Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Leo der Spaziergänger

Kei­ne Sor­ge, das wird kei­ne die­ser anstren­gen­den Hul­di­gun­gen, die über­las­se ich jenen, die glau­ben, ihr Herz an jene ver­lie­ren zu müs­sen, die mit ver­gol­de­ten Schu­hen in Kunst­stoff tre­ten. Aber etwas ist mir dann doch auf­ge­fal­len und ich fän­de es gera­de­zu fahr­läs­sig, das nicht zu Papier zu brin­gen, schließ­lich darf man nicht nur an den Lip­pen jener hän­gen, die uns unab­läs­sig erzäh­len, dass die popu­lä­re, zugleich vul­gä­re und edle Fas­zi­na­ti­on am Cal­cio mit dem kal­ten und wett­be­werbs­för­dern­den Ergeb­nis zusam­men­hängt, die­ser end­los glei­chen, furcht­bar anöden­den Fra­ge, wer denn nun gewon­nen und wer ver­lo­ren hat. Der wah­re Tifo­so (das Wort hängt übri­gens mit der Infek­ti­ons­krank­heit Typhus zusam­men, Dunst und schwin­del­erre­gen­dem Nebel) weiß es längst bes­ser. Sie oder er inter­es­siert sich nicht für das Ergeb­nis, es ist näm­lich klar, dass alles, was heu­te auf der Anzei­ge­ta­fel steht, mor­gen schon ganz anders aus­se­hen kann. Ver­gan­ge­ne Erfol­ge ver­en­den in der Schnell­le­big­keit, sich dar­an zu klam­mern, wäre fatal. Es ist ein gro­ßes Miss­ver­ständ­nis, dass irgend­wer als Sie­ger vom Platz gehen kann, man irrt, wenn man glaubt, dass eine Titel­samm­lung zählt im Ange­sicht der Ver­gess­lich­keit der Welt. Es blei­ben nur Namen und ein zwei­fel­haf­ter Ruhm, der von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter­ge­reicht wird wie Glau­bens­ri­tua­le. Das hilft viel­leicht dem Ein­zel­nen, der sich an den ver­geb­li­chen Trost der aller­dings ver­blas­sen­den Erin­ne­rung klam­mern kann, aber nicht dem Sport, der sich unent­wegt ver­glei­chen muss mit dem mytho­lo­gi­schen Gewicht, das sich inzwi­schen wie ein ret­ten­der Hafen, egal wie erlo­gen und über­trie­ben die alten Geschich­ten auch sein mögen, gegen die Kom­mer­zia­li­sie­rung und Bana­li­sie­rung die­ses Mas­sen­phä­no­mens stemmt.

Nein, der wah­re Tifo­so spürt, dass es in sei­nem Sport nur um zwei Din­ge gehen kann: Zum einen die Über­win­dung der Sinn­haf­tig­keit und zum ande­ren, um die lächer­li­chen, komö­di­an­ti­schen Bei­la­gen die­ser Über­win­dung. Die Über­win­dung der Sinn­haf­tig­keit kennt vie­le Schön­hei­ten und eine Häss­lich­keit. Ist es nicht wun­der­bar selt­sam und will­kür­lich und gegen sämt­li­che phy­si­ka­li­sche, neo­li­be­ra­le, evo­lu­tio­nä­re Logik gerich­tet, dass aus­ge­rech­net elf Spie­ler, nicht vier oder drei­und­zwan­zig mit ihren Füßen (und Bei­nen, Brüs­ten, Köp­fen, Ärschen, Hüf­ten, Rücken, Gesich­tern, Häl­sen, Geschlechts­tei­len, Fer­sen, nur bit­te nicht mit den Hän­den, auch wenn unklar ist, wo eine Hand beginnt und wo sie endet) in einem für die­sen Zweck her­ge­stell­ten, exakt abge­wo­ge­nen und abge­mes­se­nen Kunst­stoff­ball tre­ten, um zu ver­su­chen, sel­bi­ge Kugel in ein recht­ecki­ges Gestän­ge zwi­schen das ein Netz gespannt wird, zu beför­dern, und dass sie die­sem Ziel, also jenem, öfter in die­se Maschen zu tref­fen als elf ande­re Spie­ler, von denen Jean-Paul Sart­re ein­mal sag­te, dass sie es sei­en, die den Sport unend­lich erschwer­ten, fol­gen, in einer Spiel­zeit, die mit unge­fähr zwei­mal 45 Minu­ten bemes­sen wird und dass Frau­en und Män­ner mit Fah­nen und Pfei­fen ver­su­chen, das Gesche­hen gemäß täg­lich zu Streits ver­an­las­sen­den Regeln zu kon­trol­lie­ren? Die­se absur­de Grund­si­tua­ti­on (man stel­le sich das Fuß­ball­feld als eine Thea­ter­büh­ne für ein Beckett-Stück vor) ermög­licht ver­schie­de­nen Fak­to­ren, zum Bei­spiel dem Zufall, dem Uner­klär­li­chen, dem Unge­rech­ten oder dem Ästhe­ti­schen seit Jahr­zehn­ten ein Über­le­ben wider aller büro­kra­ti­schen und finanz­ori­en­tier­ten Ver­su­che grö­ße­rer Plan­bar­keit und damit ver­bun­de­ner Gewinn­ma­xi­mie­rung. Die Über­win­dung der Sinn­haf­tig­keit, ein Tifo­so weiß es, ist der roman­ti­sche Kern sei­ner bescheu­er­ten Lie­be, der Grund, war­um man einst vom schö­nen Sport sprach.

