Manakamana von Stephanie Spray & Pacho Velez

Mit der Arbeit des Sensory Ethnographic Lab in Harvard hat ethnographisches Filmemachen an den Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation in den vergangenen Jahren neue Höhepunkte erreicht. Zurzeit widmet Doc Alliance diesem Schaffen eine umfassende Retrospektive. Zweifellos ist Manakamana von Stephanie Spray und Pacho Velez einer der eindrucksvollsten Filme, die bislang unter dem Label dieser filmischen Forschung entstanden sind.

Zu sehen sind unterschiedliche Menschen und Tiere, die mit einer Seilbahn hinauf zum und hinab vom Manakamana Tempel in Nepal fahren. Dort huldigt man die Hindu-Göttin Bhagwati. Dabei folgt die 16mm-Kamera der jeweils ca. 10-11minütigen Fahrt bis das Magazin leer ist (was in einem formalen Geniestreich ungefähr derselben Länge entspricht). In diesem festgesetzten Zeitrahmen bekommen wir also die Chance Menschen kennenzulernen. Auf diese Weise kreiert der Film eine eigene Zeiteinheit und zieht diese ganz wie in der großartigen Uhrzeigerszene in Ingmar Bergmans Vargtimmen kompromisslos durch. Dadurch, dass wir wissen wie lange wir Zeit haben, die Personen oder Tiere zu betrachten, können wir diese Zeit gleichzeitig vergessen, als dass sie uns erst richtig bewusst wird. Es ist eine Frage der Akzeptanz und der Wahrnehmung. Respektieren wir diese Zeit?

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Manakamana spielt ständig mit Gegensätzen, die ein Erfahren menschlicher Gesichter ermöglichen und dadurch auch Ethnographie als solche zum Thema machen.

1. Aktivität und Passivität

Ein erster Gegensatz findet sich in der Aktivität einer Pilgerreise und der Passivität des Transports zum Tempel. Eine Frau sagt, dass es gut sei etwas zu machen, raus zu gehen, während sie machtlos im Wagen sitzt. Die Fahrt gleicht – wenn man sie in katholischen Terminologien betrachtet – einer Himmelsfahrt. Dadurch wird das Spirituelle nicht durch die körperliche Anstrengung spürbar sondern wird zu einem inneren Prozess. Aber auch beim Zuseher stellt sich dieser Gegensatz ein. Betrachtet man die Gesichter über die gesamte Zeit aktiv oder driftet man ab? Wie blickt man auf die Personen gegenüber, wie viel Zeit glaubt man, dass man braucht, um jemanden einschätzen zu können? Nicht nur deshalb ist Manakamana auch ein Film über Casting. Die beiden Filmemacher mussten Personen finden, die eine Neugier des Blicks wecken und zwar nicht, weil sie eine interessante Geschichte zu erzählen haben, sondern weil sie durch ihr Aussehen etwas erzählen, etwas auslösen.

2. Eindruck und Ewigkeit

Vor allem der erste Eindruck ist es, der hier zählt und mit dem auch gespielt wird. Die im Schwarz fließenden Übergänge zwischen den Passagieren, der die eingangs beschriebene Zeit außer Kraft setzt, sie gleichzeitig zurück- und vorspult und uns hilflos im Raum schweben lässt, führt uns die Figuren zuerst als Schatten, als Silhouette, seltener als Stimme vor. Mit der Veränderung des Bilds verändern sich auch die Figuren. Dann plötzlich sitzen sie vor uns und alles scheint normal und doch überraschend. In wenigen Augenblicken stellt man sich darauf ein, wen man nun beobachten wird. Dabei spielen Spray und Velez mit den Erwartungen. Zum einen wird erst nach gut 20 Minuten im Film zum ersten Mal gesprochen und zum anderen verhalten sich auch die einzelnen Individuen anders als man zunächst glaubt. Bestes Beispiel dafür sind zwei Frauen, die lange Zeit nichts sagen, bevor sie sich plötzlich auf Englisch unterhalten. Es ist klar, dass solche Szenen eine Kritik an einem dominanten westlichen Blick sind, da wir zu wissen glauben und uns überlegen fühlen, obwohl wir weder wissen noch überlegen sind. Wenn wir dann plötzlich die dominante Sprache unserer Welt hören, fühlen wir uns ertappt. Ähnlich verhält es sich mit der Selbstironie zweier Frauen, die ein Eis essen und dem latenten Humor, der auch andere Szenen des Films durchzieht. Trotz des hermetischen, an Andy Warhols Screen Tests erinnernden Aufbaus, herrscht hier eine große Freiheit der Gesichter und Bewegungen, die zwar wohlüberlegt ausgesucht wurden, aber immer gegen die Einfachheit einer Kategorisierung arbeiten. Die Ewigkeit als Gegensatz ist dabei natürlich dem religiösen Unterfangen geschuldet. Vielleicht ist die Ewigkeit die Kamera. Aber das ist ein anderes Thema.

