Berlinale 2016: …und dann bye bye

Jahrgang 45 von Jürgen Böttcher
  • Nicht allen vierhundert Filmen, die dieses Jahr auf der Berlinale gezeigt wurden, wird gleich viel Aufmerksamkeit zuteil. So kommt es, dass in den Tiefen der Programmsektion Berlinale Classics eine absolute Rarität quasi fernab des Medieninteresses gezeigt wurde. The Road Back von James Whale war das erste Mal in der vorliegenden Version in Europa zu sehen. Basierend auf Erich Maria Remarques Fortsetzung seines Bestsellers Im Westen nichts Neues, erzählt The Road Back von den letzten Kriegstagen des Ersten Weltkriegs und dem Schicksal der Kriegsheimkehrer in ihrer Heimatstadt. Da Nazi-Deutschland vehement gegen die Produktion des Films opponierte, ruderte Universal schließlich zurück und ließ eine Alternativversion ganz ohne den pazifistischen Grundton anfertigen. Die ursprüngliche Fassung des Films galt daraufhin jahrzehntelang als verschollen bis David Stenn sie im Archiv der Universal Studios wiederentdeckt hat. Während sich die deutsche Kulturpolitik gerne bei Gala-Premieren von Metropolis oder Das Cabinet des Dr. Caligari selbst auf die Schultern klopft, überlässt man einer sensationellen Entdeckung wie The Road Back (der zugegebenermaßen filmisch nicht über alle Zweifel erhaben ist) in einer Nebenschiene seinem Schicksal – auch das sagt einiges über deutsche Archivpolitik aus.
  • Endlich habe ich Jürgen Böttchers Jahrgang 45 gesehen, den ich bisher bei diversen Gelegenheiten verpasst habe. Jahrgang 45 ist einer jener DEFA-Filme, die nach dem berüchtigten 11. Plenum des ZK von der Zensur verboten wurde und nur in einer arg verstümmelten Version ins Kino kam, und das obwohl der Film ohne große politische Botschaften auskommt. Es reicht, die alltäglichen Sorgen, Zweifel und Wünsche einer jungen Generation zu zeigen, die sich nicht mit Mittelmaß zufrieden geben und aus den strengen Bahnen der parteilichen Planung ausbrechen will. Es ist bezeichnend für die Widersprüchlichkeit der DDR, dass in einem politischen System, das sich nach Eigendefinition dem Sozialrealismus als künstlerischer Ausdrucksform verschrieben hat, ein Film der die soziale Realität so unmittelbar behandelt wie Jahrgang 45, mit Zensur zu kämpfen hatte. Ein großer Film, über die Schwierigkeiten sich selbst zu finden, der gleichzeitig universelle Aussagen macht und an einen spezifischen Ort und eine spezifische Zeit gebunden ist.
The Road Back von James Whale

The Road Back von James Whale

  • Wir leben in einer absurden Welt, in der Gianfranco Rosi bereits auf zwei A-Festivals Hauptpreise gewonnen hat.
  • Ich verlasse den Kinosaal, um in den Tag zurückzukehren, der mittlerweile zur Nacht geworden ist. Malgré la nuit von Philippe Grandrieux ist der letzte Film, den ich am Abschlusstag der Berlinale sehe. Das Festival endet also mit der Woche der Kritik, die parallel zur Berlinale stattgefunden hatte und an diesem Sonntag all ihre Filmprogramme noch einmal zeigt. Malgré la nuit ist eine außergewöhnliche Erfahrung: in abgedunkelten Räumen, in gleißendem Licht werden Körper aus Fleisch und Blut greifbar und fühlbar. Das Licht und die Dunkelheit, die sexuelle Spannung, die pulsierende Bilderflut. Im Taumel dieser Eindrücke spaziere ich durch den leichten Regen zur nächsten U-Bahnstation; auf den Straßenbahnschienen reflektiert das Licht der Straßenbeleuchtungen. Wie immer ist es ein Ende mit gemischten Gefühlen: die Melancholie nach den langen Tagen und das Abfallen der Spannung und Anstrengung.

