Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Mémoire Volontaire: Filmmomente 22

Wir haben gemeinsam Flüchtiges erinnert.

Ronny Günl

Vielleicht noch nicht zu spät

Meeresrauschen, salziger Wind und schwankende Schattenbilder lassen in Helena Wittmanns Human Flowers of Flesh Sekunden in Minuten und Stunden in Tagen verfließen. Die Besatzung eines Segelschiffs begibt sich auf eine Reise ohne Ziel über das Mittelmeer. Sie treiben von Hafen zu Hafen, doch keine Irrfahrt. Als zöge sie ein ferner Ort außerhalb der Sicht über die Reling an, steuert das Schiff gen Süden. Eingewebt in wortkarges Seemannsgarn streckt sich Wittmanns Film in alle Richtungen, wie beim Erwachen nach einem Dämmerschlaf. Ausgerechnet in Marseille, der Stadt gestrandeter Reisender, bemerkt die Protagonistin Ida das verborgene Ziel. Daraufhin findet der Film in der algerischen Hafenstadt Sidi bel Abbès, verkörpert durch Denis Lavant als Galoup aus Claire Denis Beau travail, gewissermaßen zu seinem eigenen Ursprung. Verlor sich auf dem Weg bis dorthin jegliche Vorstellung von Zeit, wird sie wie von einem Schauer zwischen den Schultern plötzlich von hinten eingeholt und umschlossen.

Der Film erreicht sein Ende und verharrt doch an einer Schwelle, in jener Weise wie Ida, gespielt von Angeliki Papoulia, für einen Augenblick im Inneren eines Cafés vor dem Fenster mit Blick nach Außen innehält. Schaut man durchs Glas, erkennt man im Vorbeiströmen der Menschen die vergehende Zeit, der man sich entzogen hat. Eine Erfahrung die sich sowohl im Asia-Restaurant um die Ecke als auch im Kino machen lässt. Joyce Wielands Film Reason over Passion, unlängst zusehen im Österreichischen Filmmuseum, macht sich dies zu eigen, indem er gerade aller Zerstreuung entgegen durch einen monotonen, rhythmischen Signalton den Takt vorschreibt. Dazwischen, kurze Aufblenden einer Reise durch das verschneite Kanada. In heller Erwartung des nächsten Tons beginnt man wie von Sinnen zu zählen. Die Vernunft triumphiert über die Sehnsucht und wird zum Irrsinn. Wie lang ein Film dauert, lässt sich wohl kaum unmittelbarer beschreiben.

Dass gewisse Filme zu lang seien, ist im vergangenen Jahr hörbarer denn je geworden. Scheinbar muss sich die Zeit im Kino wieder lohnen. Die Zeit ist wertvoll und darf nicht verschwendet werden, schon gar nicht für schlechte Filme. Mit zu viel Zeit im Kino könnte man vielleicht auf falsche Gedanken kommen. Stattdessen erzählt uns die Rolex-Werbung als Sponsor der Academy Awards vor Beginn eines jeden Films, warum wir ins Kino gehen. Wir müssen wissen, was gut und das richtige Maß ist. Als neulich meine Uhr aufgrund der leeren Batterie während eines Films stehen blieb, wunderte ich mich, wie viel Zeit vergangen sein mag. Etwas war abhanden gekommen, ohne dass es fehlte. Oder fehlte etwas, ohne dass es abhanden gekommen war? So wie im vergangenen Jahr bekannte oder weniger bekannte Ikonen verstarben, müsste man möglicherweise anstatt Totenkult zu betreiben, zunächst ihre hinterlassene Leerstelle begreifen. Insofern ist es vielleicht noch nicht zu spät.

Bianca Jasmina Rauch

Aus dem Leben gerissen

Immer wieder komme ich auf sie zurück. Unbewusst verleihe ich ihnen einen mystischen Charakter, der in ihrer fernen Nähe zum Umbruch schlummert: die 70er Jahre. Gesellschaftliche Umbrüche schreiben sich stets auch auf der persönlichen Ebene ein. Erst kürzlich stellte ich verblüfft fest, dass der Beginn der 70er meinem Geburtsjahr viel näher ist als das Hier und Jetzt. Vielleicht ist die ferne Nähe also doch eher eine nahe Ferne. Warum ich verblüfft bin darüber? Weil die 70er aus heutiger Sicht doch so weit weg aussehen. Ich verspüre das unstillbare Bedürfnis, dieses Jahrzehnt des Umbruchs zu fassen, Bilder dieser Zeit in ihrer Bedeutung zu begreifen. Vielleicht hoffe ich so auch mich, meine Eltern, die Welt – oder was ich eben dafür halte – besser zu verstehen. Jetzt ist die Vergangenheit vorbei, sie kann nicht mehr auf die Weise begangen werden, mit der man zeitlebens durch sie ging. Die Vergangenheit existiert nur mehr in unseren Erzählungen – schön, nebulös, traumatisch oder einfach: unabwendbar.

