But we do not do: Ma Loute von Bruno Dumont

MES ENFANTS

Von der ersten verhaltenen Reaktionen aus Cannes aus dem vergangenen Jahr, über den deutschen Titel und Trailer bis zur etwas weicheren Canal+-Glasur, mit der sich Bruno Dumont in diesen Zeiten blicken lässt, habe ich mich täuschen lassen. Von Juliette Binoche und ihrem Arthaus-Premium-Gesicht, von diesen bunten Regenschirmen, dem Jacques-Henri-Lartigue-Charme und der Tatsache, dass P’tit Quinquin zwar grandios war, aber letztlich Fernsehen mit weniger Raum für Zeit, Farben und in sich zirkulierenden Erinnerungen, von einer Tendenz, die ich glaubte in dem Filmemacher zu sehen, der mit La Vie de Jésus, L’Humanité und Twentynine Palms einen neuen Existentialismus ins Kino brachte, einen der nicht mehr auf dem Konflikt beruhte, sondern auf dessen Verschlucktwerden, einen der sich nicht entzündete, sondern der als gegeben festgesetzt wurde, einen der in den Bildern ruhte, statt sich aufzudrängen, davon dass er plötzlich Schauspieler zu besetzen schien und keine Menschen mehr, habe ich mich täuschen lassen.

© arte

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WE KNOW WHAT TO DO BUT WE DO NOT DO

Ma Loute ist großes Kino. Dumont zeigt das Aufeinanderprallen zweier Klassen, den inzestuös reichen Strandseglern Van Peteghem und den kannibalistisch gefärbten Muschelsammlern Brufort zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als bitterbösen, völlig losgelöst absurden Triebfilm, in dem jegliche Motorik von erhöhten Krampfzuständen unterbrochen wird, in der jedem praktisch alles jederzeit schwer fällt in einer gemäldeartigen Landschaft, die in all ihrer Erhabenheit zugelassen und dennoch parodiert wird. Wieder hat Dumont etwas weiter an der Deformationsschraube gedreht, die kleinen Verformungen und an Rodin erinnernden Unförmigkeiten, sind inzwischen ein einziger Rausch an Übertreibungen geworden. Dass was seine Verformungen geöffnet haben in der Wahrnehmung einer Geste oder eines Blicks, das schließen sie jetzt in einer Reinheit des Körperlichen: Schmatzend, tänzelnd, glucksend, springend, jauchzend, fliegend, kreischend, knurrend, rülpsend, rollend, stotternd, stampfend, quietschend. Das Loch zwischen einer Tat und ihrer Bedeutung ist nicht mehr leer im Kino von Dumont, es ist überfüllt. Wie er selbst sagt: Er benutze jetzt kein Teleskop mehr, sondern ein Mikroskop. Damit ist auch und hauptsächlich die Arbeit mit der Kamera gemeint, die das Digitale in all seinen möglichen Korrekturen auskostet und die Körper und Gesichter derart brutal und majestätisch in den Kinosaal ragen lässt, dass man Ozeane in den Furchen und Fältchen unter den Augen der Protagonisten lesen kann. Mehr noch gilt die Überfüllung aber für die Tonebene, die Dumont im Gegensatz zu früheren Arbeiten nicht mehr öffnet für die Geräusche des Augenblicks, sondern die er fast hermetisch durchkomponiert, im Stile eines Jacques Tati, sodass jede Kopfbewegung ein „Wusch“ erzeugt und jede Figur mit ganz eigenen Geräuschkulissen ausgestattet wird wie der rollende und sich aufblasende Inspektor Alfred Machin, der mit seinem Gefährten Malfoy an Laurel & Hardy erinnert.

Die Übertreibungen arbeiten vor allem – und das ist ein ganz neuer Aspekt bei Dumont – in den wohlhabenden, erwachsenen Figuren. Das bringt einen auch gleich zu dem, was Dumont da eigentlich macht. Jenseits eines Filmemachers wie Jean-Luc Godard hat man wohl kaum jemanden gesehen, der sich selbst in seinen eigenen Werken so heftig kritisiert. In einer bemerkenswerten Szene sitzen die Van Peteghems, jene schrille Gaga-Familie, die in einem ägyptisch geprägten Bauwerk namens Typhonium (der Name bezeichnet eigentlich die Eidechsenwurz, die Wunderknolle, die ohne Erde und Wasser Blüten treibt) an Dumonts geliebter Nordküste nahe Calais vor sich hin vegetieren und schreien, an einem Tisch. Sie warten auf Omelettes und betrachten einen Fischer. Sie, das heißt vor allem Fabrice Luchini, der die beste Performance eines jeden Lebens abliefert, bewundern den Mann aus der Distanz, er sei wie aus einem Gemälde entwachsen, er sei so erhaben, so schön. In diesem Gestus liegt gerade in der Übertreibung eine enorme Sozialkritik am bürgerlichen Tourismusdenken. Die vornehme Distanz, die bizarre Wahrnehmung von Schönheit, der Film legt all das immer wieder offen. Es folgt eine Nahaufnahme des Fischers, in der Dumont wie so oft die vollkommene Banalität des Kinos gegen die Erwartung stellt. Und damit auch sich selbst hinterfragt, denn in vielen Interviews hat Dumont immer wieder von den malerischen Aspekten dieser Gesichter des Nordens gesprochen, der flämischen Tradition. Diese Banalität existiert immer wieder in größtmöglicher Ambivalenz. So sieht man eine Landschaft, wie man sie schon immer gesehen hat bei Dumont. Sie ist bisweilen schön, er filmt sogar gegen die Sonne. Aber man weiß nicht, ob man das jetzt schön findet oder nicht, schön finden darf oder nicht, unter allem schlummert bereits die Parodie.

Selbiges gilt dann auch für die dramatischeren Szenen im Film, der Liebesgeschichte zwischen Ma Loute und Billie. Es gilt auch für Billies Geschlecht, das vom Filmemacher und auch der Öffentlichkeitsarbeit des Films in einer unbequemen und Mechanismen hinterfragenden Schwebe gehalten wird. Und schließlich für eine überwältigende, an das Kino von Jean Epstein erinnernde Rettungsaktion durch den Vater von Ma Loute, den sie „Der Ewige“ nennen. Die Kamera betrachtet ihn schräg von unten, ein Held unter dem digital bis zur kleinsten Farbe komponierten Gewitterhimmel. Denn auch wenn Dumont die Schönheit des Ortes unter den Fragen der Ambivalenz und der Banalität verhandelt, arbeitet er doch mit besessener Perfektion, an seinen Bildern, ihrem Framing, ihren Farben und ihrer Position zwischen zwei anderen Bildern. Nur so vieles, was einst so unglaublich ernst war, scheint jetzt so unheimlich gelöst. Aber das täuscht, denn nach wie vor schlummert in diesem Reigen an Irrsinn eine Verbitterung, die Dumont, auch wenn er das selbst nicht hören wollen würde, zu einem der wichtigsten politischen Filmemacher eines nach rechts schwankenden Europas macht. Einer, der Zustände freilegt durch eine nie psychologische, sondern immer kinematographische Herangehensweise. Die Schwierigkeit zu handeln, die Schwierigkeit einen Satz zu sagen oder einen Schritt zu gehen. Eine Form von motorischer Ohnmacht, die sich in eine Verunsicherung hinein sträubt, kaum zu bändigen scheint und letztlich immer konsequenzlos bleibt, selbst wenn sie tödlich endet. Hier existieren alle nebeneinander (man achte auf die vielen weiteren, reichen Strandurlauber, die sich schweigend über das Wasser tragen lassen und fast wie Geister als Farbflecke in der Landschaft agieren), niemand ineinander (nur, wenn man die andere Person isst) und alles, was angesehen wird, wird nicht angeblickt, nichts wird wirklich berührt, es bleibt eine Distanz, die sich in Bildern ergötzt, in Aussichten, Marienstatuen und Äußerlichkeiten.