Berlinale 2016: Passion und Sinnlichkeit

Der Brief von Vlado Kristl
  • Wenn man in Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert hat, kommt man an Vlado Kristl nicht vorbei. Wenig verwunderlich also, dass es mich zu einem der raren Screenings seiner Filme im Rahmen der Retrospektive verschlug: Der Brief ist ein wilder, erratischer Galopp, der weder an der Filmindustrie, noch am kleinbürgerlichen Leben in Deutschland ein gutes Haar lässt. Zwar entwickelt sich der Film mit zunehmender Dauer zu einer Geduldsprobe – so viel Verfremdung muss man erstmal verarbeiten –, dass ein Langfilm in dieser Form überhaupt entstehen konnte, sagt jedoch einiges über die Möglichkeiten in der damaligen Produktionslandschaft in Deutschland aus: Der Brief ist in dieser Hinsicht das Epizentrum der diesjährigen Retrospektive.
  • Nachdem Michael Moore sich über die Jahre als wütender Mann etabliert hat, der in seinen Filmen auf die sozialen, politischen und ökonomischen Missstände in seinem Heimatland hinweist – und das auf sehr brachiale Weise –, so hat er mit Where to Invade Next die übertriebene Schwarzmalerei mit naiver Begeisterung ersetzt. Er bleibt laut, einseitig und betreibt weiter gnadenlose Selbstinszenierung während er durch Europa zieht, um dort gute politische Ideen zu „erobern“. Man kommt mit dem Kopfschütteln gar nicht hinterher, wenn man den Film sieht oder darüber nachdenkt. Trotz allem frage ich mich, ob Moore vielleicht in einigen Jahrzehnten nicht einer Re-Evaluation unterzogen werden könnte. Er ist zwar ein Propagandist mit einer eindeutigen politischen Agenda, der keinen Raum lässt für kritische Reflexion seines Gegenstands, aber damit wäre er kein Einzelfall im filmgeschichtlichen Kanon. Es wird sich weisen, ob man mit etwas zeitlichem Abstand von den brachialen, direkten Botschaften abstrahieren wird können. In zumindest drei Punkten scheint mir ein Potenzial in Moores Filmen zu stecken, das womöglich unter der aufgeblasenen Kunstfigur des Regisseurs und seiner allzu eindeutigen politischen Agenda verschüttet ist: Erstens artikuliert er sein politisches Programm zwar überdeutlich, aber aus moralischer Sicht scheint es mir über viele Zweifel erhaben – die Welt, die Moore anstrebt, ist eine bessere Welt. Zweitens ist er ein berechnender Filmemacher, der seine Inhalte sehr effektiv an den Mann bringt, indem er Polemik und Komik auf eindrucksvolle Weise miteinander verbindet. Kurz, Moore ist ein exzellenter Drehbuchautor. Drittens, und quasi die Synthese aus den beiden vorherigen Punkten: Die Kombination aus persönlichem Engagement und handwerklichem Geschick erzeugt eine Energie, die seine Filme ungefiltert an das Publikum weitergeben. Für den Moment materialisiert sich diese Energie in fragwürdigen polemischen Parolen, aber wer weiß, ob sich mit einigem Abstand nicht eine andere Lesart von Moores Filmen ergeben könnte.
A Road von Daichi Sugimoto

