Das Kino ist ein fatales Spiel

Schon länger regt sich in mir die Frage, ob die Anwesenheit einer Filmkamera eher zu einer Lockerung der Realität beiträgt oder dadurch eine größere Ernsthaftigkeit einsetzt. Vereinbart man in Anwesenheit der Kamera einen Spielcharakter oder ist man im Angesicht dieses Instruments, das Unsichtbares sichtbar macht, ist man noch deutlich mehr in der Bedeutung, dem Sinn und der Sinnlichkeit dieser Realität verhaftet. Ich denke, dass die Lösung immer beides zugleich sein muss. Das Spiel führt letztlich zum Sinn und der Sinn fordert ein Spiel.

Immer wieder arbeiten Filmemacher mit unterschiedlichen Methoden, den Schauspielprozess sichtbar zu machen. Nehmen wir als Beispiel Cristi Puius Trois exercices d’interprétation, der eigentlich gar nicht als Film für die Öffentlichkeit gedacht war. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen filmgewordenen Schauspielworkshop. Drei Gruppen von Schauspielern probieren sich in einer zeitgenössischen Interpretation von Vladimir Solovyovs Three Conversations. Dabei kommen einige Elemente zum Vorschein, die das Schauspiel im modernen Kino definieren. So geht es um das Prinzip der Wiederholung, also das Sichtbarwerden der Arbeit am Schauspiel. Diese Wiederholung gleicher Textpassagen durch unterschiedliche Schauspieler, diese Variation macht uns zugleich auf die Bedeutung und die Möglichkeiten des Schauspiels aufmerksam. Wie ein Satz gesagt wird, hat enorme Relevanz. Der Filmemacher, der wohl am meisten an dieser Arbeit am Spiel gearbeitet hat, ist Jacques Rivette. In Filmen wie L’amour fou oder La Bande des quatre sehen wir immer wieder den Prozess des Spiels, die schmerzende Wiederholung, die Leere nach und von ausgesprochenen Texten, die Schwierigkeit eines Ausdruck, die Zweifel und die Alltäglichkeit im Umgang mit dieser Arbeit, die ein Spiel ist. In neuen Kontexten eröffnen sich neue Perspektiven auf den jeweiligen Text. Rivette verbindet dabei immer private Situationen seiner Figuren mit ihren Rollen im Film. Noch eine Stufe weiter damit ging John Cassavettes in seinem Opening Night, da dort Figuren, Rollen und tatsächliche Schauspieler in einen merkwürdigen Dialog treten.

L'amour fou von Jacques Rivette

L’amour fou von Jacques Rivette

Durch dieses Spiel mit dem Spiel wird also zugleich auf eine Meta-Ebene des Schauspiels verwiesen und diese Meta-Ebene durch eine Intimität gebrochen. Denn was wir jederzeit sehen, ist die Menschwerdung von Rollen, etwas Individuelles, Körperliches und Sinnliches dringt durch die gleichen oder ähnlichen Textpassagen und verändert deren Ton. Die Kamera erzeugt diese Intimität und zerstört sie zugleich. Es überrascht nicht, dass wir am Ende des Films genau mit dieser Frage konfrontiert werden von Puiu. Ist eine völlige Konzentration, eine völlige Intimität vor einer Kamera überhaupt möglich? Oder „spielen“ wir immerzu etwas, weil die Kamera Konsequenzen hat? Die Angst vor dem Sichtbarmachen greift um sich und das liegt nicht daran, dass die Kamera Intimität zerstört, sondern daran dass sie Intimität erhöht. Man denkt an das frühe Kino oder direct cinema und die Interaktion von Passanten mit der Kamera, man denkt an dieses ewige Posieren. Daran liegt es vielleicht auch, dass mir Dokumentationen, in denen die Protagonisten zumindest ab und an in die Kamera blicken logischer vorkommen als solche, in denen man sich verkrampft darum bemüht, dass es keinen Kamerablick gibt. Wozu? Um die Fiktion zu wahren? Wenn man sich beispielsweise Raymond Depardons Faits divers ansieht, wird man immer wieder kurze Interaktionen mit der Kamera bemerken, die nichts von der Direktheit und Intimität nehmen, sondern ganz im Gegenteil, zu diesen beitragen.

La bande des quatre von Jacques Rivette

La bande des quatre von Jacques Rivette

Beim Spiel kommen bei den besseren Filmemachern immer die Menschen und Körper hinter den Spielern zum Vorschein. In unserer Zeit hat sich der Schauspielbegriff längst von seinen naturalistischen oder rhetorischen Funktionen gelöst. Vielmehr geht es uns beim Spiel um eine Erfahrung, in deren Dauer wir Zeuge einer Menschwerdung sein dürfen. Natürlich hängen daran immer noch naturalistische Ideale, aber diese zielen jetzt im eigentlichen Sinne darauf, dass der Schauspieler als Person verschwindet. Nicht die realistische Darstellung interessiert Filmemacher wie Cristi Puiu oder Claire Denis, sondern das Spiel selbst, diese schmale Linie zwischen der Fiktion und der Dokumentation des Prozesses, indem wir gleichzeitig die Illusion einer Identifikation spüren und uns doch ermahnt fühlen, weil wir lernen zu wissen, dass die Erscheinung eines Menschen und sein Spiel immer dazu dienen, etwas essentielles zu verbergen. Diese Essenz finden wir genau dann, wenn wir beides zugleich sehen. Das Ergebnis der Erscheinungsarbeit und die Arbeit an der Illusion. Ansonsten ist das Spiel auch die Flüchtigkeit und Bescheidenheit der Darstellung. Es geht beim Spiel für das Kino nicht um den großen Schauspielmoment, den Monolog, der tränenreiche Abschied, vielmehr geht es um den Körper, der alles erfährt und dadurch erfahrbar macht, es geht um die Sinnlichkeit. Wir haben Respekt vor dieser Sinnlichkeit und es ist keine Überraschung, dass nicht erst seit Robert Bresson immer wieder der Laiendarsteller gesucht wird, um sozusagen diese Sinnlichkeit in aller Naivität und Unschuld vor die Kamera zu werfen. Dieses Vorgehen wird heute deutlich schwieriger, weil auch die meisten Laien mit Mechanismen der fatalen Kamera vertraut sind und darin geübt, ihre Sinnlichkeit zu verstecken. Als Folge greift die Arbeit mit dem Spiel im Kino zu extremeren Mitteln, die sich in Filmemachern wie Albert Serra, der so lange dreht bis seine Laien völlig erschöpft sind und nicht mehr kontrollieren können, was sie tun oder Bruno Dumont, der Schauspielern keine Information über ihre Position oder den Kontext der Szene gibt und beständig auf eine Deformation von Verhaltensweisen setzt, äußert. Vor allem Serra ist dabei auf der Suche nach einer Unschuld, eine Unschuld, die alle jagen im Schauspiel, diesen Moment, in dem etwas zum ersten Mal passiert und man es sieht. In diesem Zusammenhang ist es keine Überraschung, dass Erich von Stroheim unbedingt einen echten Messerstich am Ende von Greed haben wollte. Er wollte den Schmerz in den Augen seines Darstellers sehen. Er hat ihn nicht bekommen.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Es ist aber auch klar, dass eine Freude am Spiel in diesen Unschuldschoreographien kaum zum Vorschein kommen kann (zumindest dachte ich das bis P’tit Quinquin). Was ich damit sagen will, äußert sich womöglich auch in der beständigen Verwendung professioneller Schauspieler im Neuen Rumänischen Kino, dass doch eigentlich von seiner Verortung hin zu einem Bazin-Realismus nach Laiendarstellern schreit. Doch wenn wir Cristi Puius eigene Performance in Aurora ausklammern, werden bei den großen Namen des zeitgenössischen rumänischen immerzu professionelle Darsteller benutzt. Woran könnte das liegen? Eine Überlegung wäre, dass die Filmemacher des italienischen Neorealismus an einer dokumentarischen Wahrheit interessiert waren, die heute schon lange überholt ist. Die Rumänen scheinen vielmehr Interesse am Wesen der Fiktion zu haben beziehungsweise am Verhältnis zwischen Fiktion und Realität. Ein Film wie Corneliu Porumboius When Evening falls on Bucharest or Metabolism behandelt auch folgerichtig das Leben hinter dieser Illusion, das Spiel hinter dem Spiel. Ist dann alles ein Spiel?