Noch kurz ein Wort zu Luchini, das muss erlaubt sein, mit seinem Lächeln, seinem Timing, dem den Gesetzen der Schwerkraft widersprechenden Bewegungen, die immerzu kippen und sich drehen, und aus der größten Verkrampfung noch einen leicht tänzelnden Schritt gewinnen wollen. Der sich nicht wirklich hinsetzen kann, nicht wirklich aufstehen kann, nicht wirklich gehen kann. Immer wieder versucht die Figur zu winken, wie man als Adeliger winkt, aber es bleibt nur eine verformte Geste, ein Fingerkrampf, der nach einem Hut greift, den der gute Mann nicht immer aufhat. Selten hat man ein derart perfekt choreographiertes Bewegungssammelsurium in einem Körper gesehen. Eine Szene, in der er in einem Segelwagen am Strand einen Unfall baut, leitet er ein, indem er eine lange Zeit im Wind tänzelt, sich warm macht, man weiß es nicht, ehe er sich in wildem Kostüm, fast fetischierend eingesetzt von Dumont, in das Gefährt begibt. Sämtliche Bewegungen von Luchini unterliegen dem Prinzip ihrer eigenen Unterdrückung. Kaum eine Figur, vor allem nicht bei den Van Peteghems kann wirklich die Bewegung vollführen, die sie vorhat. Dieser Irrsinn fällt mit Juliette Binoche am schwersten. So ganz will sie sich den rein mechanischen, körperlichen Absurditäten nicht hingeben, ihre Figur ist immer von einem inneren Konflikt gelenkt. das ist schade, weil diese deformierten Bewegungen eigentlich eine Zustandsbeschreibung sind und keine narrative oder psychologischer Folge einer Figur. Es macht zwar absolut Sinn, dass Dumont die Distanz zwischen den Van Peteghems und Bruforts auch im Casting reflektiert, aber nicht alle Schauspieler sind bereit, ihre Körper gleichermaßen zu einem Schlachtfeld der Zuckungen zu machen.

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LES OISEAUX

Was wir sehen, ist die aufflammende Deformation sämtlicher Gesellschaften und jene der Repräsentationsfunktionen des Kinos. Es ist ein Kino, das sich selbst abschwört und darin wieder und wieder zu sich findet. Wenn Dumont sagt, dass Komödie und Drama zwei Seiten der gleichen Medaille sind, hat er Recht. Es ist nur so, dass seine Komödien viel bitterer sind als seine Dramen nach Twentynine Palms. Zumindest aus seiner etwas schwierigen Phase mit Filmen wie Camille Claudel 1915, Flandres oder Hadewijch erschließen sich nun ganz neue Wunden. Was geblieben ist, ist der religiöse, spirituelle Fluchtversuch, die Frage nach einem göttlichen Wirken. In Ma Loute wird gebetet und dann gibt es auch ein Wunder. Liegt darin nur das Aufeinandertreffen dieser großen Banalität und Fleischlichkeit mit einer plötzlichen Erhöhung? Oder wohin fliegen all diese Figuren, warum fliegen sie, wovor fliegen sie hinfort? Es fällt auf, dass Frau Van Peteghem, gespielt von Valeria Bruni-Tedeschi, nachdem ihr ein Wunder an der Küste widerfährt, in glückseeliger Ruhe, sanft lächelnd verbleibt. Ist das der Lösungsvorschlag des bitteren Ironikers Dumont? Man braucht eine göttliche Erscheinung, um dem zu entkommen? Oder ist es die Reaktion der anderen, die zunächst überschwänglich ist, aber dann vergisst, was passiert ist? Ist es die Feststellung, dass man wieder landet, das alles gut ist und es immer eine Zeit gibt, um zu vergessen? Oder ist es nur die nüchterne Feststellung, dass auch diese göttlichen Kräfte, das Deus Ex Machina völlig deformiert ist und zur falschen Zeit der falschen Figur erscheint?

Bleibt noch die Frage nach der Art und Weise, in der Dumont Menschen zeigt. Es wurde immer wieder darauf verwiesen, dass sich Dumont ganz bewusst in moralischen Grenzbereichen aufhalten würde. Das liegt darin, dass er vor allem in einem Film wie Camille Claudel 1915 Behinderungen extrem offensiv dargestellt hat. Offensiv, das heißt in konkreten, klaren Bildern, die sich nahe an Menschen wagen und denen kaum Schutz gewähren. Außerdem gibt es sicherlich eine Tendenz zur Ästhetisierung  von Gesichtern und Körpern, auch deren Bloßstellung. Dumont betont, dass er gerne in dieser Region drehe, weil er selbst von dort komme und die Menschen dort besser nachvollziehen könne. Ma Loute zeigt das vor allem deshalb so deutlich, weil das Fremdartige bei Dumont nie in der Deformation, nie im langen Studieren nicht-symmetrischer, rauer Gesichter liegt, sondern im Wahnsinn eines Vergrabens und Auslebens animalischer Elemente des menschlichen Daseins. Es liegt im Kontakt, der simplen Geste, es liegt einfach da. es ist nicht schlicht eine Sache des Blicks, sondern der Sekunden danach, Dumont bietet uns etwas an, wir können damit umgehen, er stellt es uns frei. All diese Dinge existieren in einem derart ambivalenten Raum, dass sie eigentlich kaum benennbar sind. Letztlich werfen sie das Auge auf sich selbst zurück und man sieht in den Blicken dieser Laien und deformierten Gesichter die Transformation einer Frage aus dem moralischen, pseudo-politischen Parabelkino, mit dem man sonst gerne konfrontiert wird. Denn statt „Wo stehst du?“ fragt Dumont „Wie stehst du?“.

Alternative Film/Video Belgrade: Holes Exist in Every Single Tree

Alternative Film/Video Festival Belgrade

In the stretch of a year, a lot may happen. Alliances may form, break or be reconciled. What deserves acknowledgment is the importance of continuity and labour. Taking the time, or reserving the time TO MEET WITH FRIENDS AT THE SAME PLACE AT THE SAME PLACE, year in year out, is something I yet need to undergo, but my return to the Balkans this autumn/winter transposed this truth and I am very lucky to be able to make the time for such gatherings. Where in November I stopped by at Pravo Ljudski in Sarajevo, this month I revisited Alternative Film/Video Belgrade (7-11 December 2016).

Alternative Film/Video Festival Belgrade

Yugoslav anti-film revealed itself to me during last year’s 25 FPS, in Zagreb. An interest initiated. Soon after I was to be taught by Boris Poljak, who at some point took me from Sarajevo to Split, during which he shared several anecdotes concerning his main teacher and friend Ivan Martinac, who was responsible for filling generations of filmers with mountains of cine-enthusiasm. Autumn 2015. Leaves changing colours. Followed by a hot cocoa with Vjekoslav Nakić, someone else who played a major role in this history. With similar vigor, he inspirited me because of his animated and humble personae. These are just a couple of events that inclined me to return to the Balkans. And to keep returning, since this year Petra Belc, a friend and scholar, was there to present an excavated selection of women’s experimental film made in former Yugoslavia.

But let’s most certainly not underestimate the time-related privilege that comes with this endeavor. As Yoana Pavlova contested on Twitter:

‘’Once you pop up at any festival w/ a baby stroller, it gets much more complicated. One shouldn’t omit the fact that festivals require physical availability + certain existential choices from both men & women… And this is where the problems start, as women are supposed to be happy to make the same choices as men, only it’s > complex’’

And therefore the ability to build a relationship with a festival and its visitors is not possible for everyone, let alone with a location-specific art movement. When I meet someone who has uninterruptedly frequented a foreign festival in the course of nine or ten years, nine times out of ten it is a white man. Worth noting is that it often also includes more than just a single event, but several spread out over the globe. There shouldn’t be exceptions to this rule.

Writing p(l)ainly about moments that leave unmistakable imprints on the way one deals with life, is not easy but much needed. As I ponder about Alternative Film/Video, I’m calling to mind… Vlada Petrić, founder of the Harvard Film Archive, approaching and talking to Eve Heller with a childlike blink. Together with Petra (Belc) I’m attending this split-second (in a history) and suddenly cinema changes a bit. How? Why? I honestly don’t know, but it felt as if a cog moved, triggering a change elsewhere as part of a grander scheme of things.