Doch damit ein­her geht auch eine Häss­lich­keit, näm­lich die, dass die Absur­di­tät die­ser Über­win­dung jeg­li­cher Sinn­haf­tig­keit, effek­ti­ver scheint, wenn der Sport an Wich­tig­keit gewinnt. Je wich­ti­ger man den Stumpf­sinn nimmt des­to schö­ner sei­ne Lächer­lich­keit, des­to grö­ßer die Befrei­ung vom täg­li­chen Gewicht des Lebens, des­to stär­ker die Gefüh­le. Die­se Wich­tig­keit jedoch steht in kei­ner­lei Ver­hält­nis zur Welt, aus der der Cal­cio aus­zu­bre­chen ver­spricht. Schon vor Jahr­zehn­ten hat die­ser Sport, nicht zuletzt auf­grund sei­ner media­len Aus­beu­tung, so sehr an Wich­tig­keit gewon­nen, dass es ihm unmög­lich wur­de, ein Gegen­ge­wicht zum All­tag zu bil­den. Statt­des­sen wur­de er in die­sen inte­griert, er wur­de zum Dis­kurs­ob­jekt, Poli­ti­kum, zum Grund schei­tern­der Ehen, zum Anlass für Gewalt, Natio­na­lis­men, zum Sinn­bild kapi­ta­lis­ti­scher Ungleich­heit, zum Anlass uner­träg­li­cher, nicht enden wol­len­der Wer­bung, zur Per­ver­si­on des­sen, was einem ohne­hin jeden Tag begeg­net. Dabei könn­te man sich leicht auf die lächer­li­chen und komö­di­an­ti­schen Begleit­um­stän­de kon­zen­trie­ren. Ganz befreit von irgend­ei­ner Bedeu­tung schwim­men sie im Dunst­kreis die­ses Sports.

Sie sind der Grund, war­um der wah­re Tifo­so den Ama­teur­sport bevor­zugt, denn er weiß, dass dort das Poten­zi­al für die Unfass­bar­keit, die Aus­he­be­lung phy­si­ka­li­scher Grund­sät­ze nicht nur höher ist als bei den Pro­fis, sie ist auch voll­kom­men in ihrer Lächer­lich­keit. Statt Son­der­sen­dun­gen im TV gibt es höchs­tens einen Lach­an­fall im Sport­heim, weil die Num­mer 4 in der 95. Minu­te vor Wut ihr Tri­kot zer­ris­sen hat oder weil eine ver­irr­te Krä­he dem Tor­wart von der Lat­te in den Nacken kack­te. Die Tat­sa­che, dass eben jene Num­mer 4, obwohl der Trai­ner mehr­fach dar­auf hin­ge­wie­sen hat­te, Frei­stö­ße im Mit­tel­feld kurz aus­zu­füh­ren, bereits in der drit­ten Minu­te aus der Mit­te einen hoff­nungs­los schei­tern­den, nie­mals vom Boden abhe­ben­den Dia­go­nal­ball (allein die­ses Wort ist Aus­druck herr­li­cher Absur­di­tät) in die Füße des Geg­ners schlägt, beschreibt das, was die­sen Sport aus­macht. Die jüngs­te deut­sche Fas­zi­na­ti­on (kurz­le­big wie sie war) für den irgend­wie aus die­ser ech­te­ren Welt stam­men­den Stür­mer Nic­las Füll­krug erzählt genau von die­sem Begeh­ren im Tifo­so, das was sie oder er immer noch, zuneh­men­den ver­zwei­felnd, in die­sem Sport sucht.