Wie gelingt uns ein Blick in die erlebte Vergangenheit, der nicht dazu dient, verklärte Nostalgie vorzuschieben, sondern die Dinge in neues Licht zu rücken? Ich spreche nicht von Fakten, sondern von Erfahrungen, vom subjektiv geprägten Blick ins Gestern. Annie Ernaux widmet ihr Schreiben diesen Blicken ins Gestern, ins Vorgestern, ins Vorvorgestern. Für Les années Super-8 verbalisiert sie ihren heutigen Blick auf Bilder aus ihrem Familienarchiv, Beginn: 1972. Erst in dem Augenblick, in dem die Schriftstellerin Aufnahmen ihrer selbst fünf Jahrzehnte später kommentiert, gewinnen diese aus dem Leben gerissene und bis heute auf Zelluloid gebannten Momente an Bedeutung. Heute verknüpft sie Fragmente aus der Vergangenheit zu einer logischen Struktur, damals war sie vom Lauf der Dinge selbst und von dem, was sie bis dahin erlebt hatte, eingenommen. Bedeutung lässt sich später, mit dem sicheren Wissen über kommende Erfahrungen, leichter erschließen, dabei hätten wir ein Verständnis unserer Selbst oft gern schon früher.

Dieser Frau, die kommentiert, wurde dieses Jahr der Literaturnobelpreis verliehen, diese Frau, die schüchtern lächelnd in die Kamera blickt, schreibt zu diesem Zeitpunkt nur heimlich. Heute zirkulieren ihre Worte weltweit. Rückwirkend fügt sich alles wie Puzzleteilchen in ihre Biografie, die aber auch ganz anders hätte kommen können. Ich blicke diese Frau an, wie ich manchmal Kinderfotos von mir selbst ansehe, und denke „sie ahnte nichts“. Aber wer war „sie“ eigentlich? Für die heutige Ernaux scheint ihr vergangenes Ich nicht mehr so rätselhaft. In Les années Super-8 analysiert und erklärt sie sich selbst, auch die Leerstellen. Ein prägnanter Moment zeigt die Anfang-30-jährige leicht nach vorne gebeugt und mit einem Stift in der Hand an einem Schreibtisch sitzend, der von mehreren beschriebenen Blättern Papier bedeckt ist. Sie wirkt, als wäre sie unterbrochen worden. Der Blick der geheimen Schriftstellerin in die Kamera strahlt Geduld und ernste Entschlossenheit aus. Mit einen Zoom nähert sich das Bild ihrem durch die geringe Sättigung blass wirkendem Gesicht, als wollte es sich ihrem Inneren nähern. Wir hören nicht, was der Mann hinter der Linse, ihr Partner, möglicherweise sagt. Während einer darauf folgenden, zweiten Aufnahme derselben Situation lächelt sie zaghaft, worauf die Kamera mit einer kurzen wackeligen Bewegung zu ihren Texten schwenkt. Aus dem Off erzählt die wissende, erfahrene Ernaux, dass sich ihr jüngeres Selbst nicht traute, die Kamera zu führen, dass sie sich als Frau von dem technischen, wertvollen Gerät zurückhielt. Mit dem Kommentar scheint sich diese Schüchternheit, das damals noch tief schlummernde, inaktive Selbstbewusstsein, in dieser leicht gebeugten Haltung und dem Lächeln erkennen zu geben. Ich frage mich, ob ich selbst auch so an meinem Schreibtisch sitze?

Wie würde ich im Jahr 2072 mein 30-jähriges Ich kommentieren, wenn mir Google-Fotos eine Kompilation mit dem Titel „Back to the 20s“ vorschlägt? Würde ich mich überhaupt an irgendetwas erinnern können, was in mir vorging? Würde ich Mitleid, Stolz, Sehnsucht beim Anblick meines 2022er-Ichs empfinden? Was würde ich jetzt anders machen, wenn ich diese Gedanken der Zukunft schon kennen würde? Würde ich jetzige Momente mit einem ähnlich bedeutungsschwangeren Bestimmtheit wie Annie Ernaux überzeugt collagieren können? Die gegenwärtige Ernaux scheint die vergangene Version ihrer Selbst mit dem Erfahrungsschatz der Jahre und der erlangten Fähigkeit, über ihre Sehnsüchte und Ängste sprechen zu können, besser zu kennen. Die gegenwärtige Version holt die Seele ihres vergangenen Ichs hervor, die sie auf diesen Bildern erblickt.

Die Frau, die wir auf den Bildern sehen, repräsentiert einen Seelenzustand, der genauso der Vergangenheit angehört wie ihr Körper vor der Linse. Mit ihrem Kommentar versucht Ernaux die Dichotomie von Körper und Seele zu brechen und ihr Selbst als Ergebnis von Erfahrungen und Situationen, von gesellschaftlichen Strukturen und Zuständen zu beschreiben. Verwoben ist all das miteinander, enger und komplizierter als die geradlinigen Streifen des Stickpullovers, den die Anfang-30-Ernaux auf der Aufnahme trägt. Ein Individuum verstrickt in die engmaschigen Strukturen unserer Gesellschaft. Verstehe ich die 70er jetzt besser? Ernaux’ Film bildet einen weiteren Mosaikstein in meinem mentalen 70er Kaleidoskop, das die Zeiten immer mehr verschwimmen, Nähe zu Ferne und Ferne zu Nähe werden lässt, und irgendwo dazwischen sind die 90er, irgendwo da vorne 2023 und ich möchte am liebsten überall mitschwimmen.

