Als ich vor ungefähr zwei Jahren in Paris ankam, schien mir die Stadt wie ein riesiger Raum der Zufälle, der Gefahren und der komischen Begegnungen. Ich fühlte mich winzig klein zwischen den Hausmann‘schen Gebäuden, auf den schwingenden Straßen in den weniger üppigen Bezirken oder in den alten, staubbedeckten Gängen der Sorbonne. Die Bequemlichkeit, mit der die anderen sich die Stadt zu eigen machten, war mir ein Rätsel – und ist es noch immer. Wie der Mann des Mobs im Gedicht von Charles Baudelaire habe ich in Paris nichts als die unangenehme und zugleich lehrreiche Erfahrung der Durchsichtigkeit gemacht. Man wandert durch die Straßen und ist zugleich von der Stimmung der Straßen durchwandert. Hie und da ein rascher Blickaustausch, gleichgültig, verwundert, unheimlich. Auf den Straßen bin ich nie glücklich gewesen, auch nicht sonderlich verspannt, ich war einfach ein Gespenst. Ein Obdach hat dieses Gespenst in der Dunkelheit der Kinos gefunden.
Man hört oft, besonders in cinephilen Kreisen im Ausland, Paris sei die Stadt der Kinosäle, ja, wenn nicht sogar die Hauptstadt des Kinos schlechthin. Auf einer sachlichen Ebene lässt sich das heute noch bestätigen. Schon im berühmten „Quartier Latin“ stehen dem anspruchsvollen Filmsüchtigen unglaublich viele Säle zur Verfügung, von denen manche über die Jahre hinweg zu echten Institutionen geworden sind, wie zum Beispiel das Champollion oder die Filmothèque. Zudem besucht das Publikum diese Vorführungen auch eifrig. Angesichts dieser Faktenlage stellt sich mir aber ein neues Rätsel: Woran könnte diese Begeisterung für die Filmgeschichte liegen? Sind die Pariser, wie ein alter Spruch lautet, ein angeboren filmbegeistertes Volk? Mit einer solchen Ansicht kann ich, oder will ich mich nicht zufriedengeben. Es scheint mir da eine schlichtere, wenn auch vielleicht etwas plumpere Antwort zu geben.
Zunächst aber, eine Anekdote: In (fast) allen Vorführungen historischer Filme im Christine 21 – einem Kino, welches früher als „Action 21“ bekannt war, das kürzlich aber von Isabelle Huppert übernommen, und zu diesem Anlass umgetauft worden ist – in denen ich gewesen bin, war im Publikum eine Frau anwesend. Sie war etwa Mitte vierzig, dünn, blond, immer mit einem schüchternen Lächeln im Gesicht. Eher schlicht und alterslos bekleidet – ein Wollpulli, ein schwarzer Rock. Jedes Mal, ob an der Kasse oder gleich im Kinosaal, vor dem Beginn der Vorführung, würde sie sich fallen lassen, als wären ihr ihre Beine von einem bösen Geist weggezogen worden. Jedes Mal aber, wenn der Film begann, würde sie sich wieder zurechtfinden und sich von der Handlung bezaubern lassen, als wäre gar nichts geschehen. Aus meiner Sicht bietet diese Figur eine überzeugende Erklärung dessen, was die Liebe der Pariser fürs Kino ausmacht: Es ist ein Raum, der auf sie wie ein Schutzort wirkt. Ein Raum, der ihnen ermöglicht, die Wirklichkeit der Stadt für ein paar Stunden zu vergessen. Nicht das Elend der Welt an sich, sondern das Elend von Paris hört auf, seinen perversen Klang in die Ohren der Menschen zu treiben. Man stirbt auf dem Fußweg und erwacht nur ein paar Schritte weiter, um sich vor der Leinwand zu vergessen. In Paris war es eigentlich schon immer dieser Zustand des erwachten Einschlafens, welcher mich ins Kino getrieben hat. Ja, ab einem gewissen Punkt wurden mir die Filme zur Droge, weniger aufgrund ihres Wesens als Kunstwerk, sondern weil sie mir die erholsame Gelegenheit boten, mein gespenstisches Schicksal in Ruhe zu vervollkommnen.
