Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Duisburger Filmwoche 2022: Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien von Constantin Wulff

Die Wiener Arbeiterkammer ist eine geschäftige Institution, selbst wenn die Corona-Pandemie ihre Hallen leert und die Menschen in den Onlinebetrieb zwingt. In, mit der Kamera begleiteten, Beratungsgesprächen offenbaren sich die vielfältigen Probleme und Ausbeutungsstrategien am Arbeitsmarkt und zugleich die Arbeit einer Organisation, die all dem entgegenwirkt und versucht, für Gerechtigkeit zu sorgen.

Eingangs schildert Moderator Mischa Hedinger seine Seheindrücke. Nach seinem ersten Gefühl sei der Film sehr nah an den Menschen und ihren Ausbeutungserfahrungen gewesen, öffne sich dann aber plötzlich und der Ort und die Institution rücken in den Fokus. Er betont die Vielschichtigkeit und lobt den doppelten Blick auf die Arbeit der Institution, einmal von der Institution aus, aber auch von den Arbeitnehmenden.

Wulff bedankt sich für das Lob und beantwortet die erste Frage nach der Arbeitsmethode und dem Verhältnis zu Frederick Wiseman, der bekannt ist für seine Institutionenporträts. Mit Wiseman stehe er in freundschaftlichem Austausch und schicke Wiseman seine Filme vor der Veröffentlichung. Sie unterschieden sich jedoch in der Arbeitsweise, da Wulffs Film eine knapp einjährige Recherchephase vorausgegangen sei. Daraus sei das besondere Interesse an den Beratungsgesprächen hervorgegangen. Wulff interessiere sich weniger für die individuellen Schicksale, als für ein Bewusstsein der Strukturen. Diese ergeben sich im Film aus häufig vertretenen Berufen und auch deshalb habe er sich entschieden, die Szene über Bauhaftung im Film aufzunehmen.

An die Strukturen knüpft eine spätere Fragestellerin an. Sie hätte gerne erfahren, wo die Arbeiterkammer scheitert. Wulff entgegnet, die Zahl sei sicher hoch, sein Interesse habe aber nicht den Einzelfällen, sondern der Institution Arbeiterkammer gegolten, die bereits durch ihre Existenz die Situation auf dem Arbeitsmarkt immens verbessert habe. Anmerkend dazu wird im Publikum auf den Titel Für die Vielen anstatt „Für Alle“ verwiesen.

Ein Zuschauer lobt die Werbefilmszene und erklärt sich zum Fan des Werbefilms, woraufhin kurzes Gelächter ausbricht. In seiner Lächerlichkeit vermittle die Szene doch auf eine rührende Weise die emotionale Bindung zum Thema Gerechtigkeit. Wulff ergänzt, er finde die Szene auch spannend, da sie viel über das Selbstverständnis der Institution verrate.

Die nächste Frage dreht sich um die Pandemie, woraufhin Wulff eifrig unterbricht, um die Antwort „vorwegzunehmen“. Corona habe ihn „null interessiert“, ließe sich aber durch den beobachtenden Blick, den der Film einnimmt, nicht ausblenden. Ein offenkundig betrunkener Mann unterbricht das Gespräch aus der ersten Reihe und gibt einige wenig verständliche Worte von sich, welche sich lose auf das Thema Pandemie beziehen. Er hört nicht auf zu reden und allgemeine Unruhe bricht im Saal aus. Es gibt Zwischenrufe, „Wir wollen über den Film reden!“, bis schließlich ein Mann das Wort ergreift und einfach laut über den Film spricht. Der Saal beruhigt sich wieder. Während der Pandemie, welche die Form der Arbeit verändert hat, stellte sich die Arbeiterkammer als wichtige Institution heraus, die auch politische Arbeit leistete. Wulff zeigt sich glücklich, durch die Vernetzung in der Kammer auf die Maskenaffäre (österreichische Firmen hatten chinesische Masken importiert und diese als „Made in Austria“ umetikettiert) aufmerksam geworden zu sein.                                                   

Die Fragerunde öffnet mit der Frage nach der rechtlichen Grundlage der Firmennennungen im Film. Wulff erklärt, sowohl mit der Institution als auch juristisch genau geklärt zu haben, dass es möglich sei, die Namen der Firmen zu gebrauchen. Dies diene der Arbeiterkammer sogar als Prävention, denn viele Firmen tauchen immer wieder in der Arbeit der Kammer auf.

Die Rezeption des Films sei in Deutschland überraschend positiv, in Österreich gebe es von der Linken eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber der Kammer, die in ihrer Gründung fußt, sich jedoch in den letzten Jahren gelegt habe. Worauf diese Voreingenommenheit fußt, bleibt in der Diskussion unklar. Einige Linke kritisieren beispielsweise, dass der starre Fokus auf Arbeiter andere soziale Gruppen ausblende, oder werfen ihr eine zu enge Beziehung zur Sozialdemokratischen Partei Österreichs vor.

Danach gefragt, wie es Wulff gelinge, bei so einem langen Dreh die kritische Distanz zu wahren, antwortet er, die Grundregel sei, dass die Institution vertraglich keinen Einfluss auf den Schnitt nehme. Ein gewisses Vertrauen der Mitarbeiter sei natürlich nötig, er wiederhole jedoch keine Szenen und interveniere nie in den Arbeitsvorgang. Anschließend finde im Schnitt eine „kalte Analyse“ des Materials statt, die die nötige Distanz gewährleiste.             

Kritisch wird dann die Schlussszene, in der der Film von der Arbeiterkammer in die ruhigen Straßen Wiens wechselt, diskutiert. Auf einige Zuschauer wirkt sie leer, auch Hedinger stellt in Frage, ob es der bestmögliche Schluss sei. Die Szene sei in ihrer Bedeutung zu vielschichtig und lüde uns zu sehr ein, über die Häuser und deren Einwohner zu spekulieren. Wulff verteidigt sie als Rückbezug zum Anfang, sowie von der Institution zu den Arbeitern, ihm gefalle die Offenheit der Szene.

Zum Schluss wird noch über das Verhältnis zu den abgebildeten Menschen gesprochen. Wulff erläutert, alle hätten eine Einverständniserklärung unterschrieben und durch die lange Wartezeit konnte er das Projekt meist gut erklären. Das Team sei mit der Kamera immer sehr präsent gewesen, das Gegenteil zu einer „unsichtbaren Kamera“, die Wulff scharf als „Überwachungskamera“ kritisiert.

Die Diskussion beleuchtet die respektvolle und zugleich interessiert-distanzierte Haltung, mit der in Für die Vielen eine Institution betrachtet wird. Die Arbeiterkammer erschließt sich dem deutschen Zuschauer, trotz eines fehlenden deutschen Pendants, durch reines Beobachten der Arbeitsschritte.

Von Luk Polleit