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3. Tradition und Modernität

Ein durchaus offensichtliches Thema des Films ist dabei der Gegensatz von Tradition und Modernität. Das beginnt schon beim Setting an sich, denn schließlich sitzen die Figuren in einer Seilbahn auf dem Weg zum Tempel. Immer wieder wird erwähnt, dass man den Weg früher auf einem Pfad zurückgelegt hat, nun würde gar eine Straße gebaut werden. Auch das penetrante Handyfotografieren einer jungen Rockmusiker-Gruppe wirkt paradox angesichts des Settings. Es fällt auf, dass häufig über diese Veränderungen gesprochen wird, aber sie von niemand gewertet werden. Eher herrscht Verwunderung für die Tatsache, dass man den Weg zum Tempel früher zu Fuß zurücklegen musste. Natur und Kultur existieren hier in einer nicht immer harmonischen, aber notwendigen Zweisamkeit.

4. Primärton und Tondesign

Ein spannender Gegensatz offenbart sich auch im Ton. Die Zusammenarbeit mit Ernst Karel, der nicht nur viele der Filme aus der Sensory Ethnographic Lab vertonte, sondern auch an einem Seilbahn-Sound-Projekt arbeitete, ermöglicht es den Filmemachern eine ganz eigene Stimmung zu entwerfen, die in sich selbst als ethnographische Forschung funktioniert. Dabei fallen vor allem die krachenden Übergänge an den einzelnen Zwischentürmen auf und der fast traumartige Übergang zwischen den Passagieren, der kaum merklich in unseren Ohren zergeht. Eine gewisse Bedrohung entsteht dabei zum Beispiel, als wir zusammen mit den Ziegen auf den Berg fahren. Insbesondere zu Beginn, als noch nicht gesprochen wird, kann jedes Geräusch zu einem kleinen Ereignis werden. Ein Husten, ein Rascheln. Die Frage, ob wir manipulierten oder primären Ton hören, erzeugt eine Spannung, der man im Lauf der Fahrten immer wieder verfallen kann. Schließlich liegt dort auch eine ethische Frage, die so sehr den fiktionalen und dokumentarischen Kern der Arbeit von Spray und Velez trifft. Den Gegensatz zum Tondesign bildet immer wieder die Sprache, die jedoch erst nach einer gewissen Zeit zum ersten Mal erklingt. Sobald die Menschen sprechen überraschen sie uns. Ein unüberwindbares Tal tut sich da auf zwischen unserer Antizipation durch das Sehen und unserer Wahrnehmung durch das Hören. Sprache und Bild können hier gar nicht zusammengehen. Es stellt sich natürlich die Frage worin mehr oder welche Wahrheit liegt. Darin liegt wiederum die philosophische Frage nach unserem Umgang mit dem Fremden und der Möglichkeiten, diesen filmisch festzuhalten. Denkt man an Arbeiten von Robert Flaherty wird man immer feststellen können, dass das Fehlen der Sprache das Mythologische geradezu provoziert, das der Filmemacher dann häufig durch seine Narrative oder Zwischentitel verstärkt hat. Ist Manakamana also ein Film über die Fehlbarkeit des Sehens? Wohl kaum, denn die Sprache ist ähnlich löchrig. So muss man natürlich immer von einer Selbstdarstellung ausgehen, die sich durchaus bewusst ist, dass sie aufgenommen wird. Sprache versteckt, Sprache verschleiert. Nebeneinander und hintereinander jedoch kommen die beiden Kategorien von Bild und Sprache einer Wahrheit nahe, die exakt mit dem ethnographischen Interesse harmoniert.

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5. On und Off

Der Ton hängt natürlich auch mit dem Gegensatz von On- und Offscreen zusammen, der in Manakamana vielfach und verschieden eingesetzt wird. So gibt es einmal jenen Offscreen, den die Figuren sehen. Effektiv sehen wir nie, was die Figuren sehen. Sie blicken aus ihrer Bahn und kommentieren immer wieder, was es dort gibt: Häuser, Menschen, der alte Pfad, die schönen Hügel. Wir können diese nur erahnen und dadurch bekommen nicht die Dinge an sich eine Bedeutung sondern die Haltung der Menschen dazu. Ein weiterer Offscreen betrifft das Unten. Wir können oft nicht genau erkennen, was Figuren in der Hand halten, werden manchmal davon überrascht. Noch viel heftiger wirkt allerdings das zeitliche Off. Nach der Hälfte der Zeit bewegen wir uns nicht mehr auf den Berg hinauf sondern fahren hinunter. Wir sehen also Menschen nach ihrem Kontakt mit der Göttin. Nun sind wir nicht sonderlich überrascht, dass es keine großen Symptome einer solchen Begegnung gibt, aber da der Film in seiner letzten Fahrt auf ein älteres Paar zurückkommt, dass wir bereits auf dem Weg nach oben begleiteten, stellt sich durchaus die Frage, was ihnen in der Zwischenzeit widerfahren ist. Ähnlich verhält es sich auch mit den Tieren, die nach oben fahren. Hier fragt man sich, was mit ihnen dort passieren wird. Es ist ein Wechselspiel aus Antizipation und Unwissenheit und wie so oft rückt der Tempel gerade dadurch in den Fokus unserer Neugier, weil wir ihn nie sehen.