© Film Kino Text

Eh-Jae Kim

»Es gibt Leute, die Spuren hinterlassen. Es gibt Leute, die verschwinden einfach.«

So beginnt eine Szene zwischen dem Filmemacher Peter Liechti und Anni Kugler, einer alten Dame, in seinem Film Hans im Glück. Als ich mich zurückerinnere, gilt mein erster Gedanke der alten Frau, die von Liechti verlangt, dass er sich bitte an sie erinnern soll. Liechti gibt vor, ein Foto von ihr zu schießen, sie setzt dafür ein breites, etwas zu großes Lächeln auf. Als das Foto gemacht scheint – die Kamera läuft die ganze Zeit und zeichnet das Gespräch der beiden auf –, verändert sich ihr Gesicht, sie erzählt aus ihrem Leben. So hatte ich es in Erinnerung.

Als ich die Filmszene nach einigen Wochen wieder sehe, ist es doch ganz anders. In Hans im Glück begibt sich Peter Liechti zu Fuß auf eine Reise, um sich das Rauchen abzugewöhnen. Er filmt den Besuch bei seinen Eltern, seine Großmutter und nun Anni Kugler, die alte Dame, immer mit dem Wunsch etwas von ihnen festzuhalten. Es sind intime Bilder auf dem Sofa, im Wohnzimmer. Dass Liechti vorgibt, ein Foto von Anni Kugler zu machen, während sie ihr großes Lächeln für die Kamera aufsetzt, soweit hatte ich es richtig in Erinnerung. Die Kamera sei aus, sie dürfe nun erzählen. Von einem Moment auf den anderen fällt ihr Lächeln, wie ein Vorhang, und mit ihm ihre Stimme um eine halbe Oktave. Sie erzählt mit einer Dringlichkeit, die Menschen haben, die sich ihre Worte von der Seele reden, von ihrem Leben im Alter: »Es ist ein kolossal einsames Leben, ein blödes Leben. Ich möchte halt sterben.«

Die erste Wanderung Liechtis ist fast vorbei und auf der letzten Strecke reflektiert er das Gespräch: »Zum Abschied hat sie mich bei der Hand genommen. Dass ich sie auch wirklich ernst nehme, muss ich ihr versprechen. Darauf war ich nicht gefasst. Nicht auf diese plötzliche Eindringlichkeit.« Das Gefühl von Scham legt sich über seine Erinnerungen. Die Scham färbt auch auf mich ab und ich wundere mich: Wie kam es zu dieser Verschiebung bei mir? Anni Kugler will sich nicht erinnert wissen, sie will ernstgenommen werden. Es ist der Filmemacher, der mit den Portraits sichergehen will, dass man die Menschen nicht vergisst.

Im Nachruf auf Peter Liechti findet sich bei Revolver ein Interviewausschnitt, in dem er über diese Szene spricht: »Ich glaube das ist ein sehr zentraler Punkt beim so genannt Dokumentarischen, bei der Arbeit, nicht? Wie geht man mit Protagonisten um? Ich mag das nicht, immer dieses Gesülze darum, wie man sorgfältig sein muss, wie man freundlich sein muss und so weiter und so weiter. Es gibt das Wort Verantwortung, und das ist das einzige was zählt. Kein einziger Protagonist weiß wirklich, was entsteht wenn er Ja sagt zu einer Aufnahme.«

Wie der Anspruch auf wahrheitsgemäße Darstellung, dessen Illusion sich Liechti nicht hingibt, so ist vielleicht auch der Wunsch nach einer wahrhaftigen Erinnerung an einen Menschen in dieser Szene einer, der unerreichbar bleibt, aber den Liechti für den kurzen Moment frönt. Es ist ein sehr beruhigender Gedanke, dass das Filmen die Zeit konservieren kann. Übermalt daher der Wunsch dieser Bewahrung die tatsächlichen Worte Anni Kuglers in meinen Erinnerungen? Und dann der Schreck und die Scham, dass man sich dem Bewahren so hingegeben hat, dass man sich nur an den eigenen Wunsch zu erinnern erinnert, statt an die tatsächlichen Worte der Person vor der Kamera.

Sebastian Bobik

Deklarationen der Liebe

Wenn ich zurückdenke an Momente aus Filmen, die mir dieses Jahr in Erinnerung geblieben sind, fallen mir nur solche ein, die ich im Kino erlebt habe. Ich habe dieses Jahr sehr viele Filme zuhause gesehen und viele davon waren besser als jene, die ich im Kino sah. Doch das ändert nichts daran, dass mir besonders Momente hängen bleiben, die im Dunkeln vor der großen Leinwand in Anwesenheit Anderer stattgefunden haben.

Es sind vor allem zwei einzelne Momente aus Filmen an die ich öfter denke. Sie umklammern das Jahr in gewisser Weise: Einen Moment erlebte ich im Jänner, den anderen im November. Wenn ich mich recht erinnere, erlebte ich beide im Gartenbaukino in Wien, dem größten Einsaalkino der Stadt. Womöglich spielt das auch eine Rolle.

Beides sind Augenblicke, in denen eine Art “Realität” oder “Lebendigkeit” in einen Film hereinbricht. Ich habe das Gefühl, in diesen kurzen Gesten die Filmemacher hinter der Kamera, wirklich als Person zu spüren.

Der erste Moment ist ein einfacher. Er entspringt einem Film, der manchmal aufgrund seiner Leichtfüßigkeit droht, davonzurennen, genau wie seine Protagonisten es tun. Die Rede ist von Paul Thomas Andersons Licorice Pizza.

