Text: Rahel Jung
Irgendwo zwischen vergangenen Verheißungen und fernen feminist futures begegnen sich Céline und Julie. Eher: Juliet Berto als Céline verliert im Park – nichts passiert hier versehentlich – ihre Hüllen, Julie (Dominique Labourier) sammelt sie auf und legt sie an. Es wird sich in einem sommerlichen Paris versteckt und verfolgt bis in die Höhle des weißen Kaninchens. Ab da geht es in Céline et Julie vont en bateau von Jacques Rivette um Schlüssel und Verschlossenes, um Zugänge und sich (Er-)Öffnendes. Zangen oder Schweizer Taschenmesser werden dafür nicht gebraucht; was für eine Wiederverzauberung der Welt nötig ist, sind Bonbons und ein zuckersüßer Zaubertrank der vier Elemente.
Céline, von Beruf Zauberin, vollführt sexy-mysteriös-gelangweilt vor Zigarren-Männern halbglaubwürdige Tricks, während Julie als Bibliothekarin lieber Tarotkarten legt (angeblich liegt die Zukunft hinter ihr) und sich für den Fall der Fälle in Büchern über die Kraft von Dinosauerierkinderaugen informiert. Céline erzählt ihren Freunden, Julie habe einen rosafarbenen, herzförmigen Pool und zieht kurzerhand bei ihr ein. Gemeinsam verwandeln sie ihren Alltag in ein magisches Spiel und die filmische Erzählung folgt den beiden in einer traumähnlich labyrinthischen Struktur durch parallele Realitäten.
Denn da ist dieses Haus Nummer 7 in der Rue du Nadir aux Pommes – verlassen und verriegelt. So sollte es eigentlich sein, aber plötzlich verschluckt es erst Céline und daraufhin immer wieder alle beide. Jedoch nie gemeinsam, denn den darin wohnenden Geistern scheint eine unerkannte Besucherin zu genügen. Genauso plötzlich spuckt es sie auch wieder aus, schwitzend-schwächelnd stolpern sie erinnerungslos die Treppe runter, was bleibt: der Abdruck einer roten Hand am Schulterblatt und ein Bonbon im Mund. Und wie wir von Lewis Carroll wissen, sind Süßigkeiten in ihrem magischen Potential nicht zu unterschätzen. Bei Rivette heißt das konkret: lutsch dich in die Geschichte der anderen. Gebannt sitzen Julie und Céline auf einer Kiste (voller Puppen!) und schauen verzaubert einem Tag im Melodram einer kaputten Familie zu. Sie können es kaum erwarten, die magisch auf den Drops gespeicherten und immer nur von einer der beiden erlebten Episoden gemeinsam zu sichten. Schnitt-Gegenschnitt und ‚total meta‘ schauen sie das Leben der anderen, bis sich aus den Puzzleteilen ein Gesamtbild ergibt:
Da ist Camille, Tante der kranken kleinen Madlyn, die von Sophie gehütet und Miss Angèle versorgt wird, und ihr Vater Olivier, den alle Frauen wollen, aber wegen eines Gelübdes gegenüber seiner verstorbenen Nathalie keine kriegt. Böse sind irgendwie alle. Nur natürlich Madlyn nicht, die in Vianscher Manier in einem Zimmer voller rosaroter Blumen kränkelt, bis Schönes nicht mehr für guttuend befunden werden kann. Und natürlich auch Miss Angèle nicht, allerdings bekommt die Ärmste vom Anblick eines einzigen Fisches schon Gedächtnisverlust (vermutlich einzig und allein der verketteten Absurdität wegen). Denn nur zu gut, dass sie nicht auch bei Julie wohnt, da lebt nämlich in seinem kleinen runden Glas auch Herold, das einzige scheinbar männliche und dennoch ernstgenommene Wesen. Sprunghaft und episodisch erlutschen die beiden sich die Ereignisse, sind sie ausgesaugt, begeben sie sich erneut als Medium in das Geisterhaus, um ihre Gedächtnislücke auf Bonbons zu speichern. Und ist die eine damit beschäftigt, muss die andere auch mal eben als sie auftreten. So kommt es, dass jetzt abgeblitzte alte Liebhaber aus einem Leben vor der Freundinnenschaft doch noch ins Trappistenkloster gehen und vor der „kosmischen Zuhälterbande“ besser nicht mehr getanzt wird. Was aber nur gemeinsam geht: das kleine Mädchen Madlyn retten. Auf einem Rollschuh-Raubzug – der definitiv mit Fellinis Vatikan-Modenschau in Roma mithalten kann – ermopsen sie sich altes Hexenwissen und mischen sich, bewaffnet mit Augen-Ringen und Petersilie, in die hoch theatrale Geistergeschichte ein.
Die kleinen Wunder dieser Fabulation können wohl nur in spielend erforschender Zusammenarbeit entstanden sein. In einem Gespräch mit Delphine Seyrig für deren Film Sois belle et tais-toi beschreibt Juliet Berto, die an drei Produktionen von Rivette beteiligt war, den kollaborativen Prozess und betont die Wichtigkeit einer solchen Frauenfreundschaft auf der Leinwand. Im Spiel mit der sich multiplizierenden Imagination finden sich in Verschachtelungen von Verrücktheiten in Perspektive und Zeit, Form und Inhalt auf diese Weise Antworten und (T)Räume für andere Realismen. Und bevor angesichts der nouvellevagueschen Tradition finaler Close-ups auf die Held*in einer ironisch gesetzten Katze die Ehre zukommt, den Film zu beenden, fahren Céline und Julie und Madlyn doch noch Boot.