Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Neue Fassung

Es kann vorkommen, dass sich die Geschichten mancher Filme selbst in filmreife Geschichten verwandeln. Reif, weil sie über lange Zeit durch viele Hände gegangen sind. Filmisch, weil es den Zufall besser aussehen lässt, als man ihn sonst zu Gesicht bekommt. Die Filmreife ist mehr eine spielerische Floskel für etwas, das so nie stattgefunden hat, man sich aber in etwa so vorstellen könnte: Eine Assistentin in Herrn Friedrichs Berliner Produktionsbüro, Frau Rodin, hatte kurz vor Beginn der Dreharbeiten zum Film Der Säbelzahntiger einen Brief enthalten. In diesem schlug ein gewisser Herr Kulturdezernent namens Iffland vor, Landschaftsaufnahmen zu Marketingzwecken aus dem Bayerischen Wald anzufertigen. Dafür wäre man bereit, mindestens fünfunddreißig Prozent der Kosten des Drehmaterials zu übernehmen. Das Sturmtief Theodora hatte eine beträchtliche Waldfläche gerodet, wodurch das Waldimage einen ebenso beträchtlichen Schaden erlitt und man sich nun durch rauschvolle Bilder eine Erholung dessen versprach. Wie man »den Tiger« im Bayerischen Wald oder eher den Bayerischen Wald im »Tiger« unterbekommen soll, wollte sich aber im Büro niemand recht vorstellen. Für den Dreh der Urwaldszenen baute man stattdessen innerhalb einer Woche eine Theaterbühne in Spandau um. Damit lag der Brief unbeantwortet erst zwei Wochen in der Ablage von Frau Rodin, dann waren es bald zwei Jahre und auf einmal zwei Jahrzehnte. Herr Friedrich, der Regisseur und Produzent seiner Filme auf eigene Kosten, starb 1976, nachdem er seit sechzehn Jahren keinen Film mehr gedreht hatte. Während sich der Wald allmählich erholte, blieb der Erfolg des Filmes, dessen Produktionskosten letztlich ein Fiasko wurden, weitgehend aus und er geriet zunehmend in Vergessenheit. Nach Auflösung des Büros verschwanden alle verbliebenen Dokumente im Privatarchiv seiner Assistentin Frau Rodin, also in einem muffigen Holzschrank mit quietschenden Türen. Als Frau Rodin aufgrund eines Schlaganfalls ihre Wohnung verlassen und in ein Altenheim übersiedeln musste, erschien im Auftrag des Bezirksamts Berlin-Zehlendorf ein Räumungstrupp in der Wohnung der ehemaligen Assistentin, da sich kein Angehöriger mehr finden ließ. So kam es, dass Herr Zivanovic, ein eigenbrötlerischer Mitarbeiter der Räumungsfirma, im Zuge des Ausräumens auf dem unscheinbaren Brief des Herrn Iffland den Namen des Herrn Friedrich las. Irgendwie kam er ihm bekannt vor, doch sicher war er sich nicht. Durch seine Arbeit hatte er von vielen Namen gehört und gelesen, sodass sie sich immer mehr miteinander vermischten. Gerade Friedrich gibt es nicht wenige, vor allem in Berlin. Obwohl es von seinem Vorgesetzten nicht gern gesehen war und darüber hinaus dem Anstand nicht gebot, steckte er sich, ohne viel darüber nachzudenken, eine Handvoll der Papiere ein, die ihm am wichtigsten vorkamen. Erst auf dem Heimweg fiel ihm die Person des Namens ein, denn dieser Friedrich kam – kaum zu glauben – aus Wien, nicht aus Berlin. Als er mit dem Schatz beim Wirt seiner Weddinger Stammeckkneipe prahlte, erntete er allerdings nur fragende, entgeisterte Blicke. Das Pils hatte ihn stolz und sogleich unvorsichtig gemacht. Aus der Jacke, die Herr Zivanovic zufällig beim Verlassen vergaß, zog Herr Lipinski, der Wirt, das heimlich Gerettete. Der Rest fiel unterdessen dem Reißwolf der Räumungsfirma zum Opfer. Für einen Moment erfasste auch Herrn Lipinski das Grabräubergefühl, doch sein Aberglauben und sein Schamgefühl war aufgrund seines strengen Katholizismus stark ausgeprägt und so schickte er die für ihn eigentlich unbedeutend scheinende Papiere nach München an Frau Antonelli, die Leiterin einer zentralen Sammlungs- und Aufbewahrungsstelle für filmisches Schriftgut, wie ihm seine Ehefrau riet. Ohne Absender selbstverständlich. Frau Antonelli, chronisch von Stress geplagt, kannte sowohl Friedrich als auch Iffland, doch dass beide miteinander in Kontakt gestanden hätten, verwunderte sie sehr, hatte doch Herr Iffland sich meist abschätzig über Friedrich geäußert, ihm sogar regelmäßig »vaterlandslosen Elitarismus« und »Veruntreuung von staatlichen Subventionen« vorgeworfen. Wie es der Zufall wollte – und dieser gehört zu jeder filmreifen Geschichte, die Realität liegt hinter einer schonungslosen zeitlichen Verdichtung – traf mit derselben Postlieferung ein ramponiertes Filmrollenpaket aus dem bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst ein. Aus Platzmangel wollte man vierundfünfzig Rollen Werbefilmmaterial loswerden und vielleicht könnte es ja historischen Interessen dienen. Kaum anders als damals im Büro von Herrn Friedrich wusste nun auch Frau Antonelli mit dem Angebot wenig anzufangen. Platz gab es bei ihr noch viel weniger. Um das ungebetene Geschenk vom Hals zu bekommen, verfrachtete sie den mindestens dreißig Kilogramm schweren Karton zum Schreibtisch ihres Kollegen Herrn Novak, der eigentlich schon im Ruhestand war, aber sich nur sehr schwer von seiner Arbeit trennen konnte. Er wäre ein paar Stunden beschäftigt und sie müsste sich keine Arbeit machen. Vielleicht könnte sie es dann auch einfach unter den Tisch fallen lassen. Als Frau Antonelli am Montagmorgen Herrn Novak am Kaffeeautomaten auf dem Flur traf, fragte sie ihn pflichtschuldig, ob etwas Besonderes unter den Ministeriumsrollen dabei gewesen wäre. Novak sagte nur etwas enttäuscht: »Alles dasselbe. Über Jahrzehnte hinweg. In den Fünfzigerjahren sehen die Bäume im Bayerischen Wald aus, als wäre sie aus Papier. Sonst nichts. Tannhäuser und Helikopteraufnahmen immer und immer wieder.« Fahrig vom Kaffee bedankte sie sich abrupt, denn ein Termin mit Herrn Grabowsky vom Fernsehsender 3sat stand an. Beim Betreten ihres Büros fiel ihr plötzlich auf, dass der Brief, den sie am Freitag auf ihrem Schreibtisch liegen ließ, verschwunden war. Und im selben Moment, als sie es eher mit Verwunderung anstatt mit Fassungslosigkeit bemerkte, beschlich sie wohl der Gedanke, jemand hätte aus Friedrichs Säbelzahntieger die Urwaldaufnahmen entwendet, um sie dem Bayerischen Wald zuzuschlagen, und nun mit dem gestohlenen Brief seine Spuren verwischen zu wollen. Aber diese Vorstellung kam ihr ganz abwegig, viel zu fantasievoll, ja geradezu selbstbezogen vor.