Wenn es nach Arnaud Desplechin geht, dann ist zumindest das Kino ein Spiel. Darum geht es, um das Spiel. In seinem La vie des morts zeigt sich, dass nicht die Offenbarung einer komplexen Charakterpsychologie entscheidend für Identifikation und Menschwerdung im Kino sind, sondern die versteckte Existenz dieser Psychologie in den Körpern der Darsteller. Wir müssen spüren, dass hinter den Fassaden ein Leben lauert. Wie Desplechin, Olivier Assayas oder die schon erwähnte Claire Denis kann man dieses Leben durch kurze, flüchtige Momente spürbar machen, eine Geste, ein Blick (und es ist klar, dass der Schauspieler selbst hier genauso verantwortlich ist wie die Montage oder die Kamera). Eine andere Möglichkeit liegt in der Sprache. Das Verhältnis von Schauspieler und Text wurde im deutschen Kino nie vielschichtiger behandelt als von Rainer Werner Fassbinder. Bei ihm verraten sprachliche Formulierungen das Sinnliche und Politische hinter dem Spiel, obwohl sie jederzeit als solches markiertes Spiel sind. Ein solches Vorgehen wird im deutschen Kino heute oft hinter angestrengten und noch häufiger scheiternden Realismusbemühungen liegen gelassen. Der Meister im Umgang mit dem Verhältnis zwischen Text und Schauspieler ist aber sowieso ein Franzose, Éric Rohmer. Bei ihm geht es beim fatalen Spiel im Kino um eine Energie, die aus einem Text oder einer Idee etwas Konkretes macht, etwas Gegenwärtiges, das trotz aller Gegenbehauptungen nicht nur dem Theater sondern auch dem Kino eigentümlich ist. Bei Rohmer geht es nicht nur darum, was gesagt wird, sondern immerzu auch darum wie es gesagt wird. Der moralische Diskurs seiner Filme wird erst durch die Stimmen manifest, man könnte ihn zwar schreiben und lesen, aber erst dadurch, dass die Moral bei Rohmer an Körper gebunden ist, wird sie relevant. Jeder Satz, jedes Zucken kann etwas über eine Figur oder Menschen aussagen.

La vie des morts von Arnaud Desplechin

La vie des morts von Arnaud Desplechin

Doch das Spiel – zumal im Kino – ist natürlich auch eine Sache der Verwandlung. Wie Jean-Luc Godard bemerkte, ist das Kino eine Kunst der Masken und Verwandlungen. Die Möglichkeit einer ständigen Transformation; wenn das Kino ein Spiel ist, dann spielt es auch mit seiner Kontinuität und seiner Wahrscheinlichkeit. Filme wie Holy Motors von Leos Carax, Phoenix von Christian Petzold oder Time von Kim Ki-duk arbeiten mit der Verwandlung und der ewig faszinierenden Frage nach dem Erkennen und der Identität. Oft wird dann die Dramaturgie zu einem Spiel, man sieht Figuren dabei zu wie sie sich unerkannt in einer Rolle bewegen, aber man kennt ihr Geheimnis und wird so Zeuge eines Spiels statt einer Sinnlichkeit bis plötzlich aus diesem Spiel eine Sinnlichkeit bricht. Es ist klar, dass dieses Spiel mit der Verwandlung auch ein Spiel mit der Form beherbergt. Es ist keine Überraschung, dass die meisten Filmemacher, die sich Gedanken über das Spiel im Kino machen, sich auch Gedanken über das Spiel des Kinos machen. Die Kombination zweier Bilder oder das Abpassen des exakten Moments eines Schnitts sind mir immer vorgekommen wie ein Spiel. Insbesondere im digitalen Zeitalter trifft das wohl mehr denn je zu. Erstaunlich aus heutiger Sicht wie man auf eine derartige Kunst Regeln legen konnte. Aber wie wir sehen ist das Regelhafte und das Wahrhaftige im Kino immer in einem spannenden Wechselverhältnis, ganz ähnlich wie die Unschuld und das Spiel.

Mit Masken wird das Spiel auch zu einer Flucht, die das eigentliche Leben verbirgt und gerade dadurch bewusst macht. Jean-Luc Nancy hat geschrieben, dass der Sinn der Erscheinung in der Realität liegt, die sie verbirgt. Ähnliches gilt für das Spiel im Kino, obwohl das Kino weniger Verantwortung hat als die Erscheinung an sich. Damit will ich sagen, dass es im Kino manchmal auch reicht, eine Freude am Spiel auszudrücken wie das nicht zuletzt in Holy Motors geschieht oder auch in American Hustle von David O. Russell. Doch selbst diese Flucht gelingt nicht ganz, weil der Zuseher immerzu in der Lage ist, das filmische Schauspiel mit dem täglichen Schauspiel zu vergleichen. So wird die Freude des Spiels im Kino bei Carax ganz schnell zu einer Kritik des Spiels im Leben. Ist das so? Das Spiel liegt aber auch im Unsichtbaren. Erich von Stroheim war ein Meister dieser Inszenierungen, die man nicht wirklich sieht, aber spürt. So hat er sich bekanntermaßen bis hin zu den korrekten Unterhosen (selbst wenn diese nie sichtbar waren) seiner Komparsen um das Unsichtbare des Spiels bemüht. All das Wissen, all die Arbeit, die man im Ergebnis nicht mehr sieht, aber spürt. Sie hängt mit Körperhaltung, spontanen Gesten oder auch nur der Dauer zwischen Frage und Antwort zusammen. Oder würde jemand daran zweifeln, dass man mit seidenen Unterhosen, auf die das kaiserliche Emblem Österreichs gestickt ist, anders durch Reih und Glied geht, als mit seiner normalen Baumwollunterwäsche?

Holy Motors von Leos Carax

Holy Motors von Leos Carax

Wir bemerken also, dass es einen Unterschied gibt zwischen Filmen, die einen avancierten Umgang mit dem Spiel wählen und solchen, die das Spiel zelebrieren. Zu letzteren gehört sicherlich Hong Sang-soo, der ähnlich wie Puiu in seinem Schauspielworkshop viel mit der Wiederholung von Konstellationen und Dialogen arbeitet. In neueren Werken wie Our Sunshi oder In another country greift durch den eigenwilligen Einsatz des Spiels im Kino eine Art augenzwinkernder Surrealismus, der letztlich doch genau durch diese Unwahrscheinlichkeiten und simplifizierten Konstellationen eine sinnliche Wahrheit und Komplexität der Realität offenbart. Nehmen wir In another country, in dem Isabelle Huppert drei verschiedene Französinnen in Korea spielt, die immer wieder in ganz ähnliche Situationen geworfen wird und immer wieder auf einen grandiosen Life Guard, der immer vom selben Schauspieler gespielt wird, trifft. Dieses clevere Spiel mit dem Cast ermöglicht auf der einen Seite ein Anzeigen der Konstruktion des Films, wieder diese Meta-Ebene, aber zugleich ermöglicht es eine sinnliche Erfahrung von Traumzuständen, Sehnsüchten und dem Verhalten zwischen Fremden, eine Art Erforschung von Unbeholfenheit. Genau umgekehrt in der Besetzung ging bekanntlich Luis Buñuel in seinem Cet obscur objet du désir vor, in dem eine Figur von zwei verschiedenen Schauspielerinnen gespielt wird. Wieder wird dadurch der Schauspielprozess sichtbar, aber gleichzeitig offenbart sich eine Sinnlichkeit, die mit unserer Wahrnehmung zu tun hat.

