Text: Leonard Krähmer
»Je suis heureuse«, schreibt ein Finger an die beschlagene Innenseite eines Autofensters. Der Finger gehört Juliette (Juliet Berto), einer jungen Frau, die kurz später überhaupt nicht mehr glücklich dreinschaut, wie sie da im Schaufenster des Damenmodegeschäfts lehnt und freudlos hinaus in die Gasse starrt. Obwohl sie in ihrem buntgestreiften Wollkleid wie ein integraler Bestandteil der Warenauslage wirkt, verbindet sie mit dem Laden nur ein herkömmliches Angestelltenverhältnis. Zwei Fensterscheiben, zwei unvereinbare Gemütszustände: Was auf der Autoscheibe geschrieben steht, ist Juliettes Anspruch, manifestierendes Wunschdenken. Der Status quo, dem sie entkommen will, lässt sich an ihrer missmutigen Miene im Schaufenster ablesen. Das ist aber gar nicht nötig, denn Camarades bewahrt sein Publikum vor kräftezehrenden Interpretationsbemühungen und liefert dankenswerterweise ein Voiceover mit, das die Gedanken und Gefühle hinter Juliettes Zügen gut leserlich ausbuchstabiert. Durch die Schaufensterscheibe und den nivellierenden Schleier der Introspektion hindurch gelingt es der Kamera dennoch, typische Berto-Gesten aufzuzeichnen: stumpfer Blick, trotziger Schmollmund, verträumtes Kinnkratzen, das manchmal nahtlos in laszives Fingerkauen übergeht.
Juliette träumt vom Heiraten, von sonntäglichen Spazierfahrten mit dem eigenen Wagen, vom guten Leben in gelenkten Bahnen. Stattdessen verbringt sie die Sonntage im Café mit ihrem arbeits- und ambitionslosen Freund Yan, der ja auch mehr wollte vom Leben. Keinesfalls unterschlagen werden sollte bei allem Ennui der schöne Radausflug zum See, fast wie in Yasujirō Ozus Banshun (Später Frühling) ein „stillstehender Augenblick von Glück“, so nennt ihn Helmut Färber, aber eben nur fast: beim Bootsfahren schwadroniert Yan über Köderstrategien für die Wildentenjagd, Juliette lauscht mit bedingter Faszination. Die Gelegenheitsjobs in der Werft von Saint-Nazaire hat Yan satt, es zieht ihn nach Paris, wo er dann tatsächlich mehr mit Autos zu tun bekommt, allerdings am Fließband bei Renault und nicht hinterm Steuer. Mehr schlecht als recht entlohnt und entsprechend entfremdet, schraubt er im Akkord nun jene Wägen zusammen, von denen sich Juliette – die fingerkauend auf dem Bahnsteig von Saint-Nazaire zurückbleibt und im Film nicht wieder auftaucht – kleinbürgerliche Alltagsfluchten verspricht.
Ursprünglich wollte Yan zur Bank, das eigene politische Erwachen kommt ihm dazwischen. Sobald er Saint-Nazaire gen Paris verlässt, ist Juliette weg und sein Klassenbewusstsein da. Während sie ein Kind von Coca-Cola sein möchte, ist Yan auf dem besten Weg, sich von Karl Marx adoptieren zu lassen. In Paris organisiert er sich in der Gewerkschaft, erfährt die Ausbeutung seiner Arbeitskraft am eigenen Leib, lernt einen Intellektuellen kennen, der seine Wohnung mit Marx-Postern auskleidet und aus einem Buch des Genossen Lenin vorliest. Yan bewegt sich in Kreisen, die Theorie und Praxis zusammendenken wollen. Man sieht sich etwa La hora de los hornos von Fernando Solanas und Octavio Getino an und diskutiert anschließend darüber, was man von den Fabrikbesetzungen in Argentinien für die hiesigen Arbeitskämpfe lernen kann.
Camarades hat das revolutionäre Herz am rechten beziehungsweise linken Fleck und schüttet es permanent aus – hinein in einen Text, der Yans Politisierung mit dem begrifflichen Selbstverständnis infolge des Pariser Mai 1968 nachträglich wütend durchdekliniert. Als emanzipatorisch gemeinte Gesten ziemlich plump, aber zugleich auch ziemlich opulent: Montagen aus klassenkämpferischem Liedgut und Nahaufnahmen von Menschen bei der Arbeit, von Arbeitern beim Verlassen der Fabrik, von Schornsteinen und Kränen, vom Hämmern, Löten, Schweißen. Keine Scheibe drängt sich hier mehr zwischen Objekt und Objektiv, wie noch in Saint-Nazaire. Ungefiltert geht es darum, wie die Verhältnisse sind, wie sie nicht sind, wie sie sein könnten. Am Ende stimmt ein Chor aus streikenden Arbeitern die Internationale an und eine Off-Stimme verliest feierlich die letzten Sätze aus dem Kommunistischen Manifest. Die Proletarier, wenn schon nicht aller Länder, so doch mindestens die eines Pariser Renault-Werks, sind da bereits so weit vereinigt, zur streikenden Masse verdichtet, dass zum Radfahren schlicht der Platz fehlt. Sie müssen schieben. Stillstehenden Augenblicken von kleinbürgerlichem Radlerglück – wo ja immer auch die Möglichkeit besteht, dass die Kette reißt – können sie nichts abgewinnen. Zu gewinnen haben sie bekanntlich eine Welt.