Ein junger Mann findet sich auf einer Polizeistation wieder. Er ist 15 Jahre alt. Er wurde kurz zuvor abgeführt, ohne zu wissen weshalb. Die junge Frau, ungefähr 25 Jahre alt, mit der er unterwegs war und vor deren Augen er abgeführt wurde, läuft momentan voller Sorge zu ihm. Der Film war zuvor eine vielleicht romantisierte Idylle gewesen. Er erzählt von einem ungleichen Duo im San Francisco der 1970er, das versuchen muss, die vielen (oft verwirrenden) Gefühle zu navigieren, die sie füreinander empfinden. Der Moment, in dem plötzlich die Polizei auftaucht und unseren Protagonisten in einem Auto abführt, bricht unerwartet in den Film und zum ersten Mal regt die Gefahr der Welt ihr hässliches Haupt in der Erzählung.

Nun sitzt Gary (so heißt der junge Mann) auf einer Polizeistation. Die Kamera betrachtet ihn aus gewisser Distanz, wie er auf einer Bank in einem hellen, weißen Gang sitzt. Hinter ihm sehen wir große Glastüren. Das helle Sommerlicht flutet das Bild. Er sitzt alleine und wartet ungewiss auf das, was als nächstes mit ihm geschehen soll. Doch während man als Zuschauer bereits versucht herauszufinden, wo die Geschichte als nächstes hinführen könnte, wird Gary so plötzlich wie er festgenommen wurde, wieder freigelassen. Er ist noch völlig verwirrt, traut sich nicht einmal aufzustehen. Mittlerweile ist Alana (so heißt die junge Frau) angekommen. Sie erblickt ihn durch eine Glastür und winkt ihn zu sich. Er steht auf, kommt auf die Kamera und Alana zu.

Jetzt kommt der Moment, an den ich mich in den letzten Monaten und Wochen regelmäßig erinnere: Gary verlässt die Polizeistation durch die Glastür. Die Kamera folgt ihm nicht und dreht sich auch nicht um. Es wird auch nicht geschnitten auf eine andere Perspektive. Stattdessen bewegt sie sich nur leicht und wir sehen in der Spiegelung der Glastür, was als nächstes passiert: Gary und Alana fallen einander erleichtert in die Arme. Sie ist den Tränen nahe. Beide sind entlastet. Der Moment ist zur Gänze über diese Spiegelung eingefangen.

Schon im Kino hat mich diese Geste und ihre Einfachheit irgendwie bewegt. Es fühlt sich an wie eine Brise. Der Film selbst atmet. Eine unglaubliche Lebendigkeit offenbart sich mir in dieser kleinen Geste: Ich sehe vor mir ein Set voller Profis, die einen Hollywood Film drehen. Am Drehtag, an dem diese Szene gedreht wird, gibt es einen geplanten Gegenschuss, in dem sich die Figuren umarmen. Vielleicht eine halbnahe Einstellung oder sogar ein Close-Up, um die Gesichter der Erleichterung einzufangen. Doch an dem Tag sieht Paul Thomas Anderson die Spiegelung und spontan entscheidet er sich, alles in einer Bewegung zu filmen, ohne Schnitt. Zumindest ist es so in meiner Vorstellung passiert. Für mich ist die Spiegelung in der Glastür ein Moment von Leichtigkeit und Freiheit. Diese Geste ist für mich verwandt mit der Aussage Griffiths, dass es im Kino nicht genug Bäume gibt, die im Wind wehen und mit der Renoirs, dass man am Set immer eine Tür offen lassen müsse, damit die Welt in den Film finden könne. Es ist etwas, dass ich in vielen Filmen heute vermisse.

Auch der zweite Moment ist ein Hereinbrechen der Welt in den Film. Der Film heißt The Novelist’s Film und ist einer von drei Filmen, die Hong Sang-soo dieses Jahr präsentierte. Der Großteil des Films läuft dabei in recht bekannter Manier ab, wenn man mit seinen Filmen vertraut ist. In den letzten Minuten erscheint plötzlich ein Film im Film, den wir zu sehen bekommen. Die Schauspielerin Kin Min-hee wendet sich an die aus der Hand geführte Kamera. Sie hält ein paar selbstgepflückte Blumen und lächelt. Wir hören hinter der Kamera eine Stimme sprechen. Sie sagt die Worte “I love you”. Der Film geht weiter und erst nach etwas Zeit merke ich, was ich gerade gesehen habe. Es ist nicht mehr die Welt der Fiktion, sondern es scheint tagebuchartiges Filmmaterial zu sein. Die Person vor der Kamera ist nicht die fiktive Schauspielerin, die von Kim Min-hee in diesem Film verkörpert wird, sondern die tatsächliche Person. Die Stimme hinter der Kamera ist jene von Hong Sang-soo selbst. Das Liebesbekenntnis ist ein tatsächliches, dass nicht durch Fiktion gefiltert ist. Wer die Liebesgeschichte der Beiden ein bisschen über die letzten Jahre mitbekommen hat (schließlich war es eine Art “Skandal”), weiß Bescheid. Als ich das merkte, wurde der Film langsam unscharf, während sich in meinen Augen Tränen sammelten. Ich gestehe, dass mir der restliche Film nicht so stark in Erinnerung geblieben ist wie diese eine kleine Geste. Diese jedoch hallt immer noch nach.

Es sind zwei zärtliche Gesten der Liebe im Kino, die mir aus diesem Jahr in Erinnerung bleiben. Vielleicht liegt das daran, dass mir oft scheint, der Welt fehlt es an Zärtlichkeit und an solchen Deklarationen der Liebe. Vielleicht werde ich sie nächstes Jahr auch schon wieder vergessen haben.

Fiona Berg

Bauchgrummeln

Nach einem langen Berliner Winter vor meinem eigenen Bildschirm mit akutem Licht- und Bewegungsmangel finde ich mich mal wieder dem Festivaltrubel am Potsdamer Platz ausgesetzt, den ich doch gar nicht so sehr vermisst habe. Ich lasse es deshalb langsam angehen, die Akkreditierungsfrist hatte ich sowieso verpennt, und fange im letzten Drittel des Festivals an, Empfehlungen zu sichten, die noch nicht ausverkauft sind. Während mein Bauch mich angrummelt, um mir zu sagen, ich solle doch mal wieder joggen gehen oder eine kleine Fastenkur einlegen, haste ich gerade noch rechtzeitig zum Beginn von Flux Gourmet; ein Film über eine kulinarisch-sonore Künstlerinnen-Residenz erzählt von einem Journalisten, der über die Arbeit des eingeladenen Kollektivs berichten soll, das experimentelle Sound-Performances von sich gibt, während er von körperlichen Beschwerden heimgesucht wird und nicht ganz bei der Sache ist.

Mit dem Kopf woanders sein, die soziale Situation, um einen herum wahrnehmen, den Körper spüren und dann doch wieder auf das Geschehen zurückgeworfen werden. Das Kino hält uns zwar Realität vor Augen oder nimmt uns mit in andere Welten, unsere Immersion ist jedoch nie komplett. So kann uns ein Bauchgrummeln schon mal aus der Bahn werfen. Das körperliche und soziale Unwohlsein meines Gegenübers auf der Leinwand kann ich deshalb in diesem Moment gut nachvollziehen. Gerade im Dunkeln des Kinos ist alles äußere, was in diese sensible Situation dringt, ein Störfaktor. Nicht nur die sich öffnende Tür, das klingelnde Handy oder das Getuschel nebenan. Auch das schlecht verdaute, hastig gegessene Sandwich, ein unerwarteter Anruf oder das Gespräch von gestern Abend lassen uns auch hier nicht unberührt. Für unseren Erzähler sind es diese unsäglichen Flatulenzen in einer ungewohnten Umgebung, die sein Unbehagen bis in die Schlaflosigkeit steigern. Gepaart mit sozialen Anspannungen und hitzigen Diskussionen bei Tisch über die Möglichkeit von Kunst und ihren Grenzen, katalysieren sich in seinem Bauch alle seine Sorgen. Und am Ende wird sogar die koloskopische Untersuchung zum Spektakel. Während das Innere des Protagonisten nun die ganze Leinwand ausfüllt, denke ich über die Parallele von Darmtrakt und Kinoraum nach. Die Abtastung dieser Höhlen mit dem bloßen (Kamera)Auge verspricht Erkenntnis. Es ist eine äußert sensible und vulnerable Situation, die in hohem Maße vom Außen bestimmt ist. Gefesselt an den eigenen Körper erwachsen Emotionen und Affekte, die ansonsten vielleicht gerne verdrängt werden.

Es ist ein irrwitziger (Darm)Spiegelungsmoment, in dessen Erzählung ich mich wiederfinde. Die angebliche Unmöglichkeit etwas Luft zu lassen, zu entspannen und man selbst zu sein, reicht aus, um dem Protagonisten hier den gesamten Aufenthalt zu versauen. Wenn das Kopfkino beginnt und das Bauchgefühl überhand gewinnt, sind wir ganz und gar in uns gefangen. Dies gilt es aufzubrechen, die Wahrnehmung zu öffnen. Mein Bauchgrummeln im Kinosaal lässt mich dabei zumindest nie vergessen, wo ich mich befinde. Der Zugang zur Wirklichkeit, der nicht zu trennen ist vom Inneren, das sich hier bemerkbar macht, ist durchlässig wie meine Darmwand. Es kommt also auch im Kino darauf an, was ich mir zuführe und mir die Möglichkeit gibt, meine Gedanken und Gefühle angemessen zu verdauen. Und ein Spaziergang nach einem turbulenten Film ist dabei immer eine gute Idee.

Patrick Holzapfel

Orange

Francis Ponge hat den Körper einer Orange, ihren Geschmack, Duft und ihre Farbe einmal mit Lampions (lanterne vénitienne) verglichen und wir sollten den Worten eines solch großen Dichters auf keinen Fall mit der gleichen halbwachen Selbstverständlichkeit folgen, mit der wir sonst das meiste ignorieren, was auf uns einprasselt. Die aus ihrem Inneren leuchtenden Irrlichter, das wie aus sich selbst brennende, schmückende, in den Himmel aufsteigende Signal einer Verlorenheit, die nach Geborgenheit sucht. Ein Lampion strahlt so diffus, dass man sich nie sicher sein kann, wo das Licht beginnt und wo es endet. Das also sah und schmeckte und roch und schrieb (vor allem schrieb er) der Dichter rund um die, aus der, in die Orange, die tatsächlich aus sich selbst zu leuchten scheint und die, wenn sie nicht gerade zu den bemitleidenswerten, geschmacklosen Wasserbällen gehört, die man in hiesigen Supermärkten erwerben kann, mit ihrem Duft ganze Hallen in einen unwirklich sanften Süßtraum versetzen kann. Orangen sind Feuerbälle, die einen nicht verbrennen, sondern erwärmen. Man darf nicht vergessen, dass eine Farbe nach dieser Frucht benannt wurde. Niemand würde die orangenen Lichtstreifen am abendlichen Wolkenhimmel oder die in den Wiesen glühenden orangenen Fackellilien beschreiben können, wäre da nicht diese Frucht, die wahrscheinlich über genuesische Meerwege nach Europa kam.

Den Orangen aber haftet auch eine Bitterkeit an, die tief aus ihrem Inneren strömt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass sie nicht dort sind, wo sie herkommen. Diese Bitterkeit ist es, die uns die Orange so vertraut erscheinen lässt. Wir kennen sie aus uns selbst. Sie sammelt sich in uns, weil alles endet und vergeht, sie kommt mit der Nichtigkeit des Heranreifens, des Wachsens, des Strebens nach Licht und der Gewissheit, dass all das nur für den kaum zu erhaschenden Augenblick einer plötzlichen Jugend geschieht. Eine Jugend, die wir eigentlich erst wahrnehmen, wenn sie bereits vorüber ist. Es gibt wenige Anlässe, die uns wirklich vergessen lassen, dass es da diese Bitterkeit in uns gibt. Einer von ihnen offenbart sich (so ironisch ist die Natur), wenn man eine reife Orange von einem Baum pflückt, ihre Schale mit den Fingernägeln abstreift, den perfekt geformten, nie zu leichten und nie zu schweren Fruchtkörper in den Mund führt und hineinbeißt. So seltsam es ist, diese Sekunde rechtfertig alles, diese Sekunde muss es sein, die jenen entgeht, die behaupten, dass es keinen Sinn und keine Freude im Leben gebe.

Ich dachte nicht, dass ich einen solchen Augenblick einmal in einem Film sehen würde, jedoch war mir klar, dass wenn es so sein würde, es ein Film aus Portugal sein müsste. Das hat nichts mit persönlichen kinematographischen Vorlieben oder irgendeiner nationalistischen Agenda zu tun, sondern damit, dass die Orange schon lange mit diesem Land am Ende Europas verbunden ist, so sehr, dass die Griechen die Frucht einst burtogan nannten und die Araber bortugan. Ein Mythos besagte, dass der ursprüngliche Baum, der die Frucht in Europa einführte, hunderte Jahre in einem Garten in Lissabon stand. Egal, ob man an derlei Geschichten glaubt oder nicht, sie vermitteln, dass diese Frucht in Portugal näher ist an dem, was sie sein könnte. Eine Lüge zweifellos, vor allem, wenn sich die Industrie mit ihren vergifteten Versuchen zur Massenware erklärt und mit jeder Natur widersprechenden Methoden danach trachtet, die bereits beschriebene Reifezeit zu verlängern. Man schmeckt dann länger, aber es schmeckt nach nichts. Die Orange wird nie wirklich sein, sie verharrt im Stadium einer blassen Idee. Statt eines Lampions eine batteriearme Taschenlampe.

Nichts dergleichen in Terra Que Marca von Raul Domingues. Die Erde diktiert den Raum dieses Films und die Tages- und Jahreszeiten bestimmen die Zeit. Die Landwirtschaft, die er zeigt, ist traditionell, sie arbeitet mit, nicht gegen die Natur. Dasselbe gilt für die Kamera, die sich beständig dieser Flüchtigkeit des Schönen ausliefert. Wie sichtbar machen, was im Verfallen wächst und im Wachsen zerfällt? Wie die Vollendung einer Orange festhalten? Im Film gibt es einen Orangenbaum. Ich gebe zu, dass ich ihn für jenen im Garten von Lissabon halte, auch wenn der Baum irgendwo nördlich von Leiria wächst. Er steht wie ein Symbol in der Landschaft und weil er so steht, kann man kaum fassen, dass er ganz und gar wirklich ist. Irgendwann beginnen die Orangen in ihm zu flimmern wie, ja wie Lampions. Und ganz am Ende des Films, wenn man der rhythmischen, harten, körperlichen, erdnahen Arbeit von Bäuerinnen und Bauern, den zyklischen Wegen und Kämpfen der Erde gefolgt ist, gibt es diese eine Sekunde, in der eine Orange von dreckigen Händen mühsam und langsam geschält wird und als der Bauer dann in die Frucht beißt, spürt man eine Erlösung und der Film endet, weil es nichts mehr zu zeigen gäbe, weil das alles ist, was es gibt.

Es gibt Filme, die arbeiten wie Orangerien, kleine stanzone per i cidri, die schön ausgeleuchtet perfekte Bedingungen für ihre Protagonisten schaffen. Man fühlt sich wohl in diesen Filmen, es ist warm und duftet. Man fühlt sich so wohl, dass man vergisst, etwas mitzunehmen und am nächsten Tag kann man allen erzählen, dass man in einer Orangerie war, aber man ist sich nichtmal mehr sicher, ob es dort Früchte gab oder nicht. Terra Que Marca aber steht auf dem Feld und wartet auf diesen einen Augenblick, in dem man wirklich in eine Orange beißen kann. Der Film kann sich nicht sicher sein, ob dieser Moment je kommen wird. Aber er weiß, an wen er sich halten muss, nämlich an jenen, der jeden Tag an diesem Baum vorübergeht, jenem, der mit ihm lebt statt jenem, der nur daran denkt, die Orangen zu verkaufen. Am Ende aber ist es so, dass ich all das hier zwar aufschreiben und mir damit vorspielen kann, dass ich diese Sekunde, in der meine Zunge und mein ganzer Mundraum von der Explosion (l’explosion sensationnelle) des Lampions überwältig werden (es ist die gleiche Sekunde, in der Terra Que Marca endet), nachempfinden kann, aber eigentlich hintergehe ich damit nur den leeren Durst in mir, der sich sehnt nach diesem Biss, dem in meine Mundwinkel fließenden Fruchtfleisch, das mir für diese eine Sekunde erklärt, warum ich am Leben bin.

Simon Wiener

Sicilia!

Sicilia!, ein Film so voll Sprechgesang, dass all jene oft vorgebrachten Behauptungen, in Straub-Huillets Filmen würden Texte monoton, befremdlich flach zitiert, sofort verfliegen müssten. In einer Szene wendet sich die Mutter des Protagonisten zum Fenster hin, sich ihres Vaters erinnernd, der, obwohl Sozialist, bei der Prozession des San Giuseppe jeweils zuvorderst mitgeritten war. Wie sie diese Prozession da beschreibt, gerät ihr Sprechen, ihr Deklamieren ganz zur Melodie; in ihrer Erregung, ihrem Heraufbeschwören einer Erinnerung, hebt und senkt sich ihre Stimme wie der Zeiger eines Seismographen, zeichnet ein scharfes Relief. Die Erinnerung des Vaters tritt hervor, nicht nur aus der Vergangenheit und der Nacht, sondern aus ihrer Stimme. Sobald die Stimme angesetzt hat, fällt sie wieder, und erst durch ihr Fallen erkennen wir sie als zuvor Hervorgetretene. Ihr Fallen erst zeigt, wie stolz und selbstsicher sie doch angehoben hat, belehrend im Tonfalle vielleicht; leise hat ein Vorwurf darin mitgeschwungen, dem Sohn diesen grossartigen Vater gegenübergestellt, Anführer der Prozession, ein Mann, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Zugleich aber beschwichtigt und besänftigt ihr Fallen, etwas beschämt vielleicht über jenes Belehrende, Vorwurfsvolle; ihr Fallen löst den Klammergriff um Vergangenes, bezeugt ein sich Abfinden mit Vergangenem als Vergangenem. Ist das Anheben der Stimme einer Annäherung an den Vater gleichgekommen, so lässt ihr Fallen vom Vater ab und nähert sich wiederum dem Sohn an. Der stete Wechsel von hoher und tiefer Stimmlage verdeutlicht nicht nur Anfang und Ende eines Satzes oder einer Satzeinheit, sondern zeigt auch den Wechsel zweier Perspektiven und zweier Zeiten, zwischen denen die Mutter sich hin- und hergerissen sieht.

Ich muss bei dieser Szene vor dem Fenster an eine andere Szene vor einem ähnlichen Fenster denken, meine Lieblingsszene aus Stagecoach, in der zwei uns unsympathische Figuren im Gespräch sind: «Have you ever been in Virginia?» – «I was in your fathers regiment». Auch bei Ford gibt es diesen Sprechgesang, eine Sprechmelodie, geflechtet durch Erinnerung und Gegenwart. «Your Fathers Regiment», sagt der mit Vorurteilen befangene Hatfield, hebt dabei seine Stimme erst leicht an, lässt sie sogleich fallen und überrascht und entwaffnet uns mit der Milde, mit der Besänftigung, die dem Fallen innewohnt. Wir sind sofort bereit, ihm seine Vorurteile zu verzeihen, ihn ernst zu nehmen, genau wie der Protagonist in Sicilia! durch das Fallen der Stimme seiner Mutter besänftigt wird, bereit, ihr zu verzeihen, wie sie ihn da ständig mit ihrem Vater vergleicht, diesem so großartigen Mann.

Max Grenz

Stille Veränderung

Szene einer Begegnung. Nach einem unwahrscheinlichen Kennenlernen im nächtlichen Dickicht der amerikanischen Wälder treffen die glücklosen Siedler Cookie und King-Lu in der Kneipe eines naheliegenden Ortes erneut aufeinander. Um das unverhoffte Wiedersehen zu feiern, lädt King-Lu Cookie in sein Zuhause ein. „It’s not much to look at, I know“, entschuldigt er sich, als sie die zusammengeflickte Holzhütte auf einer einsamen Waldlichtung erreichen. Drinnen gießt er Cookie einen großen Schluck Hochprozentigen in die einzige Tasse des Haushalts, er selbst trinkt aus der Flasche. „Here’s to … something“, sie stoßen an.

Der unbeholfene Toast verhallt, eine Leere breitet sich zwischen den Unbekannten aus. Einen langen Augenblick stehen die beiden unbeholfen nebeneinander, dann verlässt King-Lu seinen Gast mit der Aufforderung, er solle es sich gemütlich machen, während er Feuer machen gehe. Cookie bleibt allein zurück, er geht ein paar Schritte hinein, lässt den Blick schweifen. Seine Bewegungen sind zögerlich, auf der Suche nach Vertrautheit in der neuen Umgebung, als ein dumpfes Geräusch seine Aufmerksamkeit nach draußen lenkt. Er sieht King-Lu beim Holzhacken, gerahmt durch die Silhouette eines Fensters neben der Tür. Das gleichmäßige Schlagen der Axt klingt zurück in den Innenraum, wo Cookie seine Haltung verändert hat. Auf einmal wirkt er gefasst, greift nach einem Besen an der Wand, den man zuvor kaum als solchen erkennen konnte. Fegend betritt Cookie die Einstellung von King-Lu, wo er den noch leeren Türrahmen ausfüllt.

Die Komposition erinnert an die ikonische erste Einstellung von John Fords The Searchers, insbesondere die harte Trennung von Innen- und Außenraum durch Licht und Schatten. Doch während sich bei Ford am Ende die Unvereinbarkeit beider Räume bestätigt, finden sie hier auf überraschend schlichte Weise in der gemeinsamen Hausarbeit zusammen. Die alteingesessenen Dichotomien des Westerns zwischen Innen und Außen, Zivilisation und Wildnis, weiblich und männlich sind für ein paar Sekunden außer Kraft gesetzt.

First Cow feierte seine Weltpremiere im Sommer 2019 in den USA, lief dann im Februar 2020 kurz vor Ausrufung der Corona-Pandemie unprämiert im Wettbewerb der Berlinale und wanderte den Rest des Jahres durch die zunehmend zerrüttete Festivallandschaft. 2021 folgten mit den allmählichen Lockerungen im Frühjahr einige wenig lukrative internationale Kinostarts sowie ein Streamingangebot auf MUBI. In das deutsche Kinoprogramm schaffte es der Film erst Mitte November, für mich war es der zweite Kinobesuch im Januar 2022. Eine Karriere wie das Leben seiner Protagonisten: ohne augenfällige Höhepunkte, im Schatten der großen Ereignisse. Ein Historienfilm, der nur peripher auf die epochalen Umbrüche seiner Zeit blickt. Ein Western auf den Wegen des Oregon Trails, der nicht mit mythischen Helden an die Grenze der Frontier vorstößt, sondern bei Bewohnern einer der vielen Siedlungen verweilt, die im Fortgang der Geschichte wieder spurlos verschwunden sind. Eine Kamera, die nicht die Weiten der unbekannten Wildnis zelebriert, vielmehr sich in die unendlichen Abstufungen von Grüntönen im Laub eines Baumes vertieft. In diesen Bildern treten die Möglichkeiten nachhaltiger Veränderung hervor, die sich normalerweise still und unbemerkt im Alltag vollziehen. Während King-Lu das gehackte Holz nach drinnen trägt, verlässt Cookie selbst noch einmal kurz die Wohnung. Er kommt zurück mit einem kleinen Blumenstrauß, den er in einer Vase an der Wand platziert. King-Lu dreht sich von der Feuerstelle zu ihm: „Looks better already.“

Ivana Miloš

Wildwachsende Gräser im Wind

© Elke Marhöfer

Es gibt so etwas wie wildwachsende Gräser im Wind. Gras, das beinahe schillert, tanzt, funkelt, Licht ausströmt. Ich weiß, dass es da ist, ich habe es gesehen. Das ist, was ich gefühlt habe. Das ist, was ich gesehen habe. Es war Nacht und doch konnte ich erkennen, dass das Gras nie ruhig verharrte, es zitterte mit dem Elan jener, die von den Elementen bewegt werden, jener, die sich dem Wind hingeben und mehr von ihm wissen, als die, die es nicht tun. Es war Nacht auf einer Insel im Mediterran, jemand saß neben mir unter den Sternen, die Zwergohreule heulte ganz nah und ich weiß, ich weiß, dass das Gras immer noch im Wind schwankte. Ich konnte es sehen. Das Gras lag niemals ganz ruhig und genauso war auch ich es nicht. Es war Nacht und ich saß auf Holz, ich bewegte mich nicht und doch waren meine Glieder so nah daran, zu Halmen zu werden, wie nie zuvor, am Rande von Wachstum und Bewegung, am Rande einer Verwandlung in reines Gefühl und einer Verschmelzung mit dem Licht, welterschütternde Halme. Ich weiß, dass es immer weniger wildwachsende Gräser gibt. Ich weiß, dass die, für die ich empfinde, in unserer Welt bedroht werden. Ich weiß, dass ich immer wissen möchte, dass es so etwas gibt, wie Gräser, die im Wind erzittern.

Film: Becoming Exctinct (Wild Grass) von Elke Marhöfer

David Perrin

Den schönsten Kino-Moment des letzten Jahres habe ich Anfang Dezember in meiner Wohnung am Fenster stehend erlebt: Ein geräumiger Park im 15. Bezirk Wiens, die Luft ein Spiel aus wirbelnden Schneeflocken, die vom Wind immer wieder emporgetragen wurden, so dass sie nie den Boden zu berühren schienen. Die vielen Passanten, die jeden Weg bevölkerten, liefen zielbewusst durch den Park, ohne Augen für ihre Umgebung, als ob ihr einziges Vorhaben war, so schnell wie möglich die Arbeit oder ihre Wohnung zu erreichen. Die Farben versanken in der Alltäglichkeit des Winters; die Stimmung trüb. Dann: Ein Kind mit roter Mütze und Schultasche, das ganz langsam den Park von einer Seite zur anderen im Rückwärtsgehen durchquerte, und dabei sein Gesicht in die Höhe hielt, um die sanfte Kälte der Schneeflocken auf seiner Haut zu spüren. (Oder so bildete ich es mir ein.) Das kann ja auch Kino sein.