Our Sunshi von Hong Sang-soo

Our Sunshi von Hong Sang-soo

Es stellt sich auch die Frage, welche Distanz ein Filmemacher wählen muss, um das Kino zum Spiel werden lassen. Es scheint klar, dass in klassischen Schuss-Gegenschuss Auflösungen weniger Raum für wahrhaftiges Spiel bleibt, die Totale jedoch verneint ganz oft das Gesicht, in dessen Regungen sich doch die schärfste und zugleich feinste Linie zwischen dem Spiel und der Realität des Kinos finden lässt. Auf der anderen Seite kann man das Spiel mit dem Spiel so ziemlich aus allen Perspektiven betreiben. Schuss-Gegenschuss kann im Gesicht von Jimmy Stewart ähnliche Gleichzeitigkeiten zwischen Sinnlichkeit und Meta-Ebene erzeugen wie eine Totale bei Hou Hsiao-Hsien. Es geht hierbei um eine Balance zwischen Freiraum und Käfig, die ewige Debatte über Kontrolle und Freiheit im Kino. Beim Spiel gibt es beide Extreme. Es gibt Filmemacher wie Bresson, David Fincher oder Jean-Pierre Melville, die alles kontrollieren und gerade dadurch eine Art Freiheit im Spiel erreichen und es gibt Filmemacher wie Serra, Lisandro Alonso oder eben Puiu, die sehr viel vom Leben, von der Welt hineinlassen in das Spiel und dadurch gerade das Spiel in den Vordergrund rücken. Ein perfekter Kompromiss findet sich in der letzten Szene von Beau travail von Claire Denis. Dort reagiert wie so oft bei Agnès Godard die Kamera auf den Schauspieler, sie wahrt die Distanz für den Freiraum und beginnt dann mit ihm zu tanzen. Letztlich geht es beim fatalen Spiel im Kino um diesen Tanz, der erst das Fatale ermöglicht (und das wollen wir doch). Die Kraft zwischen Kamera und Spiel, eine Liebesgeschichte mit einem unendlichen Spektrum an möglichen Emotionen.

Die einzige Übung, das einzige Spiel ist letztlich das Kino selbst, die Umsetzung. Alles andere ist reine Theorie. Es gibt als zugleich kein Spiel und nur Spiel im Kino. Und es ist das Kino, das uns immerzu mitteilt wie ernst es ist und wie weit weg von der Realität es ist. Zum Schluss nochmal Cristi Puiu:

“So this is how cinema has to be made now, I think—every film must be an exercise. Though these specific exercises were not made with the intention of being shown publicly, I am very happy that programmers are now inviting the film to festivals. I think that it deserves to be seen, and that the exposure is great for the people I worked with. “Actors” is really an administrative term. We live in society without wanting anarchy, so we say that some people are actors, others are directors, others are cinematographers, physicists, mathematicians, doctors, and so on. But I don’t believe this to be true. Anybody can be anything, the only differences come from your choices to study one domain or another. I am working with a camera, you have a computer to type on, others are using medical equipment, and there are no professions. There are only people trying to understand the world better by using different sets of tools.”

De Sica-Retro: Vittorio, Schauspieler

Vittorio De Sica

Wenn eine Retrospektive zu Vittorio De Sica eines zeigt, dann, dass er keinesfalls auf seine neorealistischen Filme zu reduzieren ist – zu vielseitig und unstet ist sein Schaffen. Was ihn wirklich ausmacht, ist schwer zu sagen, außer einem Hang zu eleganter Inszenierung (so wenig das heißen mag) und wiederkehrender Motive, findet sich kaum ein roter Faden in seinem Oeuvre. Hier, am Blog haben wir uns schon ein wenig mit De Sicas Talent in der Auswahl seiner Darsteller beschäftigt, ich will im folgenden Beitrag aber quasi vor die Kamera wechseln und mich mit De Sicas Schauspielkarriere befassen.

Meint man, der Regisseur De Sica sei nur wenig oder ungenügend erforscht, so sieht man sich in einer Auseinandersetzung mit seinem schauspielerischen Lebenswerk mit noch marginaleren Aufzeichnungen und Analysen konfrontiert. Der Schauspieler De Sica, obwohl über rund drei Jahrzehnte einer der prägenden leading men der italienischen Filmindustrie, und bis heute dem (italienischen) Publikum noch gut im Gedächtnis, hat es nie geschafft das Interesse der Akademiker und Kritiker auf sich zu zehen. Verkompliziert wurden meine Recherchen noch durch den Umstand, dass meine Italienischkenntnisse für eine Auseinandersetzung mit einschlägiger Literatur in De Sicas Muttersprache unzureichend sind. Schließt man diese Quellen aus, so sieht die Sache noch prekärer aus.

Vittorio De Sica

De Sicas Schauspielkarriere ist eng mit seinem Lebenslauf verknüpft, ich wage zu behaupten enger als seine Arbeiten als Regisseur. Geboren 1901 in Sora im Latium, auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel, komm er aus bescheidenen Verhältnissen. Er selbst bezeichnete sich als aus einer armen Familie stammend und obwohl viele hungrige Mäuler zu versorgen waren, lässt die väterliche Erwerbsbiografie darauf schließen, dass die Familie eher der unteren Mittelschicht zuzurechnen ist. Der Vater Umberto war Bankangestellter und wurde mehrere Male versetzt, was die ursprünglich neapolitanische Familie erst nach Sora gebracht hatte, und später nach Florenz weiterziehen ließ. Die verschiedenen Aspekte der italienischen Kultur mit denen er durch die häufigen Umzüge konfrontiert wurde, verarbeitete er später in seinen Regiearbeiten; selbst sah er sich aber in erster Linie als Neapolitaner.

Durchaus kurios dann seine Jugendjahre. Während er selbst eine sichere Position in einer Bank oder ähnliches anstrebte, also seinem Vater nacheiferte, sah dieser für seinen Sohn eine Zukunft im Showbusiness. Durch Bekannte sicherte Umberto dem jungen Vittorio erste Filmrollen in den Jahren 1917 und 1918, die Vittorio nur annahm um damit seine Schulgebühr bezahlen zu können – fürs Schauspielen begeistern konnte er sich noch immer nicht so recht.

Seine Meinung sollte sich erst in den 20er Jahren enden, als er nach Beendigung seines Militärdiensts in die Theatertruppe von Tatjana Pawlowa eintrat. Zuerst spielte er alte Männer und Clowns, wurde aber bald durch sein gutes Aussehen und sein elegantes Auftreten als Hauptdarsteller in diversen Romantikkomödien eingesetzt. Die gleichen Eigenschaften sollten ihn rund zehn Jahre später zum matinee idol der telefoni bianchi-Ära werden lassen. Nebenher verfeinerte De Sica seine Technik, entledigte sich seines neapolitanischen Dialekts und knüpfte Verbindungen zu den Almirante-Brüdern, zu Mario Mattòli und schließlich auch zu Mario Camerini – unweigerlich führten ihn diese Kreise in die Welt des Films.