What is the difference of describing this in either a couple of words or a couple of books? A film festival as impressive as this cannot be fully described. You go there, of course never knowing what it will become, and it ends up talking and activating one’s faith.

Sudden thought: ‘’…(moving) images here, (moving) images there… but true preservation happens not everywhere…’’

I arrived relatively late to the party, but arguably at the best possible moment: just in time for Sebestyén Kodolányi’s presentation. A fierce archivist and educator / an educator who works in archiving / an archivist who wholeheartedly educates. Delivering something that cracked open, invigorated, and crushed our notions of how to cut through unnecessary tendencies and cycles of self-validating curatorship. Or: programming. To program one’s flow of thought.

It was the kind of get-together where we happen to make notes of the following sort: ‘’with [this or that person] you are not being put in the mode of giving compliments. But rather: to talk in order to burn the bullshit together. To pursue this as both receiver and sender, or what is left of this dichotomy.’’

Giving films their ‘’much-needed portion of attention’’ is right but also extremely problematic. Since ninety percent of the films we get to see, especially through festival screenings, already passed through more eyes than we can imagine (also because this is never de-mystified or questioned, since festival selections need to appear as novel discoveries, instead of films that made a long and difficult journey before arriving in front of the public). Though, once again, Alternative Film/Video is singular in this stance because it presents to us moving images that are, if not picked by someone after the festival, immediately gone, that is: if not viewed with the attention that is required to fully notice it. And to be able to see in a festival works that will, though just in few occasions, only have a lifespan as long as a single screening, is actually something that needs to be lauded. It takes bravery and guts to show something that is, due to several reasons unknown to us as well as the programmers, bound to slip into forgetfulness.

Now, if I would have to describe one film, which one would it be? Raw Material (2015) by Jean-François Reverdy is the one that still occupies my mind. Bearing resemblance to Ismaïl Bahri’s Foyer (2016), it poses: “What do we think we see?” And both are films shot in the Middle East with lenses that are intentionally obscured. But that is where the similarities end. Enfin: to take a camera to somewhere foreign is easy for us Westerners. We put it up and we can start recording. But what then? Do we see anything when we see something “in vivid detail?” Or is it more specific to any given situation? So that an extremely blurred image might disclose just as great an insight as the aforementioned? There’s a pinhole camera. There is also a desert. People are curious. The camera doesn’t care but slowly starts to capture images more clearly. Until there is the arrival of a train. You feel fearful but then the camera keeps spinning in 360 degrees as the train doesn’t seem to have a tail. L’arrivée d’un train en gare but none of the bystanders seem to care. And perhaps they have a point.

Raw Material (2015) by Jean-François Reverdy

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Foyer (2016) by Ismaïl Bahri

The final screening ends. I turn my head to the right and there appears Vlada Petrić. We are the only two who remained seated until the very end of the festival, my twenties just started, he will soon turn ninety. I look down to see what I scribbled down in my notebook during the films, and it is only because of its repetition – pardon my horrific handwriting – that I vaguely manage to discern:

All I demand is Enthusiasm…
All I demand is Enthusia…
All I demand is Enthus…
All I demand is En…
All I demand i…
All I dema…
All I d…
All I…

..
.

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Raw Material (2015) by Jean-François Reverdy

13 Kinomomente des Jahres 2016

Wie in jedem Jahr möchte ich auch in diesem Jahr zum Ende hin über die Augenblicke im Kino nachdenken, die geblieben sind. In der Zwischenzeit bin ich jedoch nicht mehr so sicher, ob es wirklich Momente sind, die bleiben. Viel öfter scheint mir etwas in mir zu verharren, was konkret gar nicht im Film existierte. Nicht unbedingt die subjektive Erinnerung und das, was sie mit Filmen macht, sondern vielmehr ein Wunsch, ein Begehren oder eine Angst, die sich im Sehen ausgelöst hat und sich an mir festkrallte. Ein Freund nennt Filme, die das mit ihm machen, die in ihm weiter leben und töten „Narbenfilme“. Ich mag diesen Ausdruck von ihm, obwohl eine Narbe ja bereits eine Heilung anzeigt. Diese Momente, diese Filme, die sich als Narbenfilme qualifizieren, brennen jedoch noch. Es sind offene Wunden, manchmal in der Form einer Blume, manchmal als klaffendes Loch.

Ich versuche daher in diesem Jahr solche Momente zu beschreiben, Momente, die nicht nur den Filmen gehören, die sie enthalten.

Inimi cicatrizate von Radu Jude

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Ein Top-Shot: Der junge, kranke Mann möchte seine Liebe besuchen, sie überraschen. Mit seinem wortreichen Charme überzeugt er Arbeiter des Sanatoriums, ihn auf einer Trage zu ihrer Wohnung zu tragen. Auf seinem Bauch ein Strauß Blumen. Er trägt schwarz unter seinem weißen Gesicht. Die meisten Top-Shots empfinde ich als schwierig. Sie erzählen lediglich von der Macht der Perspektive. Dieser hier ist anders. Er erzählt etwas über die Präsenz des Todes. Der Liebende wird für unter der Kamera zum Sterbenden. Darum geht es auch in diesem famosen Film. Das liebende Sterben, das sterbende Lieben.

(Meine Besprechung des Films)

Atlantic35 von Manfred Schwaba

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Ein Film wie ein einziger Moment. Ein Blick auf das Meer, der nur wenige Herzschläge anhält. Er kommt aus und verschwindet in der Dunkelheit. Es ist ein Film für einen Moment gemacht, der aus zwei Träumen besteht. Der erste Traum, das ist das Filmen auf und mit 35mm, ein sterbender Formattraum. Sterbend, weil eben nicht alle Menschen sich einfach so leisten können, auf Film zu drehen. Nicht jeder kann jeden Traum auf Film realisieren. Der zweite Traum, das ist das Meer, der Atlantik. Beide Träume also im Titel. Die Realität dieses Traumes, kommt gleich einer unaufgeregten Welle. Kaum spürbar, schon vorbei, wenn sie begonnen hat, aber doch mit all der Grazie des Kinos und des Ozeans ausgestattet, die es gibt.   

(Rainers Avantgarde Rundschau von der Diagonale)

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wann genau dieser Augenblick eintritt, aber es ist ein einzelner Satz. Ein Satz, der alles vernichtet, was vorher geschrieben wurde. In ihm sammelt sich das Kippen einer Beziehung, die sich nur in Worten nährt. Es gibt mehrerer solcher Momente im Film. In ihnen kippt etwas in der geträumten Beziehung oder auch zwischen den Sprechern/Darstellern und den Worten. Das grausame und schöne an den Momenten in diesem Film ist, dass sie zeitlich verzögert sind. Oder gar vielleicht nie abgeschickt wurden.

(Meine Besprechung des Films)

Sieranevada von Cristi Puiu

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Wie viele meiner favorisierten Filme des Jahres handelt auch Cristi Puius neuestes Werk mehr von einer Präsenz der Auslassung, denn Dingen, die tatsächlich passieren. Ein Jahr der Fiktionen, die ihre eigenen Realitäten konstruieren. Ein Moment, der das bei Puiu bricht, ist die Erkenntnis. Diese gibt Puiu seinem Protagonisten Lary. Einmal in Form von Tränen und mehrere Male in Form eines machtlosen Lachens. Dieses Lachen ist wie der ganze Film zugleich unglaublich komisch und bitter. Es ist ein Lachen, das einem verdeutlicht, dass man keinen Zugriff hat auf die Fiktionen.

(Mein Interview mit Cristi Puiu)

(Andreys Besprechung des Films)

(Mein Bericht vom Festival in Cluj)

Austerlitz von Sergei Loznitsa

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Die Obszönität des Kinos ist hier zweisilbig. Die erste Silbe betont die Obszönität des filmischen Unternehmens selbst, der filmischen Fragestellung, der Art und Weise wie die Kamera in den Konzentrationslagern auf die Touristen blickt. Die zweite Silbe schafft Momente. Sie offenbart beispielsweise ein absurdes, schreckliches Kostümbild, womöglich das obszönste der Filmgeschichte. Ein junger Mann trägt ein Jurassic Park T-Shirt in einem Konzentrationslager. Die Kamera zuckt nicht, sie schaut sich das an, zeigt es uns und fragt sich tausend Fragen. 

