Text: Leonie Jenning
1.
Begrenzte Optik: Der Ursprung allen Sehens ist das Licht. Jedes Objekt reflektiert Licht, und kann so von einem Auge als solches erkannt werden. Durch Hornhaut, Pupille und Linse gebündelt, trifft das auf dem Kopf stehende Abbild auf die Netzhaut. Dort wandeln Millionen von Fotorezeptoren, die Zapfen für Farben und die Stäbchen für Helligkeit, das Licht in Nervenimpulse um, die über den Sehnerv ans Gehirn geleitet und dort zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Dieses interpretiert die Signale, ergänzt fehlende Informationen und erzeugt eine beständige, farbige und dreidimensionale Wahrnehmung der Außenwelt. Ein Puzzle der Wirklichkeit, das seinen Sinn verliert, sobald sich der Blick abwendet.
Image: Vor 57 Jahren, kurz vor den Studentenrevolten im Mai 1968, treffen sich Juliet Berto, Jean-Pierre Léaud, Jean-Luc Godard und die Kameramänner Georges Leclerc und Jean-Louis Picavet irgendwo in Frankreich in einem Filmstudio, um neue sowie bereits existierende Bilder und Worte zu zerlegen, um sie in einer völlig neuen Zusammensetzung für die Nachwelt festzuhalten. Le Gai Savoir wird damit Teil einer kulturellen Revolution – hergestellt, um Sehgewohnheiten zu untersuchen und dem Anspruch auf absolutes Wissen seine Grundlage zu entziehen. Ein Versuch, den Ursprung von Wissen zu ergründen. Zurückzukehren zu dem sogenannten „Nullpunkt“. Zunächst geht der Film von einer objektiven Form des Wissens aus. Wissen, als mögliche unabhängige Beschreibung der Realität, die potenziell für alle zugänglich und überprüfbar ist. Allerdings verschiebt sich der Fokus verschiebt nach einiger Zeit hin zum subjektiven Wissen, auf die Vorstellung pluraler Wirklichkeiten, die erst in den einzelnen Augen und Ohren entstehen, bevor aus ihnen persönliche und abgründige Gedanken und Erkenntnisse hervorgehen.
Patricia Lumumba, gespielt von Juliet Berto, begegnet in dem besagten Filmstudio in sieben Nächten Émile Rousseau, verkörpert von Jean-Pierre Léaud. Sie sprechen, hören und sehen, um zu lernen und zu lehren „jene Waffe gegen den Feind selbst zu wenden, mit der er uns am hartnäckigsten traktiert: die Sprache.“ Dafür entwickeln sie in der ersten Nacht einen Dreijahresplan: Im ersten Jahr wollen sie Töne, Wörter und Bilder zusammentragen. Im zweiten Jahr soll es um eine fragmentierte Auseinandersetzung mit dem gesammelten Material gehen, damit dieses von der Repräsentation konservativer Ordnung befreit werden kann. Und im dritten Jahr soll ein sprachlicher Paradigmenwechsel herbeigeführt werden.
Dieser Film ist der Anfang.
Im 92-minütigen, brechenden Informationsfluss werden ideologische Konstruktionen einfach von der Bildfläche gespült. Es geht einfach zu schnell. Zu schnell, zu schnell, zu schnell, um von eindeutigen Kategorien Gebrauch zu machen. Die Bilder und Töne entziehen sich in jeder Sekunde jeder Form von repressiver Ordnung. Le Gai Savoir lebt vom Überfluss. Zu viele Bilder, zu viele Geräusche, zu viele Wörter. Und alles ist die ganze Zeit da. Ob die Augen offen oder geschlossen sind. Letztlich wird in der Informationsdichte das sichtbar, was der erste Blick nicht offenbart: Die Zuschauerin selbst.
Also Sie, oder Ich. Je nachdem.
„Willst du die Welt sehen, dann schließe die Augen, Rosamonde.“, sagt Patricia Lumumba alias Juliet Berto, bevor sie wirklich ihre Lider senkt und ein bisschen lachen muss.
Ich sehe das Bild, und erkenne darin alles, was ich bin und gleichzeitig nicht bin. Vor allem nicht Juliet Berto. Ihr Gesicht wird von anderen Bildern abgelöst – Aufnahmen des täglichen Lebens in Paris: Straßen, Menschen. Diese Bilder beanspruchen eine Objektivität, die ihnen niemand geben kann. Denn auch ihr Sinn liegt in ihrem Ursprung – in dem Blick, der sie hervorbringt.