A Road von Daichi Sugimoto

  • Japan ist mir sehr fremd. Japanische Filme haben für mich zumeist exotischen Wert, indem sie mich mit dieser anderen Kultur und ihren kryptischen Verhaltensmustern konfrontieren. Ich schätze diesen ungewohnten Blick, diese fremde Sensibilität sehr; A Road vereint diese Eigenschaften mit etwas Vertrautem. Ich spüre hier Figuren und eine Welt, die doch nicht so weit entfernt von meiner zu sein scheint, eine Coming-of-age-Sensibilität, mit der ich mich identifizieren kann. Das liegt vielleicht an der persönlichen Herangehensweise von Regisseur Daichi Sugimoto, der einen Abschnitt seines eigenen Lebens verfilmt, der an und für sich gar nicht besonders außergewöhnlich zu sein scheint. Sugimoto, der sich im Film selbst spielt lässt die Ereignisse rund um seine Aufnahmeprüfung an der Filmschule Revue passieren und schafft damit ein eindringliches Porträt zwischen Fiktionalisierung und Re-Enactment.
  • Noch immer bin ich auf der Suche nach Anekdoten: Es scheint, dass die klinische und hektische Atmosphäre rund um den wenig einladenden Potsdamer Platz jegliche Form von unfreiwilliger Komik unterbindet. Ebenso frustrierend: Nach Hälfte des Festivals gab es zudem keine Festivaltaschen mehr.

Berlinale 2016: Love Diaz

El Buzo von Esteban Arrangoiz
  • Bevor ich einige Worte über den neuen Film von Lav Diaz verliere, noch ein paar kurze Bemerkungen zum Kurzfilmprogramm „Berlinale Shorts I“, das mit einer erstaunlich hohen Trefferquote an guten Filmen aufwartete. Drei der fünf Filme des Programms scheinen mir besonders erwähnenswert: Zum einen Siegfried A. Fruhaus Vintage Print, der in bester Flickerfilm-Tradition die Netzhäute des Publikums an ihre Leistungsgrenzen bringt (es ist meist ein gutes Zeichen, wenn ein Film im Programm mit Epilepsiewarnung angekündigt wird); zum anderen Ben Russells He Who Eats Children, der sich spielerisch mit einer lokalen Legende eines afrikanischen Dorfs auseinandersetzt. Dort wird ein weißer Mann bezichtigt Kinder zu essen und Russell begibt sich halb investigativ, halb augenzwinkernd mit ethnografischem Blick auf die Suche nach dem Ursprung dieses Mythos; zuletzt konnte mich Esteban Arrangoiz‘ El Buzo überzeugen. Der Film folgt dem Arbeitstag eines Tauchers, der in Mexiko City für die Wartung von Abwasserkanälen zuständig ist und vereint dabei erfrischende Neugier, eine gesunde Portion Komik und formale Experimentierfreude.
Hele Sa Hiwagang Hapis von Lav Diaz

