Radioactivity is in the air for you and me
Text: Leonie Jenning
Die meisten Dinge werden für das menschliche Auge durch Licht sichtbar. Was wir sehen, ist eine Reflexion von Oberflächen – ein Abbild der Wirklichkeit, auf das wir als Menschen in der Lage sind zu reagieren. Dabei übersehen wir aber oft, dass hinter diesem Abbild etwas existiert, das sich unserer sinnlichen Wahrnehmung entzieht. Sobald diese für uns unsichtbaren Kräfte auf sichtbare Materie einwirken und diese merklich verändern, erkennen wir, dass unsere visuelle Ordnung Risse bekommt; und uns wird klar: Wir können die Welt nicht mit unserem bloßen Auge zusammenhalten. Wir erleben uns viel mehr als fragmentarischen Eindruck eines größeren Ganzen, das sich, wenn überhaupt, nur an den Grenzen des Erfahrbaren bemerkbar macht.
Diese Erkenntnis kann verschiedenste Reaktionen hervorrufen: Manche Menschen verlieren sich selbst, andere lösen sich auf, und wieder andere können in der Ohnmacht nichts stärker wahrnehmen, als sich selbst.
Wir wissen: Das Kino ist das Medium der Sichtbarkeit. Wenn wir einen Film schauen, verschließen wir zwar für einen Moment die Augen vor unserem eigenen Horizont, erweitern aber gleichzeitig durch die filmischen Mittel unser Sehen bis ins Unendliche. Darin erscheint die Welt in montierten Zusammenhängen oft eindeutiger als in ihrem tatsächlichen, chaotischen Zustand. Die Wirklichkeit ist aber nicht nur unübersichtlich, sondern auch von einem permanenten Verschwinden betroffen: Langsam und unkontrolliert löst sich Materie auf und verwandelt sich in Energie. Im katastrophalen Ernstfall kann das zur radioaktiven Verstrahlung ganzer Gebiete führen. Radioaktive Strahlung ist nicht sinnlich wahrnehmbar, kann jedoch mit Materie in Kontakt treten und deren Atome und Moleküle derart verändern, dass der unaufhaltsame Zerfall des Lebens auf unnatürliche Weise beschleunigt und die Folgen der Einwirkung sichtbar werden. Am 26. April 1986 ereignete sich in Tschernobyl der erste Super-GAU – eine Atomkatastrophe. Der Reaktor des Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerks „W. I. Lenin“ explodierte und hunderttausende Menschen mussten die Region um Tschernobyl verlassen. Viele erkrankten an Krebs oder lebten fortan in ständiger Angst vor den gesundheitlichen Folgen.
Im klassischen Kino ist es ganz einfach. Es gibt keine chaotische Gleichzeitigkeit, sondern immer nur ein Davor und ein Danach, eine klare Abfolge von Ereignissen. Nicht nur zieht jedes Bild das nächste nach sich, sondern die Bilder bedingen sich gegenseitig unmittelbar. Kein Bild, das auf ein anderes folgt, könnte für sich allein, ohne das ihm Vorangegangene, als solches bestehen. Das Davor und das Danach ist sinnstiftend für den Moment. Wir sehen und ein Bild nach dem Anderen wird sichtbar. Nichts zerfällt. Die Szenen bauen aufeinander auf, bis sich schließlich die ganze Geschichte in ihrem Ende auflöst.
Alles, was bis dahin in den Bildern passiert, ist überschaubar und von Menschenhand arrangiert, was dem Publikum ein trügerisches Gefühl von Kontrolle vermittelt. Gebannt davon, bleibt man vor den Bildschirmen und Leinwänden sitzen, versunken in das Gefühl von zweifelsfreier Einsicht in die Leben, die es so – in dieser Eindeutigkeit – nie gegeben hat. Es fällt schwer, den Blick von dem endlosen, sich wiederholendem Bilderfluss, dem Strom abgebildeter Katastrophen abzuwenden. Der französische Philosoph Paul Virilio beschreibt dieses Sehen mit verschlossenen Augen als ein »Warten auf das Unerwartete«.
Fünf Jahre nach der Katastrophe wurde in den kontaminierten Gebieten von Tschernobyl ein Pilz entdeckt, der Strahlung absorbiert. Ein schwarzer Pilz, der sich von Radioaktivität ernährt, indem er die Strahlung aufnimmt und in Energie umwandelt. Mittlerweile ist der radiotrophe Pilz von Tschernobyl Teil eines NASA-Forschungsprojekts, das untersucht, ob er zur Lösung des Radioaktivitätsproblems beitragen und Menschen vor der gefährlichen Strahlung schützen kann.