(Andreys Besprechung des Films)

Ta‘ang von Wang Bing

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In den ersten Sekunden seines Films injiziert Wang Bing schockartig ein ganzes Drama unserer Zeit in unsere Körper. Eine junge Frau sitzt mit einem Kind unter einem Zeltdach in einem Flüchtlingslager. Ein Soldat kommt, tritt sie, das Dach wird weggezogen, sie wird beschuldigt. Es ist eine unfassbar brutale und kaum nachvollziehbare Szene. Was ihr folgt ist Flucht. 

(Mein Tagebucheintrag vom Underdox mit einigen Gedanken zum Film)

Der traumhafte Weg von Angela Schanelec

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Nehmen wir einen Ton. Den des Zuges, der schneidet. Ein wenig zu laut, als dass man es ignorieren könnte. Ein Ton der bleibt, weil er kaum da war. Er erzählt etwas, was man nicht sieht, etwas Grausames. Es ist die Beständigkeit ausgelassener, angedeuteter und wiederum zeitlich verzögerter Momente, durch die sich eine Erkenntnis winden muss. Das Echo dieses Zuges hallt wieder durch den Bahnhof. Schanelec verstärkt diesen Ton noch mit dem Bild eines verlassenen Schuhs neben den Gleisen. Mit dem Regen. Es sind disparate Momente, die sich der Fragmentierung fügen und dadurch in sich selbst ein neues Leben entdecken.

(Meine Besprechung des Films)

Le parc von Damien Manivel

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Damien Manivel bringt das von David Fincher am Ende seines The Social Network begonnene Drama unserer Generation zu einem grausamen Höhepunkt in den letzten Lichtern eines endenden, unwirklich schönen Tages und der ebenso unwirklichen Realität der folgenden Nacht. Eine junge Frau wird plötzlich von dem Jungen sitzengelassen mit dem sie einen Tag im Park verbracht hat. Sie sitzt auf einem kleinen Hügel in der Wiese im  Park und schreibt ihm eine SMS. Sie blickt in die Ferne, sie fragt sich, ob er zurückkommt. Sie wartet auf eine Antwort. Sie sitzt und wartet. Die Kamera bleibt auf ihrem Gesicht. Langsam wird es dunkel. Der Park leert sich. Sie wartet auf eine Antwort. Sie wartet und es wird Nacht.

Certain Women von Kelly Reichardt

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Wie kann man vom unausgesprochenen Begehren erzählen? Kelly Reichardt wählt das unvermeidbare Gewitter eines kleinen Lichts in den Augen. Beinahe wie Von Sternberg, nur ohne den Glamour, erscheint ein funkelndes Augenhighlight in der blickenden Lily Gladstone, es brennt dort und erzählt von etwas, das darunter brennt. Es ist sehr selten, dass jemand mit Licht erzählt und nicht mit Worten.

(Meine Besprechung des Films)

Nocturama von Bertrand Bonello

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Ich bin kein Fan der Musik von Blondie. Aber ich habe das Gefühl, dass Bertrand Bonello mich beinahe zum Fan einer jeden Musik machen könnte. Er benutzt sie immer gleichzeitig als Kommentar und Stimmungsbild. Er treibt mit ihr und bricht sie. Seine Kamera vollzieht begleitend zu den Tönen das Kunststück, sich im Rhythmus zu bewegen und dennoch immer etwas distanziert zu sein. Als würde man jemanden betrachten, der hinter Glas tanzt zu einer Musik, die man sehr laut hört.

(Mein Interview mit Bertrand Bonello)

Două Lozuri von Paul Negoescu

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In dieser sehr unterlegenen Hommage an Cristi Puius Marfa și banii gibt es eine der lustigsten Szenen des Jahres. Dabei geht es um die Farbe eines Autos. Der Polizist geht richtigerweise davon aus, dass das Auto nicht weiß ist. Aber alle Menschen, die er befragt, leugnen die Farbe des Autos. Was er nicht weiß ist, dass sie alle unter einer Decke stecken. Dieses nicht-weiße Auto wird zu einer absurden Fiktion. Wenn alle Menschen sagen, dass etwas weiß ist, bleibt es dann nicht weiß, wenn es nicht weiß ist?

O Ornitólogo von João Pedro Rodrigues

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Eine Eule schwebt im Gleitflug über die Kamera und ihre Augen treffen die Linse mit einer bedrohlichen Bestimmtheit. Sie landet perfekt, ihr Blick bleibt. In einem Film, der weniger vom titelgebenden Beobachten der Vögel, als von deren Blick zurück besessen ist, bleibt dieser Augenblick, weil er zeigt, dass man oft nur bemerkt, dass man angesehen wird, wenn man hinsieht.

(Meine Besprechung des Films)

La mort du Louis XIV von Albert Serra

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Jean-Pierre Léaud (machen wir uns nichts vor, es ist nicht Louis XIV) verlangt nach einem Hut. Für einige Sekunden könnte man meinen, dass er jetzt das Innenleben seiner Gemächer verlassen will, dass er aufbricht in eine neue Sonne. Aber weit gefehlt, denn Jean-Pierre Léaud verlangt nur nach dem Hut, um einigen Damen damit zu grüßen. Es ist dies der Inbegriff des schelmisch Charmanten, in dem sich Serra, der Sonnenkönig und dieser bildgewordene Schauspieler treffen. Selbst, wenn es ums Sterben geht.

(Meine Besprechung des Films)

Around the World in 14 Films: The Woman Who Left von Lav Diaz

The Woman Who Left von Lav Diaz

Seit dem Gewinn des Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig mit The Woman Who Left ist Lav Diaz einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die Zeiten, in denen er unter einer kleinen, cinephilen Anhängerschaft als Geheimtipp galt, sind somit vorbei. Darf man in solchen Fällen stutzig werden, misstrauisch sein ob der Aufmerksamkeit und des Lobs vonseiten einer Branche, die sich jahrelang herzlich wenig um diese Filme geschert hat? Muss man fürchten, dass ein solcher Preis nur zu gewinnen ist, wenn ein Filmemacher seine Kompromisslosigkeit aufgibt? Ist bei Diaz eine Tendenz festzustellen, wie man sie bei manchen Cannes-Dauerbrennern, wie den Gebrüdern Dardenne in ihren letzten Filmen gesehen und gespürt hat?

Zweifel schienen möglicherweise berechtigt, doch The Woman Who Left weiß sie zu entkräften. Das Filmschaffen von Lav Diaz hat sich in den letzten Jahren etwas verändert, seine Filme lassen sich einfacher in einer konkreten Raumzeit verorten, die Erzählungen wirken oftmals gestraffter und nehmen sich weniger Zeit zu mäandern; sie sind nun einfacher auf einzelne Aussagen oder ihre „politische Relevanz“ reduzierbar. Trotz allem kann man Diaz schwer vorwerfen, dass er sich der Logik einer Marktförmigkeit unterwirft, zu sehr betont er auch in The Woman Who Left die filmische Dauer, in der sich seine Erzählungen entfalten, zu frei und unvorhersehbar bewegen sich seine Figuren, zu fein die Bruchlinien, die sich aus dem Driften des Films ergeben; alles Qualitäten, die sich schon in seinen früheren Filmen finden.