Hele Sa Hiwagang Hapis von Lav Diaz

  • Hele Sa Hiwagang Hapis ist ein Koloss, soviel ist sicher, und das nicht nur wegen seiner acht Stunden Laufzeit. Es dauert sicher noch einige Zeit, bis ich den Film vollständig verarbeitet habe, aber zweifellos zählt er zu den besten Filmen des Festivals und schon jetzt zu einem der Highlights des aktuellen Kinojahres. Unfassbar was Diaz aus den Möglichkeiten der digitalen Bilderproduktion herausholt. Diese hat bekanntlich Schwierigkeiten in der Darstellung von Grauabstufungen und von tiefschwarzen Tönen, doch Hele Sa Hiwagang Hapis widersetzt sich dieser Feststellung. Die sorgsam komponierten Bilder übertragen die Farben des Dschungels in zahllose Nuancen zwischen Weiß und Schwarz, üppiges Blätterwerk lässt die Tableaus zu Bilderrätseln werden, mal neigen sie zur zweidimensionalen Flächigkeit, mal konstruiert Diaz durch elaborierte Belichtung des Bildhintergrunds vielschichtige, dreidimensionale Räume. All das ist kein plumper Ästhetizismus, sondern entspringt dem Umgang mit den lokalen Begebenheiten und der speziellen Inszenierungsweise von Diaz. In gewohnt langen, gemächlichen Einstellungen erzählt Hele Sa Hiwagang Hapis von der Philippinischen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei konzentriert er sich nicht auf die Helden des Aufstands selbst, sondern beschäftigt sich mit der Frage, wie es weitergeht, wenn die Revolution und ihre Kinder niedergeschlagen sind. Die Witwe des Revolutionsführers Andres Bonifacio begibt sich auf die Suche nach dessen Leichnam, das letzte Gedicht des Vordenkers José Rizal wird zur Inspiration für den jungen Intellektuellen Isagani. Man verbringt sehr lange Zeit mit diesen Figuren und ihren Geschichten, wenn die Dauer eines ermöglicht, dann ist es ein Gefühl der Zugehörigkeit. Nach acht Stunden will man das es einfach weitergeht, wie auch das Leben einfach weitergeht, danach über den Film zu schreiben macht ein Überwinden des Trennungsschmerzes unmöglich: Hele Sa Hiwagang Hapis ist ein Film der tiefe Wunden schlägt.
    Einziger Wermutstropfen: Die Untertitel hätte man nochmal Korrekturlesen sollen.
  • Nach Diaz war noch nicht Feierabend für mich: Volker Koepp zählt zur langen Liste von DEFA-Alumni, die sich vor allem in jener filmischen Form hervorgetan haben, die man gemeinhin als dokumentarisch bezeichnet. In minutiösen Studien hat er sich vor allem kinematografisch vernachlässigten Gebieten Deutschlands gewidmet. Für Landstück hat er sich zum bereits dritten Mal in seiner Karriere in die Uckermark begeben, einer landwirtschaftlich geprägten Region nordöstlich von Berlin. Das Hauptanliegen des Films scheint es zu sein, sich für ökologische Landwirtschaft starkzumachen und auf die Gefahren des Artensterbens hinzuweisen. Gerade noch so kratzt Koepp die Kurve, um nicht vollends zur Öko-Predigt und Glorifizierung von Aussteigertum abzukippen, insgesamt sind die anderen Aspekte des Films ohnehin interessanter: einerseits die Interviews mit einer Runde älterer Damen, die die landwirtschaftliche Entwicklungsgeschichte der Gegend beschreiben und andererseits die ausgiebigen Landschaftsaufnahmen, die als Einschübe rein ihrem ästhetischen Selbstzweck dienen.

Berlinale 2016: Warten auf Lav

Safe Disassembly von Andreas Bunte
  • Der Tag beginn mit Schlangestehen, denn es galt Tickets für die Vorstellung vom neuen Lav Diaz Film Hele Sa Hiwagang Hapis zu ergattern – dafür wagt man sich gerne übermüdet in die kalte Berliner Morgenluft.
  • Endlich habe ich es auch in die Retrospektive geschafft, nicht einmal der sperrige Titel „Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West“ konnte mich davon abhalten. Die Hauptvorführstätte der Retrospektive ist das Zeughauskino und obwohl das Programm, das ich besuchte in einem der angemieteten Multiplexkinos stattfand, war eine Anpassung des Altersdurchschnitts auf übliches Zeughausniveau (Generation Geriatrie) zu beobachten. Zu sehen gab es ein Kuriosum des Deutschen Films der Sechzigerjahre und eine frühe Stilübung von Roland Klick. Unter dem Programmtitel „Drifters and Searchers“ wurde zunächst Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard gezeigt (das oben erwähnte Kuriosum), ein rund zwanzigminütiger Film mit einem blutjungen Klaus Wyborny in der Hauptrolle. Eine wahnwitzige Roadmovie-Variation, die vor Referenzen auf die Popkultur und die Filmgeschichte („Dieses Auto ist Jean Vigo gewidmet“) nur so strotzt. Wybornys Ole will eigentlich von Hamburg aus die Welt erobern und nicht zuletzt vor der politischen Stimmung im Land fliehen. Sein Weg führt in aber nur bis Lüneburg und schon nach kurzer Zeit kehrt er zurück: Eine absurde Miniatur, die auch aus der Feder eines Surrealisten stammen könnte.
    Roland Klicks halblanger Film Jimmy Orpheus setzt ebenfalls einen Streuner ins Zentrum der Handlung. Jimmy ist ein Tagelöhner und Nichtsnutz (im Englischen würde man ihn wohl als „Hustler“ bezeichnen), der sich im Hafenviertel Hamburgs auf der Suche nach einem Schlafplatz versucht an eine Frau heranzumachen (Auffallend die inhaltliche Nähe zu Fritz Kirchhoffs Nur eine Nacht von 1950, der ebenfalls in Hamburg spielt und einen halbwegs heruntergekommenen Mann einer Dame nachjagen lässt). Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mann und Frau versetzt Klick mit Elementen des Genrekinos und avantgardistischen Techniken, wie sie die Nouvelle Vague popularisiert hat.
Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard

Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard

  • Ta’ang von Wang Bing zählt mit knapp zweieinhalb Stunden gleichzeitig zu den längeren Filmen im Programm der Berlinale und zu den kürzeren Arbeiten des Regisseurs. In Zeiten, in denen europäische Medien Völkerwanderungen herbeibeschwören, begleitet Wang verschiedene Flüchtlingsgruppen aus dem Volk der Ta’ang die in Myanmar an der Grenze zu China beheimatet sind. Wegen bewaffneter Konflikte in dieser Region sind in den letzten Jahren rund 100.000 Menschen über die Grenze geflohen und leben in improvisierten Flüchtlingslagern oder schlagen sich als unterbezahlte Hilfsarbeiter durch. Kurz, es gibt auch außerhalb Europas Krisenregionen in denen Menschen flüchten. Es gibt sogar sehr viele von ihnen (weit mehr als in Europa) und sie leben unter teils katastrophalen Umständen. Beeindruckend, dass diese Menschen selbst in diesem Lebensumfeld versuchen eine Art von Alltag zu etablieren. Das Dröhnen der Artillerie wird zum ständigen Begleiter, die improvisierten Gemeinschaftsessen am Lagerfeuer werden zum gesellschaftlichen Ereignis. Wang wird mit seiner Kamera Teil dieser Zweckgemeinschaft, was ihm erlaubt sich von der Makroebene zu lösen und den Konflikt aus der Perspektive individueller Schicksale zu zeigen. Es wird deutlich, dass diese Menschen zum Spielball größerer Interessen geworden sind, die sie nicht verstehen – so wird im Film gar nicht klar, wer überhaupt gegen wen kämpft und warum.
  • Ein Nachtrag zur Forum Expanded Ausstellung in der Akademie der Künste: Nach längerer Überlegung habe ich beschlossen auch Andreas Buntes Safe Disassembly ein paar Zeilen zu widmen. Ganz ohne Kommentar, weder in Wort, noch in Schrift, besucht Bunte eine ehemalige Munitionsfabrik in Ostdeutschland, die vor einigen Jahren zu einem Abrüstwerk umfunktioniert wurde. Eine norwegische Firma sorgt dort nun für die fachgerechte Entsorgung von verbotener Streumunition. Ohne Vorwissen lässt sich das jedoch nur erahnen. Die Arbeit der Maschinen (im gesamten Film kommt nur ein menschlicher Arbeiter vor) widersetzt sich der einfachen Deutung – werden hier Waffen gefertigt oder zerstört? – stetig und mechanisch folgt ein Arbeitsschritt auf den anderen und ebenso stetig und mechanisch richtet Bunte seine Kamera auf die vollautomatisierten Prozesse. Es ist eine seltene Qualität nicht nur keine Antworten zu geben, sondern sich darüber hinaus so vehement jeder Fragestellung zu entziehen.