Nach einem Jahr in der Stadt, nach Unterrichtsende und wenn die Sonne die kleine Wohnung zur Sauna macht, fällt es einem aus irgendeinem Grund schwieriger, den Kinosaal zu erreichen. Wegen der unerträglichen Hitze kriegt man nicht genügend Schlaf, und wenn man erwacht, ist die Stadt schon seit mehreren Minuten in Bewegung, brüllend, unhöflich, ärgerlich. Es wirkt sicherer, mit den verstreuten Büchern und den zerknüllten Kleidern in der Wohnung zu verbleiben, als die Wucht der Straßen ins Gesicht zu bekommen. Dann will man aber doch ins Kino, weil man feststellt, dass man dem einen Buch, das man gerade lesen wollte, nicht ausreichend Aufmerksamkeit schenken kann. Kaum hat man einen Fuß auf die Straße gesetzt, schon fängt das Hemd an, an der Haut zu kleben. Als man die Schritte beschleunigt, aus Angst, man würde sonst den Anfang des Filmes verpassen, merkt man, dass man vergessen hat, die Ärmel hochzukrempeln. Ein großer Fehler, denn spätestens wenn man aus der U-Bahn aussteigt, sind sie mit uneleganten Schweißspuren bedeckt. Und genau darauf legt man viel Wert, die wenigen Male, an denen man sich das belastende Vergnügen gönnt, in die Öffentlichkeit des Pariser Dschungels zu treten: man will – selbst für eine fünf Minuten lange Fahrt – elegant sein. Nicht bloß, um aus der Menge herauszustechen, sondern vielmehr weil das unduldsame Gesetz der französischen Hauptstadt einem keine andere Wahl lässt: Nur von den Selbstbewussten (oder den selbstbewusst Erscheinenden) lässt sich die Stadt ein wenig beherrschen.
Als ich die Treppe der U-Bahnstation Cardinal Lemoine zur Rue Monge hochgehe, fühle ich mich wie in einen ungewissen Zeitraum versetzt. Ich bin mir unsicher, ob ich mir wie ein Mann der Vergangenheit vorkomme, oder ob gerade umgekehrt die Stadt in ihrer Vergangenheit gefangen zu sein scheint. Es war der Schriftsteller Ulrich Peltzer, der mir vor ein paar Monaten nach einem Gespräch mit dem Soziologen Didier Eribon am Goethe Institut gesagt hatte, er empfinde Paris wie eine Art Dorf, welches sich nie wirklich modernisiert habe. Knapp zwanzig Jahre nach seinem ersten langen Aufenthalt in Paris, habe sich die Stadt wenig verändert. Aus meiner Erfahrung als Pariser Wanderer schließe ich mich diesem Gedanken an – ich würde aber sogar weiter gehen: Paris ist weniger die Hauptstadt Frankreichs als eine Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Eine solche Behauptung zu rechtfertigen ist nicht so einfach. Man muss es erleben. Es nimmt die Form eines unfassbaren Gefühls an, welches in der Luft schwebt, und unseren Weg in eine Richtung lenkt, die sich schnell als bedrohlich erweisen kann – der Spleen ist in dieser Hinsicht keine Erfindung von Baudelaire, sondern er hüllt die Physiognomie der Stadt von Grund auf ein, dringt ins Leben eines jeden Menschen ein, sei es der betrunkene Obdachlose, der seit Jahrzehnten neben der Treppe der Station Odéon übernachtet, die kühle Geschäftsfrau, die mit verschlossenem Gesicht in den Wagen einsteigt oder die junge Studentin, die mit 23 Jahren, wie eine 30-Jährige aussieht.
