Und so, über Gräber vorwärts!
Text: Leonie Jenning
Unmittelbar nach dem Herzstillstand sinkt die Körpertemperatur, und die Austrocknung beginnt. Die Körperfunktionen werden eingestellt und Haut und Schleimhäute nicht mehr mit Feuchtigkeit versorgt. Die Hornhaut der Augen trübt sich. Nach kurzer Zeit tritt die Leichenstarre ein. Das Stadium der Verwesung setzt ein, sobald die Zellen keinen Sauerstoff mehr erhalten und beginnen sich selbst aufzuzehren. Die Zellstrukturen lösen sich auf und die inneren Organe verflüssigen sich. Ein bis zwei Tage nach dem Herzstillstand entwickeln sich die Fäulnisprozesse. Diese breiten sich innerhalb einer Woche über den ganzen Körper aus. Dabei spalten Pilze und Bakterien organische Verbindungen des Gewebes, und Gase blähen die Weichteile des Körpers auf.
Irgendwann ist es vorbei. Und wenn es soweit ist und alles vorbei ist, stirbt zwar der Körper, aber die Seele lebt weiter – so sagt man jedenfalls. Aber eigentlich ist es genau umgekehrt: Die Seele stirbt, und der Körper lebt weiter. Während der tote Körper durch Zersetzungsprozesse in organische Substanzen zerlegt wird, die als Nährstoffe für andere Lebewesen dienen, besiedeln bereits innerhalb weniger Tage Käfer, Insekten und Larven den Kadaver. – Die letzte Verwandlung: Der Mensch wird zu Kompost.
Aber fangen wir am Anfang an: Wir Menschen erblicken als wehrlose Babys das Licht der Welt, entwickeln uns zu selbstständigen Erwachsenen, bis die Zellen ab dem dreißigsten Lebensjahr langsam anfangen zu altern, um nach dem Ableben in kompostierbares Material zu zerfallen und letzten Endes gefressen zu werden. So oder so ähnlich blüht es jedem, der einmal geboren wurde. Dieser Zustand des Nicht-mehr-Daseins, obwohl das Material des Körpers in gewisser Weise in anderer Form überdauert, hält viel länger an als das Dasein. Die meiste Zeit sind wir tot. Und die Zeit, die wir nicht tot sind, äußert sich als eine kurze dramatische Energieentladung auf dem Planeten Erde. Diese dauert durchschnittlich fünfundsiebzig Jahre von mittlerweile 4,5 Milliarden Jahren Erdzeit. Ein Leben – ein leuchtender Komet, der sofort wieder verglüht.
Es gibt verschiedene Methoden, um dieses Aufblitzen Einzelner für die Nachwelt festzuhalten. Zum Beispiel auf einem Film. Das aufgenommene Abbild eines Menschen wird dabei für die Ewigkeit aufbereitet. Der Ort des Geschehens, die Dunkelkammer muss vollkommen abgedunkelt sein, um das bereits belichtete Material nicht erneut zu belichten. Nachdem der Film entwickelt ist, werden die abgelichteten Personen letztlich durch den Lichteinfall der Projektoren, oder die Lichtquellen der Monitore unendlich oft abspielbar und somit unsterblich. Immer wieder: Leuchtende, zweidimensionale Körper auf der Leinwand, verstrickt in dramatische Zusammenhänge, die nicht ihre Leben sind.
Und dann drängt sich die Frage auf: Lebt die eine Schauspieler:in der Projektion eigentlich noch?
Beinahe zwanghaft notiere ich mir die Namen der Darsteller:innen aus Filmen und tippe sie, sobald ich vor meinem Rechner sitze, Buchstabe für Buchstabe in die Suchmaschine, um zu überprüfen, ob die Person, die ich eben auf der Leinwand oder dem Bildschirm gesehen habe, noch ein Teil meiner Wirklichkeit ist.
Ah krass, ne, die ist schon tot. Und was ist mit ihm?
In einer Szene des Films Le Théâtre des Matières von Jean-Claude Biette stürmt die Protagonistin Dorothée in das Zimmer ihres Lebensgefährten, den sie erst kürzlich kennengelernt hat, und berichtet ihm aufgelöst, dass ein alter Freund, von dem sie gelegentlich Geldgeschenke entgegennimmt, soeben in einem Lokal beim Dinner ganz plötzlich vom Stuhl gekippt und verstorben ist. „Und so, über Gräber vorwärts“, entgegnet ihr neuer Partner Hermann, indem er Goethe zitiert. Unbeirrt von der bestürzten Dorothée monologisiert Hermann anschließend über die anstehenden Probleme seiner laufenden Theaterproduktion.