Abhil­fe schafft da nun aus­ge­rech­net einer, der eben jene Roman­tik bis­lang eher mit Füßen trat. Es geht um den argen­ti­ni­schen Wer­be­bot­schaf­ter für unzäh­li­ge untrag­ba­re Unter­neh­men, Lio­nel Andrés „Leo“ Mes­si Cuc­cit­ti­ni. Die­ser Mann, der seit Jah­ren mehr und mehr aus­sieht wie ein alter, müder Karp­fen in einem Aqua­ri­um, einer, der mit halb­ge­öff­ne­ten Mund nur noch lang­sam durch das trü­be Was­ser schwebt, so lang­sam, dass Kin­der vor dem Aqua­ri­um mit dem Fin­ger auf das Tier zei­gen und ihre Müt­ter fra­gen, ob es ihm nicht gut gehe, hat zunächst mit der gera­de­zu unmensch­li­chen Per­fek­ti­on, der Ele­ganz und Effek­ti­vi­tät sei­nes Spiels die Lächer­lich­keit hin­ter­fragt (sein Spiel über­wand die Wirk­lich­keit eher mit einem magi­schen Rea­lis­mus, dem plötz­li­chen Auf­tau­chen von Bewe­gun­gen, die man eigent­lich nur erträu­men konn­te) und dann mit sei­ner geld­ori­en­tier­ten Über­wich­tig­keit, der Arbeit für Scheichs und Flug­ge­sell­schaf­ten, die er mit dem Charme eines See­len­lo­sen ver­mit­tel­te. Mes­si strahlt nicht wie sein stets gegen die Regeln der Welt rebel­lie­ren­der Vor­gän­ger Die­go Mara­dona, Mes­si hat sich nicht auf die Sei­te der Ver­lie­rer geschla­gen, um mit ihnen die Sinn­haf­tig­keit zu besie­gen, nein, er ruht im Reich der Gewin­ner, jene, die den Cal­cio in den Abgrund geführt haben. Aber seit eini­gen Jah­ren begeis­tert der ver­göt­ter­te Gesel­le mit einer Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­keit, die den Cal­cio von sei­ner auf­ge­bla­se­nen Wich­tig­keit zurück in die Schön­heit sei­ner Lächer­lich­keit führt. Die­ser Mes­si hat sich näm­lich ent­schie­den, im hoch­kör­per­li­chen, durch­ana­ly­sier­ten moder­nen Leis­tungs­sport als gera­de­zu teil­nahms­lo­ser Spa­zier­gän­ger auf­zu­tre­ten. Ver­träumt schlen­dert er über den Rasen und schaut sich um wie einer, der gar nicht weiß, was das alles soll und war­um er hier gelan­det ist. Er bleibt ste­hen und schaut sich um. Mes­si muss der ein­zi­ge Spie­ler sein, der nach dem Spiel von der ange­neh­men Bri­se im Sta­di­on, den Wol­ken am Him­mel oder der Form der an den Gras­hal­men kle­ben­den Spu­cke berich­ten kann. Damit tritt er nicht in die Fuß­stap­fen von Pelé oder Mara­dona, son­dern in jene von Robert Wal­ser oder Charles Baudelaire.

Mes­si ist ein See­len­ver­wand­ter Peter Hand­kes. Wäh­rend um ihn alle wie auf­ge­scheuch­te Hen­nen ren­nen, ver­tei­digt er ver­krampft und doch erha­ben die Lang­sam­keit. Mes­si ist ein Fla­neur. Das hat schon begon­nen, als er noch in Bar­ce­lo­na leb­te, da hat man ihn manch­mal drei­hun­dert Meter weit im Abseits spa­zie­ren sehen, die um ihn herr­schen­de Panik igno­rie­rend. Es mag stim­men, dass sei­ne Träg­heit trügt, dass sie eher an ein Raub­tier erin­nert, das sich mög­lichst wenig bewegt, um nicht von der Beu­te ertappt zu wer­den, aber Mes­si hat sein Fla­nie­ren so per­fek­tio­niert, dass es selbst zum Sinn sei­nes Spiels wur­de. Es ist egal, ob Mes­si plötz­lich explo­diert und ein Tor schießt, der Tifo­so weiß, dass es viel schö­ner ist, ihm beim Spa­zie­ren zuzu­se­hen. Schritt für Schritt, es ist eine Zeit­lu­pe, die end­lich ver­lang­samt, was immer schnel­ler wur­de. Manch­mal steht er ein­fach da. Man ist sich nicht sicher, ob ihm gera­de ein Gedan­ke kommt, ein revo­lu­tio­nä­rer Ein­fall womög­lich, einer, der alles ver­än­dern könn­te oder ob er ein­fach nur in der Lee­re ver­weilt wie ein Stumpf­sin­ni­ger in der Wüs­te. Es gibt Pha­sen in einem Spiel, in denen schaut Mes­si nicht mal in die Rich­tung des Balls. Es inter­es­siert ihn nicht, er hat Bes­se­res zu tun. Im Ama­teur­sport gibt es vie­le sol­che Mes­sis, es sind die, die ehe­mals höher gespielt haben, die heu­te mit Bier­bauch im Mit­tel­kreis ste­hen und die Bäl­le ver­tei­len, die zu einem Sprint pro Spiel anset­zen und sich dabei fast zer­ren. Aber Mes­si geht schö­ner als sie, er geht schö­ner, weil das lang­sa­me Gehen viel mehr bedeu­tet, wenn alle ande­ren ren­nen. Der wah­re Tifo­so weiß, dass Mes­sis Aus­zeich­nun­gen zum Spie­ler des Spiels nichts mit sei­nen Toren zu tun hat. Er bekommt die Tro­phä­en dafür, dass er die Kunst des Gehens in der wich­tig­tue­ri­schen Auf­ge­scheucht­heit ver­tei­digt. Dank ihm lebt der Cal­cio, man kann nur hof­fen, dass er noch eini­ge Jah­re wei­ter­geht, denn je älter er wird des­to lang­sa­mer wird er gehen, des­to mehr wird er ste­hen und des­to rei­ner wird sein Auf­be­geh­ren gegen die Schnelllebigkeit.