Glücklich mit Simone
Das „Grand Action“ befindet sich im fünften Arrondissement, genauer gesagt in der Rue des Ecoles, unweit vom Institut du Monde Arabe. Es ist ein vernünftig großes Kino mit zwei Sälen, das Neuigkeiten ebenso wie Klassiker zeigt. Heute, am Mittwoch, dem 20. Juni, um 14 Uhr, ist da unter anderem ein rarer Film zu sehen, nämlich Simone Barbès ou la Vertu (wörtlich übersetzt: „Simone Barbès oder die Tugend“) von der Regisseurin Marie-Claude Treilhou. Als ich den Saal betrete, drei Minuten vor 14 Uhr, ist er leer. Ein auf die hintere Wand gemalter Henri Langlois wirft einen bizarren Blick auf mich, ich erschrecke leicht. Langsam kommen weitere Zuschauer. Zuerst zwei alte Männer, dann eine alte Frau, die mich fragt, ob sie in den richtigen Saal gekommen ist, und letztlich ein anderer Mann, der in seinen Zwanzigern zu sein scheint. Besonders wenn man müde ist, stellt sich einem manchmal die Frage des Motivs: Warum hat man gerade dieses Filmes wegen sein Zuhause verlassen, wo man sich mit etwas vielleicht Befriedigenderem hätte beschäftigen können? Was Simone Barbès betrifft, hatte ich mich zwar zuvor erkundigt, worum es in diesem Film gehen sollte, welche Figuren vorkommen. Aber auf diese dummen Fragen gibt es keine Antworten. Es wird sie nie geben. Im Vorhinein zu versuchen die mögliche Botschaft des Werkes herauszufinden ist Blödsinn. Inzwischen habe ich alles vergessen, was ich gelesen habe, und warte jetzt voller Ungeduld darauf, dass der Film endlich anfängt, um zu wissen, warum ich ihn überhaupt habe sehen wollen.
Es beginnt mit elektronischer Musik, die irgendwie nach „Noir“ klingt. Die ersten Bilder sind statische Einstellungen der Stadt. Paris, Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger, schwer zu bestimmen. Dunkle, schmutzige Fassaden, Neon-Schriftzüge („Sex shop“) und Reklameschilder. Schwarze Wolken am Himmel. Morgengrauen oder einige Minuten vor Einbruch der Nacht. Es folgt eine leicht verwackelte Aufnahme: Das Leuchtschild eines Kinos, von unten gefilmt – aus wessen Standpunkt? Gleich darauf schwenkt die Kamera nach unten, einem Kunden folgend. Durch eine erste Glastür, durch eine zweite hindurch, und schon ist man am Handlungsort des ersten – des besten – Teils des Filmes angelangt: einem Porno-Kino, das von einer geschwätzigen, resoluten, aber auch lustigen kleinen Frau – etwa dreißig Jahre alt – geleitet wird. Sie vergewissert sich, dass die Kunden ihre Karten gekauft haben und führt sie in den richtigen Saal. Wie man im Lauf eines Dialogs erfährt, ist es schon spät in der Nacht. Die Hauptfigur – sie heißt Simone und wird von Ingrid Bourgoin gespielt – und ihre Kollegin Martine (Martine Simonet) verbringen ihre letzten Stunden Arbeit mit banalen Diskussionen, Würfelspielen und Langeweile, welche sie sich aber offensichtlich nicht anstrengen zu vertreiben. Dann verlässt Simone kurz das Kino, um zwei Gläser Rotwein aus einer Bar zu holen. Als sie zurückkommt, erzählt sie ihrer Freundin, sie habe dort eine an der Theke stehende Verrückte gesehen, die laut schreiend Unsinn von sich gegeben hat. „Was für eine Straße…“, erwidert Martine sanft lachend. Sie meint damit leicht abwertend „Was für eine durchgeknallte Straße“. Mit diesem Satz fesselt mich Simone Barbès, denn es ist das erste Mal, dass ich in einem Film so deutlich einen Gedanken ausgedrückt sehe, der mich selbst seit langem beschäftigt. Paris ist mir schon immer wie eine einzige Riesenstraße erschienen. Eine Straße, die einem den Atem raubt, eine Strecke, welcher man nur schwer folgen kann – kurz, eine verrückte Straße. Eine Straße, die mich verrückt macht. Das wird gegen Ende dieses