Dort machte man sich seine Popularität als Theaterdarsteller zunutze und besetzte ihn zunächst in ähnlichen Rollen. 1932 gelang ihm mit Mario Camerinis Gli uomini, che mascalzoni! der Durchbruch und er wurde vom bekannten Theaterschauspieler zum Filmstar. Über die nächsten sieben Jahre folgten vier weitere Filme unter der Regie Camerinis und an der Seite der Aktrice Assia Norris, die er ebenfalls schon aus seiner Zeit am Theater kannte (durch die Mitarbeit an diesen Filmen lernte er auch Cesare Zavattini kennen, der seine Regiearbeiten entscheidend prägen sollte). Diese Filme waren es vor allem, die De Sicas Ruf als „Italian Chevalier“ bzw. „Italian Cary Grant“ festigten (auch wenn Grant wohl nie Chauffeure und Mechaniker gespielt hätte). Anders als ein Chevalier, konnte er jedoch in Hollywood nie richtig Fuß fassen, und trotz einer Oscar-Nominierung für Charles Vidors Hemingway-Adaption A Farewell to Arms, mag das mit ein Grund sein, weshalb sein schauspielerisches Oeuvre im Diskurs heute weitestgehend ausgeklammert wird.

Neben diesen filmischen Erfolgen spielte De Sica aber auch weiterhin am Theater. Mehrmals betonte er, dass er sich dort viel wohler fühle. Insgesamt schaffte er es in seiner Karriere auf rund 125 Theaterproduktionen und 160 Filmrollen. De Sica war also ein Vielarbeiter, denn nebenher inszenierte er ja auch immer wieder Bühnenstücke und eigene Filme (in sieben seiner Filme besetzte er sich selbst – teils aber nur in winzigen Nebenrollen). Dieses Arbeitspensum hat mehrere Gründe, aber vor allem mit seinem Privatleben zu tun. De Sica war notorischer Spieler (ein Faktum, das in Filmen wie Il generale della Rovere und L’oro di Napoli aufgegriffen wird) und hatte mehrere Familien zu versorgen. Für seine zweite Ehe mit der spanischen Schauspielerin María Mercader (Fun-Fact: Schwester des Trotzki-Attentäters Ramón Mercader), nahm er sogar eigens die französische Staatsbürgerschaft an, da Scheidungen zu dieser Zeit in Italien gesetzlich nicht vorgesehen waren. Darüber hinaus finanzierte er mit seinen Schauspielergagen zum Teil auch seine Regieprojekte (soweit diese nicht ebenfalls als Auftragsarbeiten aus finanzieller Not heraus entstanden).

Vittorio De Sica in Il signor Max

Aber wieder zurück in die 30er Jahre als De Sica als junger Feschak Frauenherzen höher schlagen ließ. Gutes Aussehen allein reichte dafür natürlich nicht, De Sicas Screen Persona war nicht bloß jugendlicher Liebhaber, sondern schelmischer Herzbube, ein ausgefuchster Herzensbrecher, dem man so einige Eskapaden verzieh, solange er sich am Ende nur doch für das richtige Mädchen entschied (wiederum, biographische Gemeinsamkeiten). Mit den Jahren musste sich dieses Scharlatanentum natürlich verändern, dabei kam De Sica sein Genpool zugute, denn als Italiener alterte er in Würde und mit den ersten grauen Haaren erlangte er gleichsam darstellerische Erhabenheit. Wie von Geisterhand verschwand die jugendliche Leichtigkeit und der Mechaniker der unteren Mittelschicht entwickelte sich zum italienischen Baron, zu Carabinieri-Offizier, zum Weltmann. Sein Lächeln ist geblieben, doch sein Rollenfach hat sich je gewandelt.

Diesen Umstand machte sich ein ganz großer des italienischen Kinos zunutze. Roberto Rossellini, selbst etwas in der Kritik und in der Krise besetzte De Sica 1959 als Hauptdarsteller in Il generale della Rovere, einem Film über einen Hochstapler in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs, der von einem gewieften Nazi-Offizier in ein Gefängnis eingeschleust wird, um dort als Partisanengeneral della Rovere an strategische Geheimnisse zu kommen. Rossellini macht sich De Sicas etablierte Screen Persona zunutze, passt seine Rolle an De Sicas Biografie an (Spielsucht, Vorname, Geburtsort – das volle Programm) und lässt schließlich die frivole Leichtigkeit und die schelmische Unschuld im Angesicht von Kriegswirren und Gestapofolter zu grauenvollem Horror umschlagen. Ein unglaublicher Bruch, der einen Schock auslöst, der diesen Film umso mächtiger wirken lässt.

Ein Höhepunkt seiner Karriere, auf den wenig weitere folgen sollten. Frustriert stellte er in einem Interview mit Charles Thomas Samuels gegen Ende seines Lebens fest, dass immerzu seine schlechten Filme mehr Geld verdienten, als jene, die er für gut erachtete. Wegen seiner finanziellen Misere konnte er es sich aber schlicht nicht leisten viele Rollen abzulehnen. Eine Karriere, die ihn unter anderem für Vittorio Cottafavi, Alessandro Blasetti, Augusto Genina, Dino Risi, Luigi Comencini, Mario Monicelli, Antonio Pietrangeli, Alberto Cavalcanti, Roberto Rossellini, Charles Vidor, Max Ophüls, Abel Gance, Anthony Asquith, Joseph Losey und Terence Young vor der Kamera stehen ließ endete schließlich in einem kurzen Cameo-Auftritt als verarmter italienischer Baron in der Warhol-Produktion Blood for Dracula. Ein Filmauftritt, symptomatisch für die Pragmatik in De Sicas Rollenauswahl, außergewöhnlich weil er sich selbst auf Englisch spricht, und vielleicht auch deshalb ganz kurios, absurd, befremdend überspitzt gespielt (an der Seite von Udo Kier fällt das aber kaum auf). 1974 trat Vittorio De Sica von der Bühne des Lebens ab.

 John Darretta über De Sicas Kino: „Life, at times, may be a Neapolitan festival, but it is always at the mercy of the gambler’s companion: Fate.“


