreich ist, in dem er sich von der Welt abkehrt und in eine unfassbare Reinheit taucht, die wiederum vom Wind wie ein flimmernder Schimmer am Leben gehalten wird, sei es durch die Vergangenheit oder Gegenwart. Irgendwie habe ich nur ein Bild des Films beschrieben. Und weil das vielleicht zu poetisch klingt, ende ich mit einem Zitat des Filmemachers: „Hollywood-style films are popular all around the world nowadays, and they need a strict story structure. If the story is not told that way, not continuous enough, the audience will have difficulty following along. But that’s only one of the many ways of telling a story: there are hugely different ways of filmmaking in world cinema. Only because of the huge impact of Hollywood, young people want to imitate that style. Actually, almost all filmmakers want to imitate the style of Hollywood. But I don’t see it that way. A good film is when you continue your imagination [of it] after seeing it.”