ersten Teils des Films noch beeindruckender illustriert, in einer Szene, in der die Glastüren des Kinos zur Leinwand werden, und durch welche der Teil der Straße, die man sieht, zu einem Film wird. Plötzlich wird die Wirklichkeit der Straße zu einer melodramatischen Fiktion. Die Verrückte, von der vorhin die Rede war, rennt einem besoffenen Mann hinterher. Ruft ihm nach, dass sie ihn liebt. Schließlich fällt sie auf den nassen Fußweg, außer Atem. Gleich danach ist Simone zurück zum Geschäft. Die Verrückte hat ihr zwar eine unterhaltsame Pause geboten, nun muss sie aber weiterarbeiten. Ob sich gerade eine Ansteckung des Wahnsinns durch die gläserne Leinwand ereignet hat, bleibt offen. Das Interessante an dieser kleinen Szene ist eigentlich, dass sie paradoxerweise den einzigen Moment des Filmes darstellt, an dem etwas wie eine visuelle Idee des Kinos – hier also durch eine schlichte Leinwand – gestaltet wird. Denn an keiner anderen Stelle, trotz des ständigen Hin- und Hergehens der Kunden zwischen den Sälen, deren Ein- und Austretens, bekommt man außer ein paar Geräuschen der Soundtracks etwas von dem mit, womit sich die Zuschauer befassen. Vielleicht möchte Treilhou einfach den Schluss ziehen, dass die Einstellung der Stadt jeden möglichen Übergang von der rohen Wirklichkeit zur fiktiven Welt – und umgekehrt – verbietet, ja, dass eine Verschmelzung dieser beiden Universen, wie sie im Kino so oft vorkommt, eine Lüge wäre.
Die Filmemacherin inszeniert gleichwohl eine gewisse Durchdringung der Räume und der Zeiten, vor allem durch die Geräusche, die vom Saal oder von der Straße in die Kinohalle gelangen, nur bietet diese Durchdringung keinen Zugang zur versteckten Dimension des Realen, wie es in manchen Pariser Filmen von Jacques Rivette der Fall ist (vor allem in Céline et Julie vont en bateau und in Le Pont du Nord). Marie-Claude Treilhou zeigt vielmehr eine unangenehme, penetrante Überdeckung zwischen diesen Räumen. Und wie schwer diese Überdeckung die Privatsphäre der Figuren beschränkt. Wenn die Türe der verschiedenen Säle von den Kunden oder von Simone geöffnet werden, hört man laut den Ton der pornographischen Filme, manchmal auch noch nachdem die Türe wieder geschlossen worden sind – ohne, dass die Lautstärke abnimmt. Diese etwas unrealistische Entscheidung – in einem Film der ansonsten realistisch wirkt – ist wahrscheinlich erdacht, um darauf hinzuweisen, dass Simone stets wie auf einem schwankenden Boden steht, immer dazwischen und nie wirklich „in der Mitte“. Sie ist, so lebendig sie aussehen mag, auch ein Gespenst, welches von den Erwartungen, den Sorgen, den Siegen und den Niederlagen der anderen durchdrungen ist. Wie oben erläutert gönnt sich Simone in diesem ersten Teil des Filmes nur einen echten Moment der Einsamkeit, nämlich als sie durch die Glastüre hindurch die Verrückte beobachtet, und nur in diesem Moment deutet Treilhou darauf hin, dass Paris womöglich die einzige Stadt in der Welt ist, dessen Schicksal ist es, sich auf der Leinwand besser anzufühlen als in der Wirklichkeit. Dieser Rivette-Moment ist aber schon längst vorbei, als wir einen tieferen Blick ins Leben Simones bekommen – in den weniger überzeugenden letzten zwei Dritteln der Erzählung, von denen ich noch nicht weiß, was ich von ihnen halten soll. Simone Barbès ou la Vertu ist ein Film, der ausschließlich diejenigen zu trösten vermag, die sich schon bewusst sind, dass Paris auf der Leinwand keineswegs schöner – aber auch nicht hässlicher – ist, als in der Wirklichkeit. Ein Film, der also vielleicht in erster Linie denjenigen gewidmet ist, die die Stadt durch die Augen des Gespenstes ihrer selbst erleben.