Reihe Teil 10-Christoph Waltz-Inglourious Basterds

Als Letztes also nun Christoph Waltz als Col. Hans Landa in Inglourious Basterds von Quentin Tarantino.
Mehr noch, als auf die ikonische Rolle des Hans Landa einzugehen, möchte ich anhand von ihr ein Fazit ziehen, da wir mit diesem Artikel ja am Ende der Reihe angekommen sind. Landa beherbergt eine außerordentliche Bandbreite an Eigenschaften, die wir auch schon bei den anderen Charakteren feststellen konnten. Zunächst fällt auf, dass Tarantino ein Regisseur und Drehbuchautor ist, der um die Faszination dieses Charakters weiß. In einer spektakulären, The Good, the Bad and the Ugly zitierenden Sequenz führt er dieses Monster, diesen gefürchteten „Judenjäger“ ein und begnügt sich im Anschluss in einer grandiosen und außerordentlich langen Sequenz damit ihm schlicht und einfach bei der Arbeit zuzusehen. Der Charakter-so ahnen wir als Zuseher-weiß genauso viel wie wir selbst und wir stellen uns nur die Frage: Wie wird er es machen?
Dieser Mann ist
Wahnsinnig
Intelligent
Kühl
Überlegen
Arrogant
Unberechenbar
Also alles, was man von einem guten Bösewicht erwarten kann. Da sind zum einen wieder die anarchistisch anmutenden Methoden. Landa ist eben keineswegs ein strenger  Gefolgter von Hitler, sondern ein Mann, der die Zeit dazu nutzt etwas zu tun, was er sowieso gerne tut. Er ist lange nicht so anpassungsfähig, wie er selbst glaubt. Dieses Sprachengenie ist zwar in der Lage die Seiten blitzartig zu wechseln, aber er bleibt ein Außenseiter der Gesellschaft. Einzig die Angst, die er anderen Menschen einflößt und die Qualität seiner Arbeit halten ihn innerhalb des Systems. Im Endeffekt sind ihm Regeln egal, er ist nicht weit davon entfernt ein Joker zu sein. Aber er ist Profi und Zyniker, ein Individualist. Und diese Reihe ist voll von Individualisten, egal ob sie-wie Landa oder Dany Archer in Blood Diamond oder Patrick Bateman in American Psycho-eigentlich in der Lage sein sollten darüber zu reflektieren oder-wie zum Beispiel Amélie Poulain-eben aus anderen Gründen nur für sich leben. Das passt für unsere individualisierte Gesellschaft.
Wir brauchen im Kino also zynische Menschen, distanzierte Menschen, die aber Profis sind und die zur Anarchie neigen. Die aufbegehren gegen ihr feststeckendes Leben oder schon aufbegehrt haben. Landa ist ein Musterbeispiel auf diesem Gebiet. Er ist ein Mann, der mit der Geschichte gehen kann. Da er seine Rechnung ohne die Moral eines Filmes gemacht hat, wird er am Ende bestraft, aber strenggenommen könnte dieser Mann-wenn er sich seine Narbe weglasern lässt-bis heute immer wieder in unterschiedlichsten Staatsformen eingesetzt werden. Alle Charaktere dieser Reihe leben in verschiedenen Zeiten. Entweder in der falschen Zeit oder eben zeitlos. Völlig egal im Bezug auf die Faszination eines Charakters ist seine Motivation. Angedeutete, existenzielle Triebe oder eben gerade deren Verweigerung funktionieren heute weit besser. Das Kino war eine lange Zeit lang überfüllt mit Psychologie und im „anspruchsvolleren“ Teil Hollywoods und auch sonst überall hat man das heute auch verstanden und schickt die Psychologen zu den mehr als erfolgreichen TV-Serien, wo man mehr Zeit hat Ambivalenzen aufzubauen, wo der Zuschauer mehr Zeit hat diese zu verdauen. Kino tendiert mehr zum Moment, als zum Vergangenen (leider ist dem oft genug nicht so). Das hat gutes Kino schon immer getan, nur ist auffällig, dass das nun auch langsam beim Publikum akzeptiert wird, ohne dass ständig gefragt wird: „Warum macht er das jetzt?“ Allerdings muss man auch sagen, dass das nur bei faszinierenden Charakteren funktioniert, also nur wenn der Charakter als eigenständig betrachtet wird und nicht als Teil des Plots. Vom im Kopf des Betrachters verfassten, psychologischen Gutachten bis zur einfachen Erklärung „Der ist halt verrückt.“, ist es dann immer dem Zuseher freigestellt sich die Handlungen selbst zu erklären.
Die Verweigerung der Psychologisierung funktioniert über einen ganz einfachen Trick: Die Charaktere werden ins Comichafte gezogen, sind alle leicht oder stark überzeichnet. Haben sich selbst Comicverfilmungen vom comichaften gelöst und wird von vielen Actionfilmen heute eine realistische Tendenz abverlangt, akzeptieren wir scheinbar mühelos eine comichafte Charakterzeichnung, sowohl dramaturgisch, als auch im Schauspiel oder in Maske und Kostüm.  Wir lieben Extravaganzen im Kino. Und je weiter sich die Charaktere so von der Realität entfernen, desto mehr Kultpotenzial beherbergen sie. Jahre nach Al Pacinos großen Wutausbrüchen sitzen wir immer noch und warten auf die großen Emotionen und Reden, die aus den Filmhelden hervorsprudeln. Das scheinen auch die Charaktere zu wissen und die Filmemacher und sie spielen mit der Unterdrückung der wahren Gefühle: Natalie Portman in Black Swan, Bill Murray in Lost in Translation oder Edward Norton in The Score. Sie alle haben etwas ins ich vergraben, dass nur darauf wartet herauszukommen. Hans Landa begräbt seine Gewalt unter seiner Etikette und seinem Stil, seiner Arroganz und gewählten Ausdrucksweiße. Waltz spielt diese Unterdrückung auf geniale Weiße mit, das Funkeln in seinen Augen verrät ihm beim Zuseher, der so fast gezwungen wird mitzugehen, wenn es endlich aus ihm bricht. Es ist ein Warten auf Authentizität. Tarantino ist selbst derart begeistert von diesem Spiel mit Unterdrücken und Ausbruch, dass er es ständig wiederholt. Er geht sogar so weit, es an einem Kulminationspunkt der Unterdrückung sowohl auf Landa, als auch auf seinen Gegenpart anzuwenden. Wenn der Judenjäger mit der französischen Kinobesitzerin bei einem Apfelstrudel sitzt, haben beide strenggenommen dasselbe Gefühl  und keiner darf es ausleben. Sozusagen eine versteckte Liebesszene. Tarantino betrachtet dieses Spiel auch immer wieder mit Humor. Zum Beispiel als August Diehl im Keller mit den Basterds „Was bin Ich?“ spielt. Hier geht es nämlich nicht nur, um einen billigen Trick mit der Erwartung des Zusehers zu spielen, sondern hier geht es um uns selbst.
Ins Kino geht man aus unterschiedlichen Gründen, aber wenn man etwas auf der Leinwand sieht, dann will man dazu eine Verbindung aufstellen können. Bei den ausgewählten Charakteren dieser Reihe funktioniert diese Verbindung über ein scheinbares Geheimnis, dass  darin besteht, das die Charaktere etwas in sich haben, das wir als streng persönlich empfinden, aber so nicht kommunizieren würden. Sie tragen alle eine Unzufriedenheit mit sich herum, einen Individualismus (man könnte es Einsamkeit nennen), den wir nur zu gut kennen und den wir nur zu gerne, als unseren eigenen bezeichnen. Und diese Leinwandpersonen wehren sich jetzt dagegen, brechen aus diesen Grenzen und darin liegt für uns die Befreiung. Das Kino verschleiert also nur seine Heldenfiguren von früher, indem es sie distanzierter und aufgeklärter erscheinen lässt, aber am Ende geht es immer noch darum, dass man Dinge tut und wagt, die man sich im echten Leben oft nicht traut. 
Man könnte also sagen, dass Kino spielt die große, versteckte Realitätsflucht und was könnte da besser passen, als ein Filmemacher, der verstanden hat, dass man mit einem Film Geschichte umschreiben kann und der seine Charaktere so liebt, dass es eine Freude ist mit ihm diese Reihe zu beenden. Betonen möchte ich nur noch, dass es sich bei den zehn vorgestellten Figuren eben keineswegs um besonders tolle Charaktere handelt, sondern um Charaktere, die es schaffen sowohl beim Mainstream-Publikum, als auch in kinoaffineren Kreisen Begeisterung und Freude am Kino auszulösen, die schon damit anfangen kann sich Zitate zu merken, ein Poster an die Wand zu hängen oder einfach nur mit diesem kleinen Gefühl der Vorfreude während man den Film betrachtet: „Jetzt kommt gleich die Szene mit…“