Berlinale 2016: Traum und Wirklichkeit

Die Geträumten von Ruth Beckermann
  • Zurecht hatte ich große Erwartungen an Ruth Beckermanns Die Geträumten. Der Film ist ein kühnes Projekt: die filmische Begleitung zweier Sprecher, die im Studio den Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann aufnehmen. Beckermann, die in erster Linie für ihre investigativen Reisefilme bekannt ist, in denen sie sich auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit macht, verlässt für Die Geträumten nie die Räumlichkeiten des Radiokulturhaus im vierten Wiener Gemeindebezirk. Was die beiden Dichter verbindet wird nie expliziert, es wird aber sehr deutlich, dass sie sich zeitlebens zueinander hingezogen fühlten – selbst als sie beide in Beziehungen mit anderen lebten. Sie waren füreinander Bezugs- und Vertrauenspersonen, in guten Momenten fühlten sie sich zutiefst verbunden, in schlechten taten sich abgrundtiefe Risse zwischen ihnen auf. Das alles vermag Beckermann rein durch die Aufnahmen der Schauspieler zu evozieren, die im Studio ihre Texte einsprechen. Sie werden sichtlich mitgenommen von der Arbeit an und mit den feingewobenen Texten; durch ihre Augen blicken wir sechzig Jahre zurück in die Zeit und spüren den ganzen Schmerz und die ganze Wärme, die in der Beziehung zwischen Celan und Bachmann miteinander ringen. Diese Unmittelbarkeit ist schwierig zu verdauen, selten hat mich ein Film so bewegt wie diese Lesestunde, die mit einfachsten Mitteln maximale Wirkung erzielt. Mit Die Geträumten hat Beckermann brennende, poetische Energie auf die Leinwand gebracht. Haneke, Seidl, Spielmann und wie sie alle heißen zum Trotz, Ruth Beckermann ist für mich die größte unter den aktiven österreichischen Regisseuren.
  • So etwas wie eine Anekdote: Es kommt ja mitunter vor, dass von Kinogängern gefragt wird, ob ein Platz, der mit einer Jacke oder Tasche belegt ist noch frei sei. Zum ersten Mal habe ich aber gestern im Zoo Palast beobachten können, dass gefragt wurde, ob ein Platz frei sei, auf dem bereits eine Frau gesessen ist. Das passierte der Frau gleich zwei mal: The Thing und Mr. Fantastic waren allerdings nirgends zu sehen.
Posto avançado do progresso von Hugo Vieira da Silva

Posto avançado do progresso von Hugo Vieira da Silva

  • Crosscurrents von Yang Chao ist einer jener Filme gegen dessen einzelne Bausteine man nichts auszusetzen hat, der aber im Zusammenspiel seiner Teilstücke nicht aufgeht. Der Film folgt dem Bootsmann Chun, der mit seinem Lastkahn den Jangtse flußaufwärts schifft um eine Fracht abzuliefern – und dem Fantasma einer Liebe hinterher. Dabei schwankt der Film zwischen Mystifizierung (was von chinesischen Zensoren bekanntlich nur ungern gesehen wird) und Erklärungswut, zwischen nüchternem Naturalismus und träumerischer Poetik, touristischem Werbefilm und verrosteten Frachtern. Schön anzusehen, in seinen besten Momenten durchaus profund, aber leider ebenso unausgegoren und inkonsequent.
  • Zwei Männer in strahlend weißen Kolonialuniformen, die engelsgleich luminiszieren; im Hintergrund nur tropische Vegetation; die Kamera entfernt sich (das Boot auf dem sie sich befindet legt ab), lässt die beiden auf einem Steg zurück; verlorene Boten der Zivilisation in der Wildnis. Das Ziel der beiden Portugiesen ist ein abgelegener Handelsposten im tiefem Dschungel Kongos, wo sie Elfenbein beschaffen sollen, aber ihre eigentliche Aufgabe wird bald zur Nebensache, denn Posto avançado do progresso von Hugo Vieira da Silva ist die Verfilmung von Joseph Conrads An Outpost of Progress und dergestalt mehr tropischer Fiebertraum als koloniales Abenteuer. Treffend übersetzt Vieira da Silva die erdrückende Schwüle in Kinobilder, entzieht den kräftigen Farben des Urwalds jegliche Vitalkraft, indem er sie durch einen feinen Dunstschleier filmt. Dieser Nebel aus Wasserdampf ist nicht bloß Naturphänomen, sondern auch Ausdruck der geistigen Illumination der beiden Kolonialbeamten, die dem Wetter und dem guten Willen ihrer servilen Bediensteten ausgeliefert sind. Sie sind Fremdkörper, die in leuchtendem weiß erstrahlen und langsam dem Wahnsinn anheim fallen – Colonel Kurtz und Kaspar Almayer lassen grüßen. Tatsächlich ist Posto avançado do progresso auf seine Art ein würdiger Nachfahre von Apocalypse Now und La folie Almayer (auch wenn es mir unmöglich erscheint einen direkten Vergleich zwischen diesen Filmen zu ziehen).