The Woman Who Left von Lav Diaz

Es ist schwierig über die Filme von Diaz zu schreiben; das Schreiben scheint der Monumentalität nie gerecht zu werden. Das bezieht sich nicht nur auf die Laufzeit, sondern auch auf die politische Dimension seiner filmischen Arbeit und vor allem auf die Haltung zu den Bildern und zur Welt, die durch den Film transponiert wird – der Glaube daran, dass auch im Kino ein Davor und ein Danach existieren, dass das Leben (und das Leben ist auch die kleinste Zelle der Geschichtsschreibung) mit all seinen Konfrontationen und Konsequenzen berücksichtigt werden muss, auch wenn es gerade nicht im Bild zu sehen ist; und der Umkehrschluss – das gerade die Randgestalten der Geschichte, die marginalen Vorkommnisse des Lebens oft mehr über die Ereignisse Bescheid wissen, als das kondensierte Spektakel (die Grundfigur des kommerziellen Kinos). Es bleibt mir nur eine Flucht zu den eben genannten Momenten, eine Flucht ins Beispielhafte, ein lückenhaftes Aufzählen subjektiver Empfindungen und Beobachtungen, ein Versuch Emotionen zu teilen. Fern von dem Punkt alle Filme von Diaz zu kennen, aber mittlerweile mit seinem Werk einigermaßen vertraut, stellt sich bei mir bei jedem seiner Filme ein Gefühl von Vertrautheit ein. Diese Vertrautheit ist eng an wiederkehrende Motive und Bildtypen gekoppelt, die – wie auch zum Beispiel die immer gleichen weißen Lettern auf schwarzem Grund in den Filmen von Woody Allen  – zu einem Proust’schen Rückerinnern führen. Ein Gefühl von Nähe macht sich dann bemerkbar, von Vertrautheit, von Mitwisserschaft. Natürlich ist dieses Gefühl nicht exklusiv den Filmen von Lav Diaz vorbehalten, sondern hat wohl insgesamt mit der Erfahrung von Kunst zu tun, wie sie, für den filmischen Diskurs, vor allem von den großen passeurs beschrieben und vorgelebt wurde.

Ein Gefühl des Miteinanders, der Teilhabe, entsteht. Zunächst ist das ganz pragmatisch gedacht: Für vier, acht oder zehn Stunden verbringt man Zeit im Kinosaal mit einer (meist überschaubaren) Anzahl anderer Kinogänger und mit den Bildern auf der Leinwand. Darüber hinaus tritt man selbst in die Welt ein, beobachtet parallel zur Kamera das Geschehen, entdeckt Gerüche, Geschmäcker, findet Freunde, Seelenverwandte, arbeitet, feiert – man wird selbst zum Film. Es geschieht eine Menge Dinge in dieser Zeit, denen man mal intensiver, mal weniger intensiv folgt; und wie im echten Leben, ist man kaum in der Lage die Übersicht über alle Vorkommnisse zu behalten, um sie im Anschluss in chronologischer Reihenfolge aufzuführen. Einen Film von Lav Diaz zu sehen, oder besser, zu erfahren, ist wie das Treiben, in einem Fluss, der mal aufgestaut wird, mal abebbt, aber immer weiterfließt, bis man irgendwann aus ihm steigt und in eine Welt zurückkehrt, der die Monochromie fehlt.

The Woman Who Left von Lav Diaz

Dschungeldickicht: Nur schwer findet sich das Auge im schwarzweißen Wirrwarr der Ranken, Sträucher, Bäume und Blätter zurecht. Das Schwarzweiß gepaart mit gestochen-scharfer Digitaloptik lässt das Bild flächig erscheinen. Ohne Anhaltspunkt und ohne Bewegung ist es schwer unterschiedliche Bildebenen wahrzunehmen. Für einige Sekunden steht der Dschungel meist für sich, bis es im Unterholz zu rascheln beginnt, und sich über irgendeinen verborgenen Pfad Menschen ins Bild bewegen. Durch ihre Bewegung gewinnt das Tableau an Tiefe, die Orientierung fällt leichter, das Suchbildrätsel löst sich auf. Dieses Bildmotiv kommt in The Woman Who Left nur ein einziges Mal vor (wenn mich meine Erinnerung nicht trügt), erinnert aber sofort an ähnliche Inszenierungen der philippinischen Landschaft in Filmen wie From What Is Before oder A Lullaby to the Sorrowful Mystery, die in weniger urbanem Terrain spielen.

Eine einsame Straßenlaterne erleuchtet ein Stück Straße. Im harten Licht der Laterne werfen die stehenden, sitzenden, kauernden Gestalten am Straßenrand harte Schatten. Im Dunkel der Nacht unterhalten sich die Gestalten, albern herum, streiten. In den Gesprächspausen breitet sich nächtliche Stille aus, unterbrochen von fernen Motorengeräuschen und zirpenden Insekten. Die Zeit dehnt sich in diesen Momenten, denn in der Nacht fällt die Hektik des Tages ab. Unter Straßenlaternen verhandeln Lav Diaz‘ Protagonisten den weiteren Verlauf ihrer Geschichte, unter Straßenlaternen verbringen sie Zeit miteinander. Die Nacht ist hier keine Zeit düsterer Stimmung, keine Zeit der letzten Entscheidungen, keine Zeit des Grusels, sondern ein unaufgeregter Teil des Lebens, dazu geeignet neue Bekanntschaften zu machen, intime Gesprächssituationen herbeizuführen und sich in der Dunkelheit seiner Isolation zu erfreuen. In The Woman Who Left sind es die Szenen zwischen Horacia und dem buckligen Straßenverkäufer, wie sie am Straßenrand unter Laternenlicht sitzen, die am stärksten das Gefühl der gelassenen Beobachtung evozieren, so wie auch schon die Szenen in den Winternächten New Jerseys in Batang West Side, die irgendwann zu Zugehörigkeit und Vertrautheit wird.

Es ist somit unerheblich, ob The Woman Who Left kürzer und stringenter ist als andere von Diaz‘ Filmen, denn das entscheidende Gefühl der Vertrautheit, des Mit-dem-Film-seins, das ich versucht habe zu skizzieren, stellt sich auch hier ein. Trotz dieses Gefühls, kommt es mir nicht so vor, als würde ich die Regeln dieser Welt vollständig kennen, als könnte ich aus den gezeigten Welteindrücken, die oft eine täuschend getreue Wiedergabe der Realität suggerieren, ein Denksystem ableiten, eine einheitliche Idee von Humanismus dechiffrieren. Der Sog der Vertrautheit ist ein anderer, als jener der Massenmedien, die mich betäuben und mit einer fertigen Botschaft impfen wollen. Es geht hier weniger um eine Deutung (zumindest um keine, die im Vorhinein festgelegt ist), als um die Geste des Zeigens. Darin liegt dann vielleicht auch die (politische wie filmpolitische) Haltung von Diaz, mit der sich erklären lässt, weshalb Szenen an- und auslaufen dürfen, weshalb das Bild selten durch Unschärfen oder Kamerabewegung korrumpiert wird, weshalb die Alltäglichkeit eine vergleichsweise wichtige Rolle spielt – es ist seine Form der Kritik an anderen medialen Darstellungsformen und Bewegtbildinszenierungen. Ist The Woman Who Left etwas zugänglicher, an manchen Stellen vielleicht sogar deutlicher? Ganz bestimmt. Ist Lav Diaz deshalb von seinem Weg abgekommen? Meiner Einschätzung nach ist er das nicht. Vielmehr hat er etwas Anderes entwickelt, das dem Geist seiner früheren Arbeiten entsprungen ist, sie in eine andere Richtung lenkt, aber nicht verrät.

Around the World in 14 Films: Salesman von Asghar Farhadi

Salesman von Asghar Farhadi

Beim Verlassen der Vorstellung von Salesman von Asghar Farhadi habe ich ein Gespräch überhört, in dem zwei andere Besucher über die Filme von Farhadi schwärmten. Farhadi widersetze sich einer einfachen Einordnung seiner Figuren in moralische Kategorien, und schaffe es die Beweggründe all dieser Figuren greifbar zu machen. Eine recht treffende Diagnose, wie man sie nicht allzu oft in solchen Gesprächen unmittelbar nach einem Film zu hören bekommt. Ausgehend von dieser Diagnose, stellt sich nun die Frage, wie Farhadi das gelingt.