6. Präsenz der Kamera und Abwesenheit eines Eingriffs

Ein weiteres prominentes Element des Offscreens in Manakamana ist die Kamera beziehungsweise die Personen hinter der Kamera. Beim Sehen des Films glaubt man eigentlich, dass die Kamera im Wagen montiert wurde und sonst niemand dort ist. Die Figuren agieren allesamt äußert unaufgeregt. Niemand spricht jemals mit der Kamera oder einer Person dahinter. Ich habe auch keinen Blick dorthin gesehen. Zwar schauen die Passagiere von Zeit zu Zeit in die Kamera und kommentieren diese sogar kurz, aber die Ruhe und Natürlichkeit der Laiendarsteller, die jederzeit Passagiere einer Seilbahn und nie Darsteller vor einer Kamera scheinen, ist bemerkenswert. Dennoch bestätigen die Filmemacher in Interviews ihre Präsenz in der Bahn während der Takes. Obwohl die Auswahl und auch manches Schweigen durchaus gewollt wirkt, erwecken Spray und Velez den Eindruck, dass sie Vieles geschehen lassen. Hier befinden wir uns genau am Kern dieser schmalen Nonfiction-Linie, die niemals vollständig erkennen lässt, ob wir es mit einer Inszenierung oder einer Beobachtung zu tun haben. Durch dieses Vorgehen dürfte auch dem letzten Verfechter von schon bei ihrer Erfindung überholten Prinzipien klar sein, dass diese Unterscheidungen keine Rolle spielen. Das Fiktionale ist in das Dokumentarische eingeschrieben und das Dokumentarische in das Fiktionale. In dieser Kombination kann eine filmische Wahrheit entstehen, die im Fall des Sensory Ethnography Lab immer auch wissenschaftliche Rückschlüsse zulässt beziehungsweise parallel zu Forschungen entsteht. Die Ethik gilt dabei immer den Dingen vor der Kamera und nicht dem Zuseher. So ist die scheinbar offensichtlichste Gegensatz, nämlich jener zwischen dem Bekannten (der Kamera) und dem Fremden (den Passagieren), gar nicht so eindeutig, was zum einen daran liegt, dass die Kamera natürlich nicht einfach „bekannt“ ist sondern eher eine Beziehung zum Fremden aufbaut, die das Bekannte im Fremden offenbart beziehungsweise das Fremde im Bekannten. Außerdem gibt es bereits bevor die Kamera läuft ein Verhältnis zwischen Filmemacher und Passagieren. Viele der Figuren waren sogar schon teil vorheriger Projekte von Stephanie Spray, womit auch klar wird, dass der Film nicht unbedingt Forschung ist sondern ein künstlerischer Ausdruck der Ergebnisse dieser Forschung. Natürlich dreht sich dadurch auch ein weiteres Fremdheitsverhältnis und zwar jenes zwischen den Passagieren und der Kamera, da diese bereits Erfahrung mit ihrer eigenen filmischen Präsenz haben.

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7.Bewegung und Stillstand

Augenscheinlich bewegt sich die Kamera immerzu, ohne dass sie sich bewegt. Der Film ist ein ewiger Phantom Ride mit blockierter Sicht, ein Schwebezustand, der zunächst einen Einblick verschafft, dann aber auch darauf verweist, dass der Boden verlassen wird, die Zeit außer Kraft gesetzt wird, um eine Art Standbilder der Gesellschaft zu bekommen. Das Bild von Bewegung und Stillstand verweist natürlich auch auf die bereits angesprochenen Dichotomien von Tradition und Moderne, Aktivität und Passivität. Allerdings versteht Manakamana diese Ideen als ästhetische Kategorie.

Statt einiger Forscher mit Kameras sehen wir hier Filmemachern zu.

Noch bis zum 29.März kann man Manakamana und weitere Filme des Sensory Ethnography Lab kostenlos bei Doc Alliance sehen.

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