Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Juliet dans Paris von Claude Miller

Zwei Dinge beschäftigen mich, nachdem ich Juliet dans Paris von Claude Miller sah: ein Brief und die Sonnenbrillen. Juliet Berto spielt eine Frau mit demselben Vornamen, die mit einem Koffer nach Paris reist, um an der Universität zu studieren. Zwischendurch kommt sie bei ihrer Bekannten Lucille unter, hält sich aber bewusst auf Distanz, da sie ein kaum alltagstaugliches Schattendasein als Vampirin führt. Zwar versucht sie ihren Durst mit Taubenblut zu stillen, doch das gelingt nicht immer. In der Unterkunft, in der sie sich einmietet, fliegt sie bald hinaus, nachdem sie sich das Blut des Hauskätzchens zu eigen macht. Vor ihrem Rauswurf schreibt sie mit roter Farbe einen fünfzeiligen Brief an ihre Mutter: »Maman chère, ceux qui sont éveillés sont dans un même monde, mais ceux qui dorment sonst chacun dans un monde différent.« Die, die wach sind, sind alle in ein und derselben Welt, aber die, die schlafen in verschiedenen Welten.

Ich zweifle an der einen Welt der Wachen. Vielleicht gibt es sie geografisch, aber als Planet in seiner Ganzheit, auf dem befinden sich auch die Schlafenden, ob träumend oder nicht. Es ist wohl eher so, dass jede*r von uns innerhalb der Welt als Ganzes eine eigene Welt in sich trägt, die sich wiederum aus vielen, mit anderen geteilten oder von ihnen getrennten Welten und Realitäten zusammensetzt. Juliets Welt dreht sich um eine andere Lebens- und vor allem Ernährungsrealität als die ihrer Freundin Lucille. Juliet nimmt ihre Umgebung anders wahr, nahrhafte Tiere verlangen nach ihrer Aufmerksamkeit. Wenn sie in den Straßen von Paris vor gemalten Wandsprüchen – »A bas l’imperialisme« – vorbeiläuft, dann bekommen wir etwas von der politischen Realität um sie herum zusehen. Vermeintlich eine Welt der Wachen, der Aufgewachten. Die linke Protestbewegung, von der diese Botschaften stammen, dringt im Vorbeigehen aus der realen Welt des Jahres 1967 in diese Vampirgeschichte ein. So teilen Claude Miller und Juliet Berto offenbar eine Welt des politischen Denkens, eine der Wachen. Vielleicht lässt uns aber auch gerade eine Darstellerin und Filmemacherin, wie Juliet Berto, erkennen, dass man auch dann gemeinsam in einer Welt sein kann, wenn man schlummernd im Strom aus losen Gedanken dahinträumt und diesen auf einer Leinwand nachsinnt.

Manchmal wirkt es, als würde Juliet wie in einem Traum durch die Welt schreiten. Seltsam aufrecht, ausdruckslos und trotzdem innerlich verzweifelt. Berto blickt ernst, verzieht kaum eine Miene. Erst am Ende geht ein breites Lächeln aus ihren Mundwinkeln hervor, während ihre Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen bleiben. Wer sein Mienenspiel unter Kontrolle hat, behält seine Geheimnisse. Vielleicht trägt auch Lucille solche mit sich herum und behält auch deshalb in den eigenen vier Wänden ihre Sonnenbrille auf. Die Sonnenbrillen trennen Lucille und Juliet vom Rest der Welt, sie bewahren sich ihre eigene Welt und tauchen die äußere in Schattierung. Hinter den Gläsern können sie schlafen oder wachen, weinen oder gefasst sein, in die äußere Welt schauen oder in sich kehren.