In diesem Fall: Ich.
2.
Begrenzte Akustik: Jedes Geräusch erzeugt Schwingungen, die sich als Druckwellen durch die Luft ausbreiten, bevor sie vom Außenohr aufgefangen und durch den Gehörgang zum Trommelfell geleitet werden. Dort werden die Schwingungen verstärkt und über die Gehörknöchelchen – Hammer, Amboss und Steigbügel – ins Innenohr weitergeleitet. In der mit Flüssigkeit gefüllten Hörschnecke bewegen sie Haarzellen, die mechanische Schwingungen in elektrische Impulse umwandeln und über den Hörnerv ans Gehirn senden. Das Gehirn entschlüsselt diese Signale, ergänzt fehlende Informationen und formt daraus eine Geräuschkulisse, die als kohärente akustische Außenwelt wahrgenommen wird. Die Komposition der Realität löst sich auf, sobald das Ohr die nächsten Druckwellen in einen neuen Kontext setzt.
Imagine: Bei geschriebenen Texten fehlt für gewöhnlich der Ton. Durch die Abwesenheit von Ton wird die Vorstellung, die beim Lesen in den Köpfen entsteht, umso wahrer. Die Geräuschkulisse, die den:die Leser:in tatsächlich umgibt, verfehlt dabei immer den Inhalt des Texts. Selbst der Versuch, einen passenden Ton mit geschriebenen Worten zu synchronisieren, würde immer scheitern, denn jede:r braucht seine:ihre Zeit, um sich die Worte zu erschließen und genau darin entsteht eine gefährliche Nähe zum eigentlichen Sinn des Seins. Das individuelle Empfinden von Zeit zeigt sich nirgends so deutlich wie bei der Lektüre.
Also: „Stellen Sie sich vor, jemand sagt zu Ihnen: Schließen Sie die Augen und hören Sie gut zu! Sie sitzen zu Hause vor Ihrem Küchentisch. Ganz zufällig liegt darauf eine Glasflasche gefüllt mit Hochprozentigem, ein Baumwollappen und ein Feuerzeug. Sie fragen sich, was man damit wohl alles anstellen könnte … und dann, ganz plötzlich, fällt Ihnen ein Gesicht ein, das Gesicht von Wjatscheslaw Molotow und beinahe zwanghaft müssen Sie an eine Explosion denken. Sie blicken in ihren persönlichen Abgrund und dort formen sich aus drei unschuldigen Gegenständen in wenigen Augenblicken ein unwiderlegbarer Standpunkt. Verwechseln Sie diesen Standpunkt aber nicht mit der Wahrheit. Denn diese ist immer infrage zu stellen.“
Sie hören die Worte, denken sie in einem Zusammenhang, lösen sich in ihren Gedanken auf und verbrennen sich im nächsten Augenblick den Verstand.
ACHTUNG
3
2
1
Die Bilder, die ich sehe, und die Geräusche, die ich höre, sprechen zu mir. Die ganze Zeit! Sie haben mehr mit mir zu tun, als mit dem, was sie abbilden. Der Film vermittelt die totale Pluralität, die mich mit der Vorstellung konfrontiert, was mein persönlicher „Nullpunkt“ sein könnte. Nach 92 Minuten kommt Le Gai Savoir zu seinem Ende. Der Bildschirm wird schwarz. Auch der spiegelt immer nur mich selbst wider.
Na, das sind vielleicht Aussichten … da fallen mir doch glatt die Augen zu. Und dann höre ich im Radio, wie jemand sagt: „Tesla-Gegner greifen Konzern-Infrastruktur mit Gewehren und Molotowcocktails an“.
Kollabierende Zusammenhänge in Bild und Ton werden von allen Menschen hervorgebracht, die irgendwie in Kontakt treten. Alle sind die Ausnahme und die Regel. Deswegen stimmt es auch nie, wenn Leute davon sprechen, dass alle gleich sind. Wir sind uns alle fremd, und in dieser absoluten Verschiedenheit liegt eine explosive Mischung. Darin liegt die Kraft, die Sinnzusammenhänge der Bilder und Töne, die von militanten Autoritäten vereinnahmt wurden, zum Kollabieren zu bringen.