Ein Jahr vor dieser wissenschaftlichen Entdeckung, findet Marie in dem Film Le Champignon des Carpathes von Jean-Claude Biette einen ähnlichen Pilz am Fuße des Eiffelturms, verborgen unter einer tiefen Schneedecke. Maries Geschichte spielt in einer Zeit nach einer verheerenden nuklearen Katastrophe. Um sie herum kämpfen die Menschen ums Überleben und gegen die Ungewissheit, wann die Strahlung sie erreichen wird oder ob es vielleicht schon längst zu spät ist. Nach ihrem Fund zu Beginn des Films schützt Marie den Pilz neunzig Minuten lang vor dem Licht. Sie erklärt ihrem Bruder: »Dies ist ein sehr seltener Pilz. Er erscheint bei außergewöhnlichen atmosphärischen Störungen, die durch Katalysatoren ausgelöst werden. Tiefgreifende Verschiebungen in der natürlichen Ordnung. Er wird in der Kälte geboren, aber einmal gepflückt, kann er sich an jede Temperatur anpassen. Es gibt nur eine Sache, die er nicht mag: das Licht. Er besitzt außergewöhnliche Eigenschaften: Er kann Wunden heilen, vor tödlichen Krankheiten schützen und das Leben verlängern.« Ob das wirklich so ist, bleibt im Film ungeklärt. – Der Glaube an die unsichtbare Kraft des Pilzes und die verzweifelte Hoffnung auf Heilung und Schutz, macht den lichtempfindlichen Pilz zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.
Robert, Maries Bruder, beginnt als Elektriker in einem heruntergekommenen Theater, in dem ein alter, exzentrischer Regisseur, Jeremy Fairfax, eine Shakespeare-Produktion plant. Dieser stellt ihn ein mit den Worten: »Unser Leben ist zu kurz, als dass wir darin etwas anderes als Amateure sein könnten.«
In wenigen Wochen soll Hamlet aufgeführt werden, doch die Schauspielerin, die die Rolle der Ophelia übernehmen soll, ist schwer verstrahlt und befindet sich in ärztlicher Behandlung, weshalb die Proben nur bedingt weitergeführt werden können. Robert – von der Wirklichkeit absorbiert und in den Bann des Theaters gezogen – hat Zugriff auf den Pilz seiner Schwerster und möchte die todkranke Schauspielerin heilen, um die Produktion zu retten. Es gelingt ihm aber nicht, weil das Misstrauen der Ärzte gegenüber der Wirksamkeit des Pilzes zu groß ist. Die behandelnde Ärztin, Madame Ambrogiano, spricht in den Telefonhörer: »Menschen vertragen sich nicht gut mit anderen Menschen, und mit Pflanzen.« Man könnte denken, dass die unsichtbare Bedrohung die einzelnen Menschen nicht zu zwischenmenschlicher, solidarischer Klarheit verleitet, sondern vielmehr zu Lügen und Intransparenz, um ihre eigennützigen, existentiellen Absichten zu kaschieren. Im tödlichen Zweifelsfall, wenn die Radioaktivität den Organismus angreift und alles zusammenzubrechen droht, beginnt die Aufrichtigkeit in den Herzen der Menschen zu erodieren. Damit zerfallen nicht nur die Körper der Betroffenen, sondern auch langsam, aber stetig ihre Beziehungen und sozialen Strukturen. Eingehüllt in die katastrophale Realität ihres Zustands, unfähig, klar zu sehen und überwältigt von der Unmittelbarkeit des Moments, sind die Menschen der unsichtbaren Strahlung hilflos ausgeliefert, bis das letzte Bild des Films der Geschichte Erlösung verspricht.
Das letzte Bild zeigt, wie Marie und Robert am Meer entlanglaufen. Der Abspann rollt über die Bildfläche, während das Element des Lebens und der Zustand ständiger Veränderung und Beziehung sich hinter der Schrift ausbreitet. Ein Bild nach all dem ihm vorangegangenen, mit einer überwältigenden Kraft: Die Undurchsichtigkeit des Meeres löst letztlich die ganze Welt auf. Der Film und die wirkliche Welt verschmelzen in ihrer Unabgeschlossenheit und entziehen sich somit einem endgültigen Ende.
Es wird weitergehen, wir wissen nur noch nicht wie.