Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zu Mur Murs von Agnès Varda

Text: Leonie Jenning

„The word mural means: I exist and I sign what’s mine.“

1979 beginnt Agnès Varda in einem essayistischen Dokumentarfilm die Wandmalereien, die sogenannten Murals in Los Angeles auf 16mm-Material festzuhalten. Während sie dem Flüstern der Murals von Venice Beach bis East L.A. folgt, kommentiert Agnès Varda das, was sich vor ihrer Linse abspielt, in einem persönlichen Voiceover und verbindet so ihren Blick mit den Bildern auf den Wänden. Was liegt hinter den gestalteten Fassaden? In welchem Verhältnis steht der Film zu den Bildern, die er zeigt? Um diesen Fragen nachzugehen, sind in Mur Murs nicht nur die großflächigen Wandgemälde zu sehen, sondern auch die Menschen, die sie erschaffen haben. Agnès Varda filmt so, dass jedes Wandbild immer auch ein Selbstporträt ist, ein Akt der Selbstvisualisierung in Farbe auf Stein, das sich von dem ersten Moment an, sobald die Farbe auf das Material trifft, in dem Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Auslöschung befindet. Manche der Bilder entstehen illegal, andere werden offiziell in Auftrag gegeben, aber alle verbindet:

Man sieht, was man sieht. Und das ist alles.

Ein Selbstbild auf einer Mauer für alle und jeden zugänglich. So werden die Mauern von L.A. und anderswo zu Archiven kollektiver Erinnerung. Die Murals halten die unterschiedlichsten Leben fest. Gerade dort, wo der Tod besonders nah ist. Und so verwandeln sie sich in ein Mosaik widersprüchlicher Identitäten irgendwo zwischen Leben und Tod, abgetrennt von den Existenzen, die sie geschaffen haben.

Eine beschriftete Wand in Mur Murs

„Nur weil ich paranoid bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht verfolgt werde.“

Wenn Wände Glück haben, werden sie zweckentfremdet und werden so zu einem Medium. Dann tragen sie nicht nur eine architektonische Konstruktion, sondern auch eine Seele, ein „illegales“ Bild. Die grenzenlose Vorstellungskraft besetzt Wände als Material und ist eine Reaktion auf eine von Einschränkungen und Sachzwängen geprägte Welt. Malen als Antwort auf die Rückeroberung unserer kommerzialisierten visuellen Umwelt und als Widerstand gegen das totalitäre System von Privateigentum und selbstreferentiellem Kulturkonformismus.

Viele dieser Werke sind sogenannte Throw-Ups. Flüchtige Formen des Graffitis. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Als Eingriffe in den öffentlichen Raum stören sie die vermeintliche Ordnung des „unbefleckten“ Privateigentums und werden systematisch entfernt, um die Illusion dieser Selbsttäuschung aufrechtzuerhalten.

„Die demokratische Pflicht zum zivilen Ungehorsam“, so nannte es der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau. Im Graffiti wird diese Pflicht zur