Salesman handelt von Emad und Rana, einem jungen Ehepaar, das nach der Evakuierung ihres einsturzgefährdenden Hauses eine neue Bleibe sucht. Im Theater, wo sie beide in einer Aufführung von Arthur Millers Death of a Salesman spielen, bietet ihnen ein Kollege eine freistehende Wohnung an, die er vermietet. Wie sich später herausstellt, musste die Vormieterin, eine Sexarbeiterin, das Haus verlassen, als die Nachbarn sich darüber beschwerten, dass sie ihre Freier zu sich in die Wohnung einlud. Eine Verkettung unglücklicher Zufälle führt schließlich dazu, dass Rana in der Dusche von einem dieser Freier überfallen und verletzt wird. Im weiteren Verlauf des Films werden die Folgen dieses Ereignisses für das Paar und ihre unmittelbare Umgebung verhandelt. Rana wird zu einem Nervenbündel, das sich nicht mehr alleine ins Badezimmer traut, Emad macht sich rastlos auf die Suche nach dem Täter. Unter dem immensen psychischen Druck leidet nicht nur die Beziehung der beiden, sondern auch ihr Verhältnis zu Nachbarn, Familie und Freunden, allen voran den Kollegen im Theater.

Salesman von Asghar Farhadi

Das Theater dient dem Film gerne als jenseitiger Ort, wo die gängigen Mechanismen der Welt ausgesetzt werden können. Ein Ort, an dem Zeit und Raum verschwimmen und sich Realitätsebenen überlappen. Auf der Bühne werden dann Sehnsüchte und Träume zum Leben erweckt, der Film überträgt dann die ihm durch die Montage verliehene Macht der Herrschaft über Raum und Zeit auf das Theater (diese Macht, die den ureigenen Qualitäten des Theaters eigentlich zuwiderläuft). In den gelungeneren Varianten dieser Einverleibung wird das Theater zu einem offenen Projektionsraum, der freilich nicht mehr allzu viel mit dem zu tun hat, was das Theater eigentlich ausmacht: die Gewalt der physisch anwesenden Körper, die ephemere Präsenz der Stimmen und Gesten, die sich jedem Versuch sie einzufangen widersetzen. Gerne greifen Filme auch auf bekannte dramatische Stoffe als Stücke im Film zurück, die dann als mehr oder weniger plumpe Kommentare zur Filmhandlung herhalten sollen.

In Salesman ist das Theater zunächst ein sozialer Raum, in dem Menschen interagieren, mal hinter den Kulissen, in der Maske, beim Proben, mal in der Aufführungssituation auf der Bühne. Weder ist das Stück von Arthur Miller hier eine Parabel der Filmhandlung, noch drängen sich die Bühnenszenen als Orte metaphysischer Kontemplation auf. Am ehesten noch sind die Momente des Probens und Spielens Diskursräume, in denen die Figuren jene Beziehungen untereinander weitervertiefen, die den Film als Ganzes ausmachen. Wenn Farhadi eines beim Theater entlehnt, dann ist es eines der Gestaltungsmittel, dem man im Theater für gewöhnlich mehr Bedeutung zumisst, als im Film.

Salesman von Asghar Farhadi

Im Jargon der Theaterwissenschaften bezeichnet man mit Proxemik die räumliche Anordnung der Figuren auf der Bühne und die Beziehungen, die sich aus dieser Anordnung und ihrem Verhalten zueinander ablesen lassen. Grundsätzlich gilt das auch für den Film, durch die Möglichkeit des Perspektivwechsels innerhalb einer Szene oder Sequenz, wird die Anordnung der Figuren zueinander aber oft der Anordnung der Figuren zur Kamera, bzw. der Bewegung der Kamera im Raum untergeordnet. Es ist für mich eine der auffallendsten Aspekte im Werk Farhadis, dass seine Figurenzeichnung weniger durch Dialoge oder die Mimik und Gestik der einzelnen Schauspieler getragen wird, sondern durch ihre räumliche Konstellation. Während man im filmischen Diskurs „theatralisch“ oft leicht abwertend verwendet, sind Farhadis Filme theatralisch im besten Sinne – sie machen sich Wirkungsprinzipien zunutze, die man vom Spiel der Schauspieler auf der Bühne kennt: die kammerspielartigen Innenräume werden erfüllt vom Zurückweichen und Vorbreschen der Akteure, dem Verringern und Vergrößern von Distanzen.

Dieser Stil steht im Einklang mit den Sujets von Farhadis Filmen. Kleine Verschiebungen im Gleichgewicht der Beziehungen führen zu einem kataklystischen Feuersturm. In seinen besten Filmen, wie A Separation oder Le passé setzt sich die Kette von Ereignissen ohne erkennbaren Auslöser in Bewegung, sondern entsteht durch ein allmähliches Anwachsen eines Konflikts, der gar nicht so richtig datierbar und markierbar scheint. In Salesman ist das nicht der Fall, hier kommt die Handlung durch ein eindeutig markiertes Schlüsselereignis, die Evakuierung des Wohnhauses, in Fahrt. Während der Einstieg in den Film also nicht immer ohne eine klare Markierung auskommt, lässt sich die klimaktische Katastrophe (der zwischenmenschlichen Beziehungen) in keinem von Farhadis Filmen auf einen fixen Punkt festgelegen, sondern dehnt sich in der Zeit. Die Katastrophe ist hier ein Strom, der einfach weiterfließt, womöglich wird er irgendwann versiegen, womöglich entwickelt er sich zum reißenden Sturzbach. Keiner der beiden Fälle ist absehbar, genau festgelegte Endpunkte kommen im Leben ebenso wenig vor, wie Aufschlüsselungen von Beziehungen und klare Einordnungen menschlichen Charakters – in dieser Hinsicht ist das Kino von Asghar Farhadi dem Publikum und der Welt gegenüber ehrlich.

DOK Leipzig 2016: Vom filmischen Ungehorsam – im Gespräch mit Ines Seifert

© Susann Jehnichen

Ein Festival beginnt für gewöhnlich nicht mit dem ersten Screening, das man besucht, sondern zumeist am Bahnhof, beim Versuch sich ein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr zu kaufen und sich anhand von Stadtplänen zu orientieren. In Leipzig stellte sich mir bereits bei diesem Schritt die ersten Hürden in den Weg: der Fahrkartenschalter war nicht besetzt, der Ticketautomat akzeptierte weder meine Kredit- noch Bankkarte und verlangte den Einwurf des exakten Geldbetrags (den ich natürlich nicht bei mir hatte). Frustriert stieg ich dennoch in die Straßenbahn und fuhr in Richtung meiner Unterkunft mit besten Absichten später am Tag mein Wochenticket zu lösen. Die zweite Hürde, ein erster Stadtspaziergang zur Orientierung. Noch nie habe ich ein Festival erlebt, dass seine Spielstätten so gekonnt versteckt. Keine Aufsteller, keine Fahnenstangen, alle Kinos in der Innenstadt in Innenhöfen, Passagen oder Einkaufszentren versteckt, jeden der drei Spielorte (und auch das Festivalzentrum) habe ich erst nach einigen Umwegen gefunden. Bevor noch der erste Film losging war ich einigermaßen genervt.

Ein paar Stunden später sah die Welt schon ganz anders aus. Nach einigen sehr soliden Programmen im Verlauf des Tages und dem schrecklichen Oderland. Fontane beschloss ich den Tag mit einem Kurzfilmprogramm, das so ganz meinen filmischen Neigungen entsprach. Das DOK Leipzig bezeichnet sich selbst als Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, deshalb war ich zu gleichen Teilen erfreut und überrascht, dass sich ein waschechtes Avantgarde-Programm ins Lineup des Festivals verirrt hatte. Am späten Abend und an ungewohnter Stelle, in einem Multiplexsaal einer großen Kinokette, sah ich ein Programm, das unter dem Titel „Reworking the Image“ um verschiedene Möglichkeiten der Be- und Verarbeitung des filmischen Materials kreiste. In mehreren Filmen wurde der Filmstreifen direkt bearbeitet, in Negative Man von Cathy Joritz, in der die Ausführungen eines Rhetorik-Coaches durch Kritzeleien verfremdet wurden, in Removed von Naomi Uman, wo die Frauenkörper eines Pornofilms mit Nagellackentferner unkenntlich gemacht wurden. Dazwischen Found Footage-Orgien von Henri Storck und Charles Ridley und als Höhepunkt des Programms Outer Space von Peter Tscherkassky auf Riesenleinwand. Zum Abschluss noch zwei Filme, die das ästhetische Potenzial des Digitalen ganz ähnlich nutzen, wie ihre analogen Vorgänger. Ein intelligent zusammengestelltes Programm, dessen Einzelteile auch für sich alleinstehen könnten.