Reihe Teil 9- Lost in Translation- Bill Murray

Weiter geht es also mit Bill Murray und Lost in Translation von Sofia Coppola aus dem Jahr 2003.
Sofort fällt einem das höhere Alter der zu untersuchenden Person gegenüber vielen anderen Charakteren innerhalb dieser Reihe auf. Dennoch ist es auch bei Bob, so der Name von Bill Murray’s Charakter, ein innerer Schmerz, der ihn gefangen nimmt. Der Umgang mit diesem Schmerz jedoch ist neu. Bob ist schon über einen Punkt hinweg, an dem zum Beispiel der ehrgeizige Edward Norton aus The Score scheitert. Er baut eine Distanz zu seinem eigenen Leben auf. Dieses Gefühl von Melancholie und räumlicher Entfremdung vor sich selbst wird in allen Filmen von Sofia Coppola deutlich. Durch tragende Kamerabewegungen, den Wechsel von traurigen Popmusiktönen und absoluter Stille, sowie den geduldigen Blicken in starre, schöne, aber fast gestorbene Augen, gelingt es ihr den Zuseher in dieselbe Stimmung zu hieven, wie die Charaktere. Die Identifikation läuft im Fall von Sofia Coppola über die Inszenierung. So beginnt ihr Film Somewhere beispielsweise mit einer schier unendlichen Sequenz, in der ein Auto um eine Rennstrecke fährt. Immer dieselbe Runde drehend fährt das Auto ins Off und kommt nach einiger Zeit wieder durch das Bild gefahren. Man ist sofort in dieser eintönigen Welt, einem Gefängnis der Freiheit. 
 
Auch Lost in Translation funktioniert über diese Muster, allerdings wirft Bill Murray einige frische Zutaten in das Gesamtkonzept, die Lost in Translation für mich bis dato zu Coppola’s besten Film machen. Der Begriff „Midlife-Crisis“ fällt immer wieder im Zusammenhang mit diesem Bob, der im Drehbuch so passend mit dem Satz:
 
In the backseat of a Presidential limousine, BOB (late-forties), tired and depressed, leans against a little doily, staring out the window.
eingeführt wird. Ich finde, dass “Midlife-Crisis” nur ein möglicher Begriff ist, um den Zustand von Bob zu erklären. Es ist nicht von der Hand zu weißen, dass es mal einen anderen Bob gegeben hat, einen frischeren und fröhlicheren Bob. Ich behaupte allerdings, dass der Sarkasmus schon immer Teil dieses Charakters war, dieser schwarze Humor, diese Art das Leben zu betrachten. Es sind nur seine Probleme auf dem Laufband und die ungewohnte Umgebung (nicht umsonst der Titel des Films), die neu sind.
Bill Murray spielt einen innerlich fast toten Mann, der zum Leben erweckt wird. Dennoch ist es in jeder Sekunde er, der dieser tristen Welt von Coppola Leben einzuhauchen vermag. Er ist
Humorvoll
Verloren
Einsam
Desillusioniert
Passiv
Eigentlich sind das (fast) allesamt Eigenschaften, die innerhalb eines amerikanischen Drehbuches nicht für einen der Hauptcharaktere gelten dürfen. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass sein Gegenüber, gespielt von Scarlett Johansson (die eigentliche Hauptrolle) sehr ähnlich angelegt ist. Doch diese Passivität ist eben nicht Ausdruck eines bestimmten Alters, sondern eine Reaktion auf die moderne, globalisierte Welt und daher funktioniert der Film auf derart vielen Ebenen auch für ein junges Publikum. Durch die Inszenierung wird hier Wiedererkennung geschaffen, wir finden uns wieder in dieser Welt, in der es nichts zu tun gibt, obwohl es doch so viel zu tun gibt, in der man Erfolgen hinterherrennt, um nichts zu spüren, wenn man sie erreicht hat. In der wir scheinbar frei durch Türen geschoben werden. 
Die immer freundlichen Japaner, die nicht ganz klischeefrei umgesetzt wurden, sind ein adäquates Bild für diese Welt. Eine Welt, in der man vor lauter Äußerlichkeit nur mehr in sich selbst gekehrt ist. Das riesige Fenster, durch das Johansson auf diese Welt blickt steht für unsere Position zu unserem eigenen Leben. (der Blick durchs Fenster ist ein häufiges Stilmittel in Lost in Translation, Fenster, die Distanz zur Umgebung aufbauen, obwohl man eigentlich mittendrin ist) Bill Murray dagegen zeigt uns fernab der Identifikation, wie man in dieser Welt leben kann. Indem er Distanz zu seiner Umgebung schafft und sie ironisch betrachtet, indem er sich selbst nicht zu ernst nimmt, geht er als reifer und wirkungsvoller Charakter hervor.
Dennoch schwimmt der Schmerz immer mit. Doch hier haben wir es mit einem Mann zu tun, der dem Schmerz nicht versucht zu entrinnen, der nicht wie wild dagegen ankämpft oder sein Heil in Anarchie oder Verbrechen sucht, sondern hier haben wir ein Vorbild, wenn auch ein merkwürdiges. Bob ist kein glücklicher Mensch, mehr noch ist er ein Mensch, der mit seinem Leben viel zu früh abgeschlossen hat. Der vielleicht bemerkt hat, dass ihm sein Leben nichts mehr geben kann. Aber er hat sich eine Art beibehalten, die man mit Würde bezeichnen kann. 
Er besteht in dieser Welt, weil er-und das ist der springende Punkt zurück zum Film, zurück zum Drehbuch- ein gutes Herz hat, weil er eigentlich noch lebendig ist und weil er von dieser diegetischen Welt einen Engel geschickt bekommt. Gleichzeitig ist er selbst der Engel für seinen Engel. Auch wenn es hier kein klassisches Happy End gibt, so schwingt dennoch Hoffnung mit, die nur so stark zum Vorschein kommt und so authentisch und wenig gelogen wirkt, weil Murray eben von Anfang an noch ein Restfunkeln in den Augen hat, weil er uns trotz aller Krisen zum Lächeln bringen kann. 
Wo eine ähnliche Wende zur Hoffnung in Somewhere oder in vielen anderen Independentfilmen vorhersehbar und konstruiert wirkt, ist sie in Lost in Translation pure Authentizität, aufgrund ihrer Präsenz von der ersten Sekunde an. Hier wird kein eigentlich schlechter Mann bekehrt oder ein trauriger Mann zu einem Glücklichen, sondern hier wird einfach ein Mann beschrieben. Würde man nur das Drehbuch lesen, könnte man natürlich genau diese Konstruktionen erkennen, aber-und darum geht es ja in dieser Reihe- es ist Murray, der dem ganzen Echtheit abgewinnt.
Wes Anderson und Bill Murray; The Life Acquatic with Steve Zissou
Broken Flowers, Jim Jarmusch
 
So ist es also nicht nur Johansson, die in Murray ein älteres Spiegelbild erkennt, sondern so sind es auch wir selbst. Egal wie jung wir sind, es muss Bob sein mit dem hier mitgehen, weil der Film darauf angelegt ist. Blicken wir durch die Augen von Johansson sehen wir ihn, blicken wir durch seine Augen, sehen wir uns. Allgemein fällt eine gewisse Tendenz von Bill Murray auf solche Charaktere zu spielen, die erstens ihm selbst sehr nahe zu stehen scheinen und zweitens ein passives Verhalten an den Tag legen. Er ist eben ein Mann, der jeden Tag aufwacht, um denselben Tag wieder zu erleben und er ist ein Mann, der verloren durch Amerika reist und seine Ex-Geliebten abklappert. Er ist sich immer bewusst, was er ist; und zwar weiß er, dass er nie wissen wird, was er ist (und er ist selten damit zufrieden, aber dafür geben ihm die Drehbücher ja dann Engel-nicht umsonst ist er die Idealbesetzung für die wiederholte Verfilmung von Dicken’s A Christmas Carol gewesen) und das gibt ihm keine Kraft, aber ein tiefes Verständnis für das Leben. Seine häufige Zusammenarbeit mit Wes Anderson zeigt genau diese Neigung, nur auf einem absurderen Level. Menschen, die träumen sind bei Anderson immer die größten Pessimisten. Und so ist es auch bei Bill Murray und Lost in Translation.

Weiter geht es mit Christoph Waltz und Inglorious Basterds.

Fassbender

Was ist denn eigentlich das? Was ist denn eigentlich das, was Michael Fassbender da gerade im Kino hinlegt, in Shame von seinem genialen Regisseur Steve McQueen. Ein Seelenstriptease ist das, eine Leistung für die Ewigkeit. Präsenz, dass einem über die gut 1,5 Stunden der Atem wegbleibt; ein Feuerwerk der verborgenen Gefühle. Er lässt sie alle mal zum Vorschein kommen. Steve McQueen schneidet einfach nicht, jetzt komm schon: SCHNITT! Nein.Nein, okay…dann Schärfenverlagerung…HALLO?

Er erforscht nicht nur dieses tausendfache Gesicht, diesen undurchschaubaren Mann, sondern McQueen erforscht auch den Rücken, den Nacken, die Haare, sein Geschlecht, die Beine, seine Haut. Alles. Fleischgewordene Leinwand.Und Fassbender macht keine unnatürliche Bewegung. Wenn er sitzt und seiner Schwester zuhört, als sie singt, dann ist das ergreifend und man hat das Gefühl direkt in diesen komplexen Charakter hineinzusehen. Mal fährt er aus sich heraus, dass man fast erschrickt, mal lächelt er echt, mal lächelt er gekonnt. Er genießt sein Leben nicht, er ist leer. Fassbender füllt diese innerliche Todesstarre mit so viel Leben, dass einem der Atem gefrieren kann. Der Film alleine ist ein ästethisches Meisterwerk, der mutig und zielsicher ein schwieriges Thema angeht, der eine Sogwirkung entfaltet, die weit über die bloße Faszination von Sex hinausgeht.Am Ende habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit gefühlt für einen Charakter, weil Steve McQueen ein Filmemacher ist, der nicht seinen Charakter, um die Geschichte strikt, sondern eben den Charakter die Geschichte stricken lässt.

Wenn Kritiker von Pornographie sprechen, dann ist das fast zum Weinen…Der Duden meint: sprachliche, bildliche Darstellung sexueller Akte unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs und unter Ausklammerung der psychischen und partnerschaftlichen Aspekte der Sexualität

Irreversible

Doch dieser Film liest im Charakter, wenn er Sex hat, er erzählt seine Geschichte über den Sexualakt, weil er für ihn eben etwas anderes bedeutet wie für den durchschnittlichen Bürger. In einer grandios inszenierten Sexszene mit 2 Frauen, in goldenen Farben auf die Leinwand gebracht, spielt sich bei Fassbender ein Spektrum an Emotionen ab, das sich letztlich als Schlüssel zum Verständnis des ganzen Films erweist. Shame wagt sich vielleicht in ungewohntes Gebiet, aber im Vergleich zu anderen Filmen, die sich diesem Vorwurf gefallen lassen mussten, wie etwa Irreversible (Gaspar Noe ) oder Antichrist (Lars von Trier), ist bei ihm Sex Teil der Geschichte, es ist keine bloße Provokation, es ist nur ein Filmemacher, der sich mehr um Realismus und die Authenzität seines Werkes sorgt, als um Publikumreaktion oder Preisverleihungen. Danke dafür! Und es bleibt allgemein zu sagen, dass ein Filmemacher, der sich dafür entscheidet Sex auch als Sex zu zeigen und nicht als Filmsex, damit immer richtig liegt, wenn er einen Realitätsanspruch hat oder wenn er mehr erzählen will, als nur die Tatsache, dass zwei Menschen miteinander schlafen.

Antichrist

 Der Film hat vielleicht auch ein paar Schwächen und „Längen“ (Unwort!). Aber Fassbender hat sie in diesem Film nicht.Zurzeit ist er (ungleich nichtssagender) in Soderbergh’s Haywire zu sehen. Sein gesamtes Spektrum konnte man aber auch schon in seiner ersten Kollaboration mit Steve McQueen, dem bemerkenswerten Hunger bestaunen. McQueen und Fassbender scheinen in der Lage zu sein gemeinsam über bekannte Grenzen hinauszugehen, sie scheinen eine Vertrauensbasis geschaffen zu haben, die direkt aufs Publikum überspringt. Ist Hunger noch der künstlerisch anspruchsvollere, vielleicht auch bedeutendere Film, der eine unheimlich interessante Bildsprache und Erzählweise hat, so ist Shame schon ein dramaturgisch weitaus klassischerer Vertreter seiner Zunft. Eine weitere absolute Empfehlung für sein Können lieferte Fassbender in dem kleinen, aber herausragenden Film Fish Tank von Andrea Arnold. Im Geldbeutel soll es dem Deutsch-Iren auch nicht fehlen, deshalb war er u.a. in X-Men, Jonah Hex, Inglorious Basterds, 300 oder Jane Eyre zu sehen. A Dangerous Method bin ich mir nicht ganz sicher, wohin man damit so wollte.

Hunger


Demnächst ist er im neuen Alien-Film vom Meister Ridly Scott selbst, Prometheus zu sehen. mein Gefühl sagt mir aber, dass wir bis 2013 warten müssen, bis es wieder den wahren Fassbender gibt, denn dann arbeitet er wieder mit McQueen zusammen und sie machen einen Film über die Sklaverei und Brad Pitt ist dabei. Jedenfalls ein empfehlenswerter Film, nicht zuletzt, weil er zeigt, dass eben noch nicht alle Themen in gleicher Weiße abgehandelt wurden.



Reihe Teil 8- Die fabelhafte Welt der Amélie- Audrey Tautou

Als nächstes also Die fabelhafte Welt der Amélie aus dem Jahr 2001
Viele unserer bisherigen „Helden“ oder „Antihelden“ haben sich eine eigene Realität geschaffen, gegen bestehende Ordnungen rebelliert, waren Außenseiter in der Gesellschaft-viele von ihnen gar Verbrecher. Doch niemand treibt es so weit wie Amélie Poulain, gespielt von Audrey Tautou im modernen französischen Klassiker. Die schüchterne Arbeiterin in einem Pariser Café erschafft sich regelmäßig ihre eigene Fantasiewelt; sie betreibt also eine Realitätsflucht, die der ihres „Erschaffers“ Jean-Pierre Jeunet genauso nahe liegen dürfte, wie der des Publikums, dem sie ein paar Mal vielsagend zulächelt. Eigentlich lebt Amélie bis zum Ende des Films überhaupt nicht in der realen Welt.
Der Unterschied bei ihr liegt darin, dass sich die ganze Geschichte darum dreht, ist es doch das Portrait einer Träumerin, die dringend an sich selbst denken muss; mehr noch liegt der Unterschied in der Rezeption und in der Inszenierung. Doch eines nach dem anderen:
Sympathie baut sich schnell auf für diesen hübschen und doch unauffälligen Hauptcharakter, einem Schutzengel für die Menschen in ihrer Umgebung. Sie ist
Kreativ
Schüchtern
Einsam
Verträumt
Verloren
Wenn sie das Leben all der Menschen in ihrer Umgebung umkrempelt und verbessert oder Schuften die gerechte Strafe erteilt, dann fühlt man mit ihr, weil um sich ein Hauch von Gerechtigkeit weht. Natürlich beginnen wir uns um sie zu kümmern; sie ist die Unschuld und sie hat etwas Besseres verdient, denn sie bringt uns zum Lachen, zum Weinen und zum Träumen. In einer unvergesslichen Szene hilft sie einem blinden Mann über die Straße und erzählt ihm voller Inbrunst anschaulichst von seiner Umgebung, bis sie den entzückten Mann an der U-Bahn Station stehenlässt. 
Wie kann dieses aufgeweckte, gutherzige Mädchen (das ist sie mehr als eine Frau) so einsam sein? Es ist wieder so weit: Wir identifizieren uns mit ihr. Dabei könnte die Charakterzeichnung-einmal bloßgestellt- einfacher nicht sein. Eine Angst (in diesem Fall Kontaktangst), die der Held mit zahlreichen Hindernissen überwinden muss, um Glück zu finden. Das klassische Muster von Hitchcock’s Vertigo (Höhenangst) über Nolan‘s Batman Begins (Angst vor, ja, Fledermäusen) bis hin zu Hooper’s The King’s Speech (Angst vor öffentlichem Reden). 
James Stewart hat Höhenangst-Vertigo
Dabei fällt auf, dass wohl ganz Montmartre besetzt ist von neurotischen Seelen, die trauernd auf eine Erleuchtung warten. Das ist die Traumwelt, die Jeunet für uns erschaffen hat und sie liegt so nahe. Jeunet ist ein Meister dieser Traumwelten und dieser Film kam 2001 nicht aus dem heiteren Himmel. Mit Die Stadt der verlorenen Kinder oder Delicatessen hatte er schon ähnliche, wenn auch weltfremdere und düsterere Welten erschaffen.
Die Stadt der verlorenen Kinder
Vieles ist sein Casting und seine Inszenierung. Tautou ist ein wahrer Glücksgriff gewesen. (Zumal bedenkt werden muss, dass eigentlich die wunderbare Emily Watson schon feststand in der Rolle.); sie strahlt Natürlichkeit, Traurigkeit und Hoffnung aus. Dinge, die somit nicht mehr erzählt werden müssen, die man als Zuseher sofort aufsaugt, wenn Jeunet sie in einer seiner zahlreichen Naheinstellungen präsentiert. Alles ist in Grün und Rot und Gelb; Madame Poulain verschwindet mit ihrem gleichfarbigen Kostüm förmlich im Szenenbild. Das unterstreicht natürlich ihre Unauffälligkeit, ihr sogar bildlich festgehaltenes „Auflösen“ in der Umgebung, aber vielmehr  sorgt es für Harmonie in unseren Augen. Wir werden indirekt auch in diese Welt gezogen und verlieben uns in Amélie, weil es praktisch nur „beauty-shots“ von ihr gibt. Die Symmetrie in Form und Farben ist beachtenswert und ist zumeist nur aus asiatischen Filmen, wie zum Beispiel dem virtuosen Oldboy von Park-Chan Wook zu sehen. 
Oldboy
Die Musik von Yann Tiersen hat daran natürlich auch einen nicht unerheblichen Anteil. Jeunet lässt uns auch zu ihr, wenn sie nicht in ihrer Traumwelt ist. Wir sind bei Amélie, wenn sie weint und wenn sie wütend ist. Wir spüren förmlich ihre Angst. Ein offensichtlicher Faktor in diesem Annäherungsprozess an die Hauptperson ist auch das Präsentieren ihrer Kindheit. In vorherigen Beiträgen habe ich oft darauf hingewiesen, dass es keine Hintergrundgeschichten für Identifikation braucht. Nun könnte man meinen, dass Amélie mich das Gegenteil lehrt, aber dem ist leicht zu widersprechen. Jeunet’s von Kreativität und Ironie sprudelnder Blick auf das Leben dieser Hauptperson bricht nämlich mit den gängigen Mustern, er ist fast eine Parodie auf diese. Dies ist am deutlichsten erkennbar, wenn die Mutter von Amélie stirbt, als sich eine Frau in den Selbstmord stürzt und unglücklich auf ihr landet. Diese Schicksalsschläge und die damit verbundene Charakterbildung liegen immer in der Hand des Regisseurs. Scorsese zum Beispiel wählt gerne einen fast surrealistischen Ansatz mit ein oder zwei Szenen aus der Kindheit, um einen Einblick zu gewähren, er erzählt nicht zu Ende, aber er gewährt einen Blick tief genug, um zu verstehen (In neueren Beispielen: The Aviator oder The Departed).
Als Gegenstück zu Heath Ledger in The Dark Knight, bei dem die Person des Schauspielers mit in die Rolle spielte, ist bei Amélie zu beobachten, dass ihre Person in das wahre Leben spielt. Es ist wohl davon auszugehen, dass Audrey Tautou ähnlich einem Bond-Darsteller das ganze Leben diese Rolle mit sich tragen wird. Zu perfekt passt ihr Gesicht auf diese Geschichte. Mehr noch hat dieser Film einen ganzen Lebensstil beeinflusst; es ist eine Ode an die Kreativität, an die kleinen Freuden des Lebens, einer Generation, die wieder lernen will Briefe zu schreiben. Die Geschichten von um die Welt reisenden Gartenzwergen ist ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Film Einzug in unsere Kultur gefunden hat. Nicht nur, gab es Nachahmer in aller Welt, sondern auch im Film Up in the Air von Jason Reitman gibt es direkte Anspielungen darauf. Die Drehorte sind zu Touristenattraktionen geworden, angeblich sind sogar die Mieten in Montmartre unmittelbar nach Veröffentlichung des Films gestiegen. Und bei allen Farben und Klängen und wilden Kamerafahrten und wundervollen Ideen hat man diesem Erfolg hauptsächlich seinem Charakter zu verdanken.
Die fabelhafte Welt der Amélie ist kein Film, der sich unbedingt nahe an der Realität bewegt; es ist ein Fest für Träumer und dadurch wird er automatisch zur selbstreflexiven Aufarbeitung des Kinos und seines Wesens. Die ursprüngliche Faszination an Bildern, an ihrer Sogwirkung wird hier gefeiert. Das Gefühl, wenn man als Kind das Kino verlassen hat und immer noch im Film lebte. Ich selbst ging (zweifelsohne) mit einem Laserschwert durchs Einkaufszentrum, schoss mit Pfeil und Bogen vom Rücksitz aus Mama’s Auto und schlief nachts in einem Bunker ein. Es gibt nicht viele Filme, die dieses Gefühl wieder lebendig werden lassen. Einer davon ist allerdings gerade im Kino: Hugo von Martin Scorsese. Ansehen!
Als nächstes Bill Murray und Lost in Translation.