Berlinale 2016: Eine göttliche Komödie

A Quiet Passion von Terence Davies
  • Eigentlich wollte ich hier auch lustige Anekdoten einstreuen. Leider hat sich noch nichts Nennenswertes ereignet. Alles ist wunderbar geordnet, stramm organisiert und Riesenwaffeln gibt es auch keine.
  • Was ist von Mia Hansen-Løves L’avenir zu halten? Zum einen darf man kritisch anmerken, dass das Milieu der bürgerlichen Philosophieprofessoren bereits abgegrast ist, zum anderen hat man die Figuren, die sich in dieser Welt tummeln selten so körperlich und intim kennengelernt. Es ist die Unmittelbarkeit der Bilder einer Kamera, die sich forschend um die Figuren bewegt ohne aufdringlich zu werden. Im Zentrum steht Isabelle Hupperts bleiche, und leicht ausgemergelte Nathalie, die nach jahrzehntelanger Ehe von ihrem Mann verlassen wird und daraufhin versucht, neu Fuß zu fassen. Wie in einer verdrehten Coming-of-age-Geschichte wird sie sich ihrer neuen Freiheit bewusst, es gelingt ihr aber nicht so recht ihre Energie zu kanalisieren; mit politischen Utopien hat sie abgeschlossen (ehemals überzeugte Kommunistin ist sie zur Reaktionären geworden); der Bedarf an neuen philosophischen Lehrbüchern ist überschaubar. Mia Hansen-Løves Filmographie des Scheiterns ist um einen Eintrag reicher, weiß seine Bitterkeit aber gut unter einem Schleier aus Intellektualismus und Naturaufnahmen zu verbergen. Fast könnte man sich den Film in einer Sonntagsmatinee für frankophile Pensionisten vorstellen, doch dafür fehlt L’avenir zum Glück der nostalgische Pathos, denn das Ende krönt kein Feuerwerk, sondern das Leben geht einfach weiter.
Continuity von Omer Fast