Neuer Tag, neues Glück. Endlich konnte ich Decasia von Bill Morrison sehen. Ein berauschendes Erlebnis, ein Film, der zum Versinken einlädt und dessen lebendiges Zucken und Flirren stärker im Gedächtnis bleibt als seine kluge Symbolsprache, die mehr konrkete Fragen zum Status des Kinos und des Filmmaterials aufwirft, als man das in einem nicht-gegenständlichen Film erwartet. Zu diesem Zeitpunkt war mir klar – wenn ich über das DOK Leipzig schreibe, muss ich über diese Nebensektion schreiben, die im Schatten der großen Wettbewerbe all die Fragen thematisiert, die mich tagtäglich beschäftigen. Fragen zur Materialität des Films, zur Präsenz der Vorführung, zur Verlebendigung von Filmgeschichte, zur Vermittlung historischen Bewusstseins. Die „Disobedient Images“, wie die Reihe getauft wurde, hat Ines Seifert zusammengestellt, erstmals beim DOK Leipzig in kuratorischer Funktion im Einsatz, aber seit vielen Jahren beim Filmfest Dresden involviert. Um mehr über das Programm, seine Rolle im Gesamtzusammenhang des Festivals und die gegenwärtige Medienlandschaft zu erfahren, habe ich sie zum Gespräch getroffen.

Decasia von Bill Morrison

Decasia von Bill Morrison

Rainer Kienböck: Wir kommen gerade aus dem dritten Programm deiner Reihe „Disobedient Images“ und haben gerade schon über Bruce Bickford gesprochen, dessen Film Cas’l‘ am Ende des Programms stand. Du hast gesagt, dass du es wichtig findest, dass es eine Mischung aus aktuellen und älteren Filmen gibt, und das Festivals unbedingt historische Programme zeigen sollten. Mich zieht es sehr oft in solche Reihen und auch ich finde es wichtig, dass sich Festivals Sparten behalten, wo sie solche Filme zeigen können, einfach um ein historisches Bewusstsein zu schaffen, dass Film eine Geschichte hat, dass sich Film nicht in seinen aktuellen Produktionen erschöpft, sondern darüber hinaus geht. Könntest du vielleicht etwas dazu sagen, wie sich das DOK Leipzig als Festival dazu verhält, weil hier wird ja verhältnismäßig viel Historisches gezeigt?

Ines Seifert: Vielleicht kann die Frage zum Teil auch mit der Frage, was die Aufgabe eines Filmfestivals generell ist, beantwortet werden. Vor allem wenn wir über Kurzfilm sprechen – und aus diesem Bereich komme ich – sind Festivals immer noch die allerwichtigste Plattform, um überhaupt gezeigt zu werden und zwar unabhängig davon, ob sie historisch sind oder aktuell. Der Kurzfilm hat ja ganz andere Vertriebsmodelle als Langfilme, relativ wenig Kurzfilme haben einen Verleih und sind dadurch in der „Kinomaschinerie“, wo sich das dann ein bisschen automatisiert. Ansonsten sind die Festivals für die Filmemacher auch ein wichtiger Treffpunkt, und auch das betrifft letztlich die historischen, wie die aktuellen. Praktisch hast du dir die Frage selber beantwortet. Ich finde es spannend, einfach auch zu wissen, dass es so viel in der Historie gibt, das man ausgraben kann, womit man sich jahrzehntelang beschäftigen kann. Ich würde da gleich Bill Morrison als Beispiel nennen, der uns in den letzten Tagen hier bewusst gemacht hat, dass es sehr inspirierend ist Archive aufzusuchen und dort Filme zu entdecken, die zum Teil noch nie gezeigt worden sind. Da sieht man auch, welche Verantwortung ein Festival oder einzelne Kuratoren haben. Es geht darum zu sehen, wo ein Genre herkommt, worauf sich bestimmte Leute beziehen, wo neue Arbeiten anschließen und Ideen weitergesponnen werden. Der Verantwortung, diese Dinge offenzulegen, ist sich DOK Leipzig enorm bewusst, und das schätze ich an dem Festival auch sehr.

RK: Bill Morrison ist ein gutes Stichwort, denn gerade das erste Programm der Schau „Reworking the Image“ und dann sein Film Decasia hatten sehr stark die Materialität von Film zum Thema und ich wollte fragen, ob das ein Ausgangspunkt war, ob Bill Morrison quasi zuerst war, oder das Programm, und wie sich dann beides im Entstehungsprozess zusammengefunden hat.

IS: Also als erstes stand das Festivalmotto „Disobedience“ fest. Die Festivalleiterin Leena Pasanen hatte in der Wahl des Mottos sicher einen großen Anteil. Sie kennt den finnischen Filmemacher Jani Leinonen, der als Jurymitglied hier sein hätte sollen, aber leider kurzfristig erkrankt ist. Er hat die „School of Disobedience“ gegründet, in der er Kindern das Hinterfragen lehren möchte. Beispielsweise indem er die Botschaften von Markenprodukten, die jeder kennt, beispielsweise Kellogg’s, verfremdet. Damit verfolgt er natürlich ein größeres gesellschaftliches Ziel, indem er versucht bestimmte Mechanismen und Strategien zu entlarven. In diesem Zusammenhang hat er auch ein Ausstellungskonzept erarbeitet. DOK Leipzig hat „Disobedience“ in etwas abgewandelter Form zum Motto auserkoren und in allen möglichen Sektionen geschaut, was es  an Widerständigem, Aufmüpfigem, Unkonventionellem gibt. Bill Morrison war wirklich einer der ersten Namen, der uns dabei in den Kopf schoss. André Eckardt, der in der Auswahlkommission des DOK Leipzig ist, hat sich als Erster Gedanken darüber gemacht, was in so eine Schau reingehört und sich früh auf Decasia von Bill Morrison festgelegt. Mit diesem Film im Hinterkopf und seinem sehr einfallsreichen Umgang mit dem Material Film haben wir dann noch rundherum drei Filmprogramme zusammengestellt, die alle auf andere Weise „ungehorsam“ sind. Ausgehend von Morrison war es dann natürlich naheliegend, andere Arbeiten, die mit der direkten Bearbeitung des Filmstreifens spielen mit einzubeziehen.

RK: Und dann gab es auch noch die Möglichkeit, dass Bill Morrison selbst zum Festival kommt?

IS: Ja, es hat uns enorm gefreut, dass er zugesagt hat selbst herzukommen, als Jurymitglied und auch eine Masterclass hält. Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass Regisseure kommen und über ihre Filme sprechen.

RK: Ich habe gestern schon erwähnt, dass mich das Programm „Reworking the Image“ sehr nachhaltig beeindruckt hat, ich würde da gern noch ein bisschen darüber sprechen. Ich beschäftige mich sehr viel mit Fragen der Materialität und der Vorführung. In dem Programm liefen Filme, die eigentlich nur Sinn machen, wenn sie im Ursprungsmedium gezeigt werden – Tscherkassky ist da wahrscheinlich das beste Beispiel. Was mir auch sehr gut gefallen hat, war diese Evolution bis hin zu den digitalen Formen, die dann in gewisser Weise ähnlich mit ihrem „Material“ umgehen, und die zeigen, dass es eine Form von Materialität im Digitalen geben kann. Könntest Du vielleicht darüber sprechen, wie du vorschlagen würdest das Programm zu lesen – eine Art Lektüreschlüssel? Wo waren die Ansatzpunkte, die für dich entscheidend waren in der Zusammenstellung?

IS: Das Programm hätte natürlich genauso gut dreiteilig sein können. Es gibt ja wirklich viele Filme und Filmemacher, die sich mit dem Filmstreifen auseinandergesetzt haben. Mir war bewusst, dass zumindest ein Klassiker des direkten Arbeitens am Filmstreifen dabei sein muss, da habe ich mich für Len Lye entschieden, der in den 30er Jahren ein Vorreiter war…

RK: …eine gute Wahl.