Dorothée, gespielt von der französischen Schauspielerin Sonia Saviange, die zehn Jahre nach der Filmpremiere in Paris 1987 verstarb, unterbricht Hermann in dieser Szene nach einiger Zeit und bittet ihn, ihr doch einen Tee zuzubereiten, damit sie schlafen gehen kann. Hermann, gespielt von dem Schweizer Schauspieler Mario Walter Lippert, der im Jahr 1996 in einem kleinen Ort an der Grenze zu Paris verstarb, erwidert ihre Bitte und setzt einen Topf Wasser auf, lässt jedoch nicht von seinem Thema der Arbeit am Theater ab.
Hermann ist der Leiter und Regisseur der Theaterkompanie „Le Théâtre des Matières“, in die Dorothée, nachdem sie einen Ohnmachtsanfall im Theater vorgetäuscht hat, ohne Weiteres aufgenommen wird. Hermann findet sie nach einer Theatervorstellung bewusstlos auf einer Treppe der Seitenbühne und entdeckt sofort den kostbaren Ring an ihrem Finger. Da das Theater chronische Geldprobleme hat, kommt ihm diese zufällige Begegnung sehr gelegen. Also sammelt er sie von den Stufen auf und bringt sie eine Etage nach oben – zu sich nach Hause. Nachdem Dorothée beteuert, wie gern sie im Theater spielen würde, engagiert sie Hermann sofort als Schauspielerin für das nächste Stück, eine Interpretation von Friedrich Schillers „Maria Stuart“. Die Theaterkompanie, die dieses Stück, wie auch alle anderen, unter prekären Umständen erarbeitet, wird von Hermann vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Reaktionen auf Dorothées kurzfristige Einstellung in die Produktion sind eher verhalten, was auch daran liegt, dass die Verhältnisse untereinander zum Teil zerrüttet sind und die Nerven der Einzelnen blank liegen, denn Hermann zahlt sein Ensemble sehr schlecht und verlangt zugleich dem Einzelnen sehr viel ab: Die Darsteller:innen müssen verschiedene Aufgaben, auch hinter den Kulissen übernehmen, damit das Theaterstück überhaupt auf die Bühne gebracht werden kann. Und so knabbern sie während der Proben, bei denen sie nach ihren Nebenjobs sich die Nächte um die Ohren schlagen, an trockenen Baguettes und kämpfen gegen zufallende Augenlider. Ein permanenter Ausnahmezustand.
All das tun sie mit Sicherheit nicht für das bisschen Geld und auch nicht für den Theaterleiter Hermann, sondern um die riesigen Löcher in ihren lebenshungrigen Herzen zu stopfen und weil sie sich ihrer Leidenschaft verschrieben haben: dem Spiel. „Es gibt viele Schauspieler:innen, die ihre eigenen Eltern umbringen würden, um auf die Bühne zu kommen“, klärt eine Schauspielerin der Theaterkompanie Dorothée bei einer Tasse Kaffee in der Küche auf. Sie folgen ihrer wesentlichen Sehnsucht nach Verwandlung auf der Bühne bedingungslos und wissen, dass es sich dabei insgeheim auch um eine Art Todessehnsucht handelt, die sie antreibt. Denn nur hier auf der Bühne können sie zu sich selbst kommen und das Bewusstsein über die eigene Sterblichkeit in einer neuen Form produktiv machen.
„(…) der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt (…)“, schreibt Friedrich Schiller 1795 in den „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ fünf Jahre bevor sein Drama Maria Stuart in Weimar uraufgeführt wurde und zehn Jahre vor seinem Tod.
Im Spiel setzt der Mensch also alles auf eine Karte, in der Hoffnung für wenige Momente selbst zum Material zu werden. Augenblicke des Ich-Todes, der Ich-Transzendenz, in denen ökonomische und soziale Verhältnisse vollkommen außer Kraft gesetzt sind. Spielen kann die Rettung aus der unmittelbar-alltäglichen Ohnmacht sein und die Möglichkeit, Teil von etwas Größerem zu werden – etwa einem Film. Filmmaterial hält fest und schafft neue Zusammenhänge. Der abgelichtete Mensch gehört nicht mehr nur sich selbst, sondern einer Geschichte, die ihrer eigenen Vergänglichkeit unterliegt. Er wird tot und lebendig zugleich.