Continuity von Omer Fast

  • Wer hätte gedacht, dass das erste Festivalhighlight ein deutscher Film ist? Continuity von Omer Fast entstand ursprünglich für die documenta 13, Fast hat die ursprüngliche Arbeit, die aus drei geloopten Segmenten bestand, nun jedoch neu geschnitten und um einige neue Szenen erweitert. Der eineinhalbstündige Spielfilm, der daraus entstanden ist, lässt sich nur schwer beschreiben. Im Zentrum steht ein Paar in mittlerem Alter, dass in einer bürgerlichen Wohnsiedlung lebt. Ihr Sohn scheint in Afghanistan gefallen zu sein, die Mutter wirkt traumatisiert. Ein Anruf, eine Autofahrt, die beiden holen einen jungen Mann vom Bahnhof ab, der die Rolle des Sohns übernehmen soll. Dieser Versuchsaufbau wiederholt sich noch zwei Mal mit anderen Männern und endet jeweils mit einem gemeinsamen Abendessen und sexuellen Allusionen. Geht es den beiden mehr um inzestuöse Sexualfantasien als um einen Sohnersatz? Gab es überhaupt jemals einen Sohn? Konsequent gibt der Film seine Bedeutungshoheit ab: mit jeder Iteration nehmen die Interpretationsmöglichkeiten zu; (Alb-)Traumbilder korrumpieren die betont naturalistische Bildgestaltung; Zeit- und Fiktionsebenen verschwimmen. Fast unternimmt einen gefährlichen inszenatorischen Tanz, indem er die immersiven Wirkung des psychologischen Kammerspiels immer wieder durch distanzierende Momente unterbricht, Figuren und Handlungsfolgen quasi neu erfindet. Es bleibt schlussendlich dem Betrachter und dessen persönlichen Erfahrungen überlassen, wie er die zahllosen im Material veranlagten thematischen Allusionen gewichtet und welche chronologische und kausale Reihung er vornimmt. In jedem Fall sieht man im deutschen Kino selten so eine elliptische Vorstellung von Raum und Handlungsfolgen. Schade, dass der Film im Forum Expanded weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit läuft.
  • Mit Remainder hat Omer Fast noch einen zweiten Film im Programm, der aber leider weniger überzeugen kann. Remainder ist ein prätentiöser Film, wie man ihn sich von einem Überläufer aus dem Kunstbereich vorstellt. Das fängt bei der bedeutungsschwangeren Bildgestaltung an und endet mit der kühl-distanzierten Unnahbarkeit mit der die Figuren behandelt werden. Es sind Filme wie dieser, die dem Begriff „Kunstfilm“ seine pejorative Dimension geben: aufgesetzt, klinisch und konstruiert. Grundsätzlich ist durchaus positiv anzumerken, wenn ein Film sich einer einfachen Deutung widersetzt, Remainder macht das jedoch aus Berechnung, bleibt kryptisch, weil es das Drehbuchkonstrukt so vorsieht und nicht weil es sich aus der Notwendigkeit von Form und Inhalt so ergibt. Da hilft es auch nicht, dass der Film in seinen besseren Momenten an Charlie Kaufmans Synecdoche, New York erinnert und das Finale gekonnt inszeniert ist und für einiges an Spannung sorgt.
  • „Behave yourself, Emily!“ Das Leben im puristischen 19. Jahrhundert war eindeutig kein Zuckerschlecken. Das wissen wir aus einschlägigen Literaturverfilmungen und Biopics von Merchant-Ivory und Konsorten. Gestelzte Dialoge und bauschige Kostüme gehören in Filmen dieser Art ebenso zum guten Ton, wie die Bedrückung und Bitterkeit, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse entsteht. A Quiet Passion von Terence Davies spart nicht mit gestelzten Dialogen, bauschigen Kostümen und Bitterkeit, zählt aber dennoch (ein wenig überraschend) zu den besseren Filmen, die ich bisher gesehen habe. Das liegt zu großen Teilen an der grandiosen schauspielerischen Leistung von Cynthia Nixon, die Emily Dickinson verkörpert, deren stille Passion dem Film seinen Namen gibt. Nicht weniger bedeutend für die Wirkung des Films ist eine tonale Umkehrung erzählerischer Konventionen. Anders als verwandte Filme, die die tragischen Verhältnisse am Ende in einem Happy-End verpuffen lassen, gibt sich A Quiet Passion als bissige Komödie (der Kinosaal bog sich vor Lachen), um am Ende vollends in bitterernster Tragik aufzugehen. Emily altert und verhärmt, den Bildern wird die Farbe entzogen, die Lacher bleiben zunehmend im Halse stecken. So gesehen ist A Quiet Passion ein Film der Gegensätze, der seiner Protagonistin alle Ehre wert macht, zugleich fromme Gläubige und aufmüpfige Frevlerin, gefühlvolle Dichterin und eiseskalte Jungfer, selbstbewusst und von Selbstzweifeln zerfressen.