IS: Ich habe mich schließlich dazu entschlossen, Trade Tattoo von ihm ins Programm aufzunehmen, einer seiner Filme für die G.P.O. Film Unit, eine Art Imagefilm, dem er eine besondere Sinnlichkeit verliehen hat. Ein zweiter Ausgangspunkt war die Tatsache, dass DOK Leipzig Dokumentar- und Animationsfilm vereint. Deshalb finden sich im Programm Story of the Unknown Soldier von Henri Storck und Germany Calling von Charles Ridley, wo wir Dokumentaraufnahmen aus den 30ern und 40ern sehen, die dann geschickt umgearbeitet worden sind: Bei Germany Calling hat Ridley brisantes Filmmaterial von NS-Aufmärschen mit dem Lambeth Walk, einem berühmten Tanzstil dieser Zeit, zusammengeführt. Aus heutiger Sicht wirkt das ganz unterhaltsam, aber damals hat das deutlich mehr geknistert. Sehr witzig finde ich auch Negative Man, der ernste Aufklärung zum Thema hat, aber sie ganz der Lächerlichkeit preisgibt.

RK: Mich hat der Film an diese Kritzeleien erinnert, die man als Kind macht, wenn man in Zeitschriften blättert und irgendwelche Werbungen mit Bärten, Hörnern, etc. „verschönert“. Gleichzeitig spricht der Mann im Film über Rhetoriktipps für Manager.

IS: Genau. So ähnlich ist es auch bei Removed, diesem 70er Jahre-Pornofilm, aus dem die weiblichen Protagonistinnen mit Nagellackentferner rausgeätzt wurden. Damit wird dieses Genre an sich, und vor allem seine männlichen „Helden“, der Lächerlichkeit preisgegeben. Es geht in diesen Filmen auch um Haptik, um die Sinnlichkeit der Arbeitsweise, das sollte man immer im Hinterkopf behalten. Auf der anderen Seite ist auch #47 von José Miguel Biscaya für mich ein ganz gefühlvoller Film, ein ästhetisch toller Film, der auch ein bisschen der Annahme gegensteuert, dass mit dem Digitalen gar keine solche Form von Sinnlichkeit möglich ist.

#47 von José Miguel Biscaya

#47 von José Miguel Biscaya

RK: Man erkennt dann ja immer in solchen Programmen gewisse Nähen, auf die man sonst gar nicht draufkommt. Nimmt man Bill Morrisons Arbeiten mit dem verfallenden Filmmaterial noch zu diesem Programm hinzu, dann zeigen sich Überschneidungen zwischen solchen Filmen und jenen Arbeiten, die mit Datamosh oder mit Kopierschutz arbeiten, die das Bild verzerren. Da offenbart sich einerseits eine ganz ähnliche Bildsprache und andererseits eine ähnliche künstlerische Haltung dem Ausgangsmaterial gegenüber. Sie zeigen die Verfallserscheinungen dieses digitalen „Dings“, das auch eine Haptik entwickelt, wenn man das beim Digitalen überhaupt so sagen kann.

IS: Ja, das stimmt. Und zum anderen thematisieren all diese Filme in gewisser Weise die Vergänglichkeit des Seins. Das hängt wiederum mit Fragen der Archivierung zusammen, wie sie Bill Morrison auch ausgeführt hat. Während man vor einigen Jahren noch dachte, mit digitalen Speichermedien eine endgültige Lösung gefunden zu haben, sind wir längst über diesen Punkt hinweg und stellen fest, dass unter Umständen das Filmmaterial, wenn es richtig gelagert wird, eine sehr lange Haltbarkeit aufweist, während im digitalen Bereich noch sehr offen ist, wie lange die Pixel an der gleichen Stelle bleiben…

RK: …und ob man sie dann überhaupt noch lesen kann, wenn man das vorhat.

IS: Bill Morrison hat jetzt einen Teil seiner Filme unter sehr guten Archivbedingungen gelagert. Er weiß, es ist gesichert, dass sein Filmmaterial ihn selber überleben wird, und er hat auch darauf hingewiesen, dass es möglich sein wird, dass in Jahrhunderten eine Filmrolle gefunden wird, und die Leute, die das finden werden, eine ziemlich klare Vorstellung davon haben, wie das einmal gedacht war. Man sieht die Einzelbilder, und man versteht, welche Art von Prinzip man braucht, um die zum Laufen zu bringen. Mit digitalen Programmen verhält es sich anders, weil die sich so dermaßen schnell ändern – schon nach einem Upgrade von Windows 7 auf 10 braucht man eine gewisse Einarbeitungszeit. Das war für mich ein schlagendes Argument.

RK: Die eine Sache, die mir auch noch imponiert hat an dem Programm, war, dass tatsächlich noch einige Filme analog projiziert wurden, was für Filmfestivals mittlerweile sehr beachtlich ist. Was muss man tun, damit so etwas überhaupt noch passiert in der heutigen Welt?

IS: Aus wessen Sicht?

RK: Aus deiner Sicht, wenn du sagst, du möchtest diese Filme zeigen, muss man dann die Direktorin bestechen?

IS: Das kommt immer sehr auf die Personen an, die das Festival organisieren. Also Bill Morrison, den können wir jetzt eigentlich pausenlos zitieren, hat es gut auf den Punkt gebracht. Er wurde in seiner Masterclass auch gefragt, wie wichtig für ihn das Vorführmaterial ist, und da hat er gesagt, dass er noch zwei 35mm-Kopien von Decasia besitzt und eben auch die Files; und die Festivals wollen fast immer die Files. So einfach ist es. Das hat natürlich auch die Vorteile, z.B. im Transport. Man spart gerade interkontinental viel Geld. Da er aus finanziellen Gründen auch nicht häufig neue 35mm-Kopien ziehen könnte, gibt er auch gerne die DCP raus, wenn ein Festival das gerne hätte. Viele Filmemacher erstellen unter anderem wegen der Vertriebsstrukturen und Budgets DCPs von ihren Filmen, um heutzutage überhaupt gezeigt werden zu können, weil zum Beispiel 16mm-Projektoren auch nicht mehr in jeder Stadt an jeder Ecke zu finden sind. Unserer hier zum Beispiel ist am Dienstagvormittag zusammengebrochen, und dann haben die Technikverantwortlichen tatsächlich noch einen zweiten organisieren können. Ein bisschen lichtschwächer war der, war aber trotzdem eine gute Vorstellung.

RK: Ich meine, es ist auf einer gewissen Ebene schon nachvollziehbar, wenn man sich diesen Aufwand und diese Kosten erspart, noch dazu, weil viele, gerade kleinere, Festivals ohnehin von der Selbstausbeutung ihrer Mitarbeiter leben, aber ich finde es gut, dass dann doch immer noch diese Entscheidungen zugunsten der analogen Projektion getroffen werden oder dass es zumindest ein Bewusstsein dafür gibt, dass es anders sein sollte. Um jetzt noch einmal die Kurve zu kriegen von dieser Thematik zum Programm. Mich würde noch eines interessieren: das DOK Leipzig bezeichnet sich ja selbst als Dokumentar- und Animationsfilmfestival, aber gerade in den Programmen, die du zusammengestellt hast, sind viele Filme drinnen, die meinem Gefühl nach diese Kategorisierungen sehr weit dehnen. Wie steht es mit der Offenheit mit diesen Formen beim Festival und was hast Du dir dabei gedacht, Filme wie Outer Space oder auch Decasia hier zu programmieren.

IS: Es ist denk ich ein Trend der letzten Jahre, dass sich die Grenzen zwischen diesen einzelnen Kategorien auflösen. Gerade zwischen Experimental- und Animationsfilm ist das  eine ganz offene Sache. Wie gesagt, dokumentarische Grundlagen, die dann doch eine Art von Animation erfahren, wie eben Germany Calling, wollte ich gern zeigen, um die Struktur des DOK Leipzig widerzuspiegeln. Aber diese Diskussion über Genregrenzen, die mehr oder weniger weiterexistieren, ist sehr rege innerhalb der Festivallandschaft. Das zieht sich dann bis zu den Preisen, die man vergibt, wo man gucken muss, ob da überhaupt die Kategorien noch stimmen. Prinzipiell ist das DOK Leipzig in diesen Fragen sehr offen.

RK: Damit sind meine Fragen beantwortet, danke für das Gespräch.