Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Nadal

Ich war kein wirklich begabter oder auch nur halbwegs guter Tennisspieler, was – so rede ich mir ein, daran kann mich niemand hindern – mehr an meiner mentalen als an meiner physischen Konstitution lag (die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, war ich doch einer, der sich hauptsächlich darauf verstand, den über das Netz fliegenden Filzbällen, die andere schlugen, erfolgreich hinterher zu rennen und weniger einer, der mit dem Schläger umzugehen wusste). Die wahre Wahrheit aber (ist die ohnehin fragile Wahrheit im Sport nicht immer eine Frage der Person, die sie zu erkennen glaubt?) ist, dass mir jegliche Demut für diesen aristokratischen Zeitvertreib fehlte, ich akzeptierte weder meine Fehler noch die Regeln noch die sich wandelnden Stimmungen (ein Tennisspiel ist ein wenig wie der Wind, wer sein Segel nicht rechtzeitig dreht, treibt hilflos im Sand) noch die Höhe des Netzes, die Grenzen der Linien, die Pausen der Gegner, das Spiel der Gegner, die Gegner überhaupt, die Blicke der Zuschauer, den Winkel der Sonne, die Härte der Bälle und so weiter. Im Großen und Ganzen war und bin ich gänzlich ungeeignet für jeden Sport, bei dem ich nicht alles kontrollieren kann (für jeden Sport also).

Trotzdem warf ich mich eine Zeit lang wöchentlich zwei oder dreimal in meine weißesten Klamotten (sie waren eher grau), um mich dieser fingerblasenfreundlichen Tätigkeit hinzugeben und immerhin feierte ich mit einer Vereinsmeisterschaft in meiner Altersklasse beim Dorfverein einen beachtlichen Erfolg (wir waren acht Teilnehmer, der Sieg wurde mir nach einer halbstündigen Diskussion über einen gespielten Ball zugesprochen, den ich im Aus sah, mein Kontrahent aber nicht: er war im Aus, ich spreche die Wahrheit!).

Grund dafür war kein fehlgeleiteter Ehrgeiz und schon gar nicht die Freude am Spiel (ich fluchte so viel auf einem Tennisplatz wie nirgend sonst in meinem Leben) sondern die Illusion einer Schwerelosigkeit, die gar nichts mit mir zu tun hat, ein Schweben vor dem inneren Auge, ja, so will ich das einmal nennen. Ich meine, dass ich – und ich bin mir sicher, dass ich damit nicht allein bin, tausende wöchentlich unansehnlichst über Fußballplätze schleichende, torkelnde, hechelnde, rollende oder schlicht regungslos auf dem Grün stehende Gestalten, deren ganzer Körper danach schreit, keinen Sport zu treiben, bestätigen mein Gefühl – von der Identifikation mit dem professionellen Sport, der Sich-Selbst-Ins-Athletische-Projizierenden Phantasie, einer Art fortwährender aber berauschender Selbsttäuschung durch die eleganten Bewegungen der größten Spieler angezogen, nein erhoben wurde in einen Zustand, in dem ich nicht Ich war auf dem Platz, sondern der Zuschauer eines Spiels, das weit schneller, intensiver, fehlerloser, atemberaubender war und an dem ich nur zufällig oder eigentlich gar nicht teilnahm. Auch wenn man nicht so spielen kann wie die Besten, kann man doch so darüber denken und reden, als wäre man einer von ihnen. Man fühlt es einfach. Ich war Nadal, Roddick, Sampras. Bis das Spiel beendet war, war ich Profi, war so gut wie die besten Spieler der Welt, niemand hätte mich vom Gegenteil überzeugen können, schließlich waren die Gegner auch nicht besser und wenn niemand besser war, dann gab es eben niemand Besseren, so einfach ist das. Ohnehin wäre ja alles nur eine Frage des Trainings, dann stünde meinem Welterfolg nichts im Weg.

Diese Illusion bezog ich natürlich aus dem Fernsehen (für den Besuch eines professionellen Tennisturniers fehlte es meiner Familie an Geld und Interesse). Meine erste Erinnerung an ein Tennisspiel im Fernsehen war der haarige Pete Sampras und der haarige Andre Agassi und ich dachte eine Zeit lang, dass man viele Haare brauche, um Tennis spielen zu können. Enttäuscht stellte ich fest, dass mein Körper kein solches Fell produzierte. Ich wollte schon aufgeben, als mir auffiel, wie sehr meine Longline-Schläge, mein Serve-and-Volley und vor allem die Art und Weise, wie ich beim Seitenwechsel Bananen mampfte an die Superstars erinnerte (wie mich das alles selbst an sie erinnerte), sodass mir klar wurde, dass die fehlende Ganzkörperbehaarung wahrlich kein Hindernis darstellen würde. Ohne dass ich wusste weshalb, zogen mich fortan jene Charaktere an, die diesem so betuchten, gesetzten Spiel (die Regeln hinderten mich ständig daran, Erfolge einzuheimsen, diese verdammten Regeln!) ein wenig Wildheit entgegensetzten. Ich denke an Gestalten wie Safin oder Roddick, solche eben, die auch mal einen Schläger zertrümmerten, die gegen die Überlegenheit der Selbstbeherrschung aufbegehrten, egal ob sie damit scheiterten oder nicht.

Ich war eigentlich ein ganz anderer Spielertyp (ich hatte keine Kraft zum Beispiel) aber es ging nie um das Spiel, es ging um eine durch das Spiel vermittelte Einstellung zum Leben. Diese Tennisspieler waren mein Punk (etwas armselig, ja lächerlich, ich gebe es zu), diese verwöhnten reichen Kinder, die da Millionen scheffelten, weil sie einen Filzball über Netze droschen. Man sucht sich seine Vorbilder leider nicht selbst, da ist man machtlos in einem gewissen Alter. So zog ich mit gelegentlichen Wutanfällen und stolzer Überheblichkeit über die Tennisplätze (und durch den Pausenhof) und wenn ich verlor, lag das an allem, nur nicht an mir. So war das.

Und dann kam Nadal. Rafael Nadal Parera aus Manacor auf Mallorca. Nadal veränderte alles. Er war nicht so wie der über allem schwebende, arrogant seine Fingerkuppen anpustende, immer freundlich lächelnde Federer, in dessen Überlegenheit ich alles erkannte, was ich an diesem Sport verabscheute. Er war nicht der herablassende, politisch kontaminierte, ernährungsplanfanatische Akrobat Djokovic. Er war aber auch nicht wie die punkigen Schlägerzertrümmerer, die Erben McEnroes, nein, er war etwas ganz anderes. In der Wucht seiner linkshändigen Vorhand und der Geschwindigkeit seiner quer über die Plätze fliegenden Sprints erkannte ich die Würde, die in der Überwindung aller nur möglichen Widerstände liegt.

Ich meine das ganz ernst. Nadal lehrte mich, wie man widersteht. Wie man aufsteht, während man fällt. Er lehrte mich das und seltsamerweise brach er dafür keine Regeln, verstieß gegen keinerlei Etikette. Er war immer brav, fast zu höflich, bescheiden, demütig, respektierte seine Gegner. Und das gefiel mir. Er war eins mit dem Spiel, identifizierte sich so sehr mit allem, was im Tennis möglich ist, dass er zum Sinnbild der Werte dieses Sports wurde, obwohl er denen doch widersprach (er pflügte mehr über den Platz als er lief, zeigte mehr Verbissenheit als Eleganz, schrie etwas zu laut). Wann immer Nadal einen dieser eigentlich unerreichbaren Bälle erlief, ihn mit einer wie aus dem Unwirklichen ausbrechenden Kraft (seine Muskeln ignorierte ich, das war mir zu geistlos) auf die anderen Seite schleuderte, unerreichbar für seine Kontrahenten, und mit seinem lauten Vamos! und rudernden Armen das Publikum animierte, verlor ich die Bodenhaftung. Ich war wahrlich nicht allein damit. Das war, als würde es keine Physik mehr geben. Es war ganz klar: Dieser Punkt, dieser Sieg, das war nicht für Nadal, das war für mich, für alle, die nicht zufrieden sind mit den Regeln des Spiels, die aber bei sich wissen, dass es kein außerhalb des Spiels gibt. Diejenigen, die gern der Schwerkraft entkommen würden.

Nadal gab nie auf, er kehrte aus den unmöglichsten Situationen zurück, hielt stets den Kopf oben, wenn andere schon längst den Platz verlassen hätten. Auf dem Platz verkörperte er das Beste im Menschen, er liebte, was er tat, aber er bekämpfte sich und alles, um sich und das Spiel zu verbessern. Nun würde ich gern schreiben, dass Nadal mein eigenes Spiel nachhaltig veränderte und ich aufgrund seines Beispiels zu einem besseren, bescheideneren Spieler wurde und so weiter. Stattdessen aber hörte ich einfach auf. Heute glaube ich, dass ich aufhörte, weil mir die von ihm bereitgestellte Illusion auszureichen begann. Ich brauchte nur noch sie, musste selbst darin keine Rolle mehr spielen.

Nadals Illusion bezog sich eben nicht nur auf das Tennisspiel, sie entfaltete sich im ganzen Leben, war und ist anwendbar in den verschiedensten Situationen. Man kann Pilze sammeln wie Nadal, frühstücken wie Nadal, man kann ein Gespräch führen wie Nadal, man kann lieben wie Nadal den Ball geliebt hat (merke: man kann, man muss nicht!). Sein Vamos! wurde vermarktet, seine Leidenschaft für seine Tätigkeit und seine Aufrichtigkeit auch (Kia, Rolex, Nike, Mallorca). Aber sie war echt, zumindest echt genug für mich. Ich hatte das Gefühl, dass mit einem wie Nadal der Sport nie ins Entertainment kippen konnte. Er konnte letztlich immer nur den Sport bewerben, selbst wenn er mit einem Auto herumfuhr oder teure Uhren trug. Seine Message lautete wahlweise: Tennis oder gib nicht auf! Auch mit seinen dutzenden Ticks und abergläubischen Spleens konnte ich mich identifizieren, ja, ich gebe zu, dass ich das erste Wort dieses Textes mit meinem linken Ringfinger getippt und bis heute vor jeder Nachtruhe eine Wasserflasche im gleichen Abstand auf den Boden neben das Bett stelle. Auch das hat mich Nadal gelehrt. Diese Eigenheiten machten ihn menschlich, weil nur Menschen versuchen, in ihren Abläufen Maschinen zu imitieren.

Viel wichtiger aber war, dass er mir gezeigt hat, wie man würdevoll verliert. Eigentlich noch mehr: Wie man gewinnt, auch wenn man verliert. Denn selbst bei seinen größten Niederlagen hatte ich das Gefühl, er hätte sich so sehr dagegen gestemmt, er hätte eigentlich schon Abgeschlossenes so lange offengehalten, dass es sich anfühlte, als habe er eigentlich gewonnen. Eine Zeit lang konnte man Nadal gar nicht besiegen, er spielte so, dass der Gewinner eines Spiels gegen ihn noch eine Woche später nachts aufwachte, weil er befürchten musste, Nadal hätte den Matchball doch noch erlaufen und ihn in letzter Sekunde abgewehrt. Derart zeigte er mir, dass es auch im Tennis nicht um das Ergebnis geht. Es geht darum, dem vorbestimmten Ergebnis so lange wie möglich zu widersprechen, ohne die Regeln zu brechen. Dass auch er den Alterserscheinungen nicht endlos widerstehen konnte (sich sicher keinen Gefallen tat, sie so lange zu bekämpfen) und er nun seine Karriere beendet, mag wie eine Niederlage erscheinen, in Wahrheit aber wird seine biologische Uhr nachts panisch aufwachen, weil sie sich nicht sicher sein kann, ob er doch noch einmal wiederkommt und allen Gesetzen widerspricht.