Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Kurze Bemerkungen gegen die Zeichenzahl (max. 4000 Zeichen mit Leerzeichen)

Einige halten große Stücke auf der maximalen Zeichenzahl, der sogenannten Zeichenbeschränkung, dem character limit oder word limit eines Textes, behaupten gar, dass sie ohne Kenntnis dieser Einschränkung keinen Satz zu Papier bringen könnten oder dass die meisten Texte ohnehin unleserlich wären, würde man sie nicht schon a priori eindämmen, ein bisschen wie bei Rindern also, die man für den Nutzen auch bevorzugt hinter Zäunen hält.

Der Pragmatismus hat hier seine Stimme, sie wird gehört, denn das Auf-den-Punkt-Kommen-Können, die Präzision, die Effizienz, das sind Tugenden, die in der Sprache zur Formvollendung führen können, keine Frage. Tatsächlich mag die Zeichenzahl auch jenen zur Hilfestellung gereichen, die nach ein bisschen Ordnung in ihrem Denken suchen. Man verliert sich nicht in Details, kommt zum Wesentlichen. Oder sie werden motiviert noch ein bisschen weiter zu denken, sich nicht zufrieden zu geben, weil sie noch 1000 Zeichen mehr schreiben sollen. Aber ist das wirklich eine Frage vorher festgelegter Längen oder nicht einfach Arbeitsethik und guter Stil?

Die Lektoren zücken ihre Rotstifte, es wird gestrichen, denn alles, was nicht im Text steht, kann einem auch nicht um die Ohren fliegen; saubere, schön ausgewogene Sätze, die fertige statt entstehende Gedanken repräsentieren. Nicht zu lang, nicht zu kurz, mundgerecht, damit man nicht erschlagen wird, es ist ja ohnehin alles zu viel; verständlich, alles aufbereitet, damit niemand verwirrt wird, das wäre eine Katastrophe.

Mit der entsprechenden Erfahrung schreibt man Texte fast blind auf die entsprechende Zeichenzahl hin. Schließlich muss die Autorin vor dem Schreiben wissen, was sie schreibt. Ja? Außerdem kostet das Papier nach Metern und die digitalen Bildschirme haben beschlossen, dass ohnehin keiner liest. Wie auch sonst sollten Zeitungen und Magazine und Bücher planen und kalkulieren und abrechnen? Der Text hat nach der Publikation zu tanzen, obwohl er vor ihr kommt. So passen sich die Gedanken dem Format an. Das ist ein Problem.

Was ist mit jenen Gedanken, die sich verirren müssen, die sich aus dem scheinbar Endlosen ins Relevante oder auch Irrelevante winden? Was ist mit der Andeutung, dem Verkürzten, dem Unbedarften, das zum Tiefergehen anregt? Und was ist mit jenen Fragen, die wir dringend mit Ja und Nein zugleich beantworten müssen? Was ist mit der Uneindeutigkeit, der Undeutlichkeit, der Abschweifung, dem Schwall, dem Exzess eines um sich wirbelnden Ausdrucks, der nicht unterscheiden kann und möchte, was relevant ist und was nicht? Schon mehr als 2500 Zeichen und nichts wurde gesagt…

Was wäre, würde wer schreiben, um erstmal mit dem Denken zu beginnen? Wie würde ein solcher entstehender Gedanke – einmal niedergeschrieben – aussehen? Wäre er 3000 Zeichen lang oder 3002? Oder nur 200? Würde er ohne Zeichenanzahl freier sein? Was wäre, wenn die Anzahl der Zeichen für die Denkkapazität stehen würde? Das ist natürlich ein naiver Trugschluss und außerdem geht es beim Schreiben der meisten Texte nicht um den Schreibenden sondern um die Lesenden, man sollte sich verständlich halten, komplex aber nicht zu sehr, nachvollziehbar und so weiter. Stilistischen Firlefanz kann man auch weglassen, dann kommt man schneller zum Punkt. Aber wenn es keinen Punkt gibt? Ich drehe mich bereits im Kreis und das ist der Punkt, vielleicht.

Die Zeichenzahl hat eine Kulturgeschichte oder besser Technikgeschichte. Sie ist verwandt mit der Formatgeschichte, Vereinheitlichungsgeschichte des Denkens, letztlich ein hilfloser Versuch, sich gegenseitig zu verstehen. Das liegt ja am Grund all dieses Mühens um die richtige Anzahl an Worten: Der naive Glaube daran, dass man verstanden werden kann.

Papyrus beispielsweise konnte sich kaum wer leisten. In Ägypten wurde es pa per aa genannt, was übersetzt so viel bedeutet wie: was dem Pharao gehört. Der Vorteil: Man musste überlegen, was es wert ist, aufgeschrieben zu werden. 1389 legen wichtige Gestalten in Bologna noch vor Einführung des Buchdrucks die Statui dei Popolo, vier Formate für Papier fest: Imperialle (500x740mm), Realle (445x615mm), Meçana (345x525mm), Reçute (315x450mm). Sie gravierten diese in eine Marmorplatte ein. 1911 gründete der Schweizer Karl Wilhelm Bührer zusammen mit dem Deutschen Adolf Saager in München Die Brücke – Institut für die Organisation der geistigen Arbeit. Ihr Ziel: Eine weltweite Vereinheitlichung geistigen Denkens. Für das Papier entwickelten sie Weltformate, die später von Dr. Walter Porstmann zu den DIN 476 Papierformaten weiterentwickelt wurden. Dieses System hat sich außer in Nord- und Mittelamerika sowie Venezuela, Kolumbien, Chile und den Philippinen durchgesetzt. Die Schreibmaschine sprang von selbst über Zeilen, SMS waren beschränkt und Twitter auch. Bei letzteren Kommunikationsformen ist der Antrieb nicht die Vereinheitlichung des Denkens sondern die maximierte Profitgewinnung aus dem verkürzten Denken.

Schreibt man zu einem Film oder anderen Kunstwerken (früher nannte man das: Kritik) ist die Zeichenzahl ein Hindernis. Es gibt 30-Zeichen-Filme und 300000-Zeichen-Filme, das weiß man erst, wenn man sie gesehen hat oder wenn man die Gedanken dazu formuliert. Auch ist der gleiche Film für die eine Autorin ein Buch, für den anderen ein Halbsatz.

In der Literatur gab es immer jene, die den Hedonismus der Sprache frönten und jene, die so schrieben, als würden die Worte sich zwischen sie und die Wahrheit schieben; es soll beides geben! Ob Verknappung oder Ausschweifung, alles hängt letztlich am Herzschlag, der Verdauung, dem morgendlichen Koffeinkonsum, der Unruhe des zu Füßen liegenden Hundes, dem Wetter, der generellen Verfasstheit (von Mensch und Sprache). Es hängt auch am plötzlich auftauchenden Rand einer Seite, dem ausgehenden Speicherplatz, den jeweilig vorherrschenden Konzepten von Unendlichkeit, den ungefragt in die Schreibstube stürmenden Mitmenschen, den müden Fingern, dem Hunger und der einsetzenden Langeweile, die eben nicht nur die Lesenden betrifft. Manchmal setzt diese Langeweile, die entweder dem beschriebenen Gegenstand, der Sprache oder dem Autor gegenüber sich selbst gilt, nach einem einzigen Wort ein (Symptom unserer Zeit laut Geoff Dyer: instant boredom), manchmal nie, ja das soll es geben: Menschen, die sich so vertiefen in einen Gedanken, dass er niemals endet. Das macht Angst und befreit zugleich.

Äußere Umstände, innere Umstände bestimmen die Länge eines Textes, aber auf keinen Fall eine vorher festgelegte, unumstößliche, nur leicht auszureizende Zeichenzahl. Die entspricht nicht nur einer Normierung des Textes sondern einer Stigmatisierung (siehe Begriffe wie long read, als könne man sagen, ob wer lang oder kurz liest). Man sollte sich der Zeichenzahl verweigern, sie höchstens selbst setzen. Wie ein Spiel: Heute schreibe ich ein Glaubensbekenntnis in 13 Wörtern. Morgen in 14. Und so fort. Bis man den Glauben verliert.

Aber die menschliche Spezies ist nicht gut darin, sich selbst Grenzen zu setzen (nur Staaten, vielleicht sollte man Texte wie Staaten behandeln?). Auch die Schreibenden (Rinder mit ein bisschen Wahnsinn) fühlen sich in vorgegeben Formaten wohler, dann schützt sie zumindest die vorgegebene Länge vor den eigenen Gedanken, dem allzu flapsig Niedergeschriebenen, dem Törichten (unter keinen Umständen würde man töricht wirken wollen), dem Verhängnisvollen, den Fettnäpfchen, Missverständnissen. Lieber auf trockener Tinte sitzen als auf verwischtem Papier, so scheint es. Aber ist das wirklich die Aufgabe des Formats?

Es geht ja auch andersherum. Wörter, die sich endlos dehnen, Sätze, die sich strecken, damit eine vorgegebene Länge erreicht wird, obwohl es längst nichts mehr zu sagen gibt. Das Ausfüllen der Seite, Zwang einer in leeren Phrasen ertrinkenden Gesellschaft. Die Sprache muss sich bis zum letzten Zentimeter fügen, Wörter werden ausgetauscht, damit die letzte Zeile nicht gar so hilflos im Weiß des Unbeschriebenen steht. Man kann immer noch ein bisschen mehr schreiben, ein bisschen ausführlicher, redundanter, ein bisschen mehr Wind, um die Vögel am Himmel wegzupusten.

Meist wird man nach Umfang bezahlt, nicht nach Gründlichkeit. Man unterschreibt für ein Verhältnis von Thema und Umfang und das liefert man dann auch: 4000 Zeichen über eine Ausstellung, 11000 Zeichen über „Mut“, maximal 6500 Zeichen über die Bedeutung von Zeit im Alltag, 1500 Zeichen Kurzgeschichte zum Motto: „Der Elefant hat einen Rüssel, die Maus aber auch“. Dieses Verhältnis könnte man geometrisch betrachten, als eine Art Dreieck, in dem sich Bezahlung, Thema und Aufwand in unterschiedlichen Winkeln zueinander verhalten. Am besten liefert man noch ein Exposé oder eine Kurzfassung mit, maximal 1000 Zeichen, eine Kurzbio, ein oder zwei Sätze, die beschreiben, wer man ist, was man so treibt, warum man also dafür geeignet ist, 3000 Zeichen über die sich verändernde Flugkurve der Schwalbe im Winter zu verfassen.

Die hier erarbeitete Moral: Manche Texte brauchen Länge, andere Kürze, wenn einem nichts mehr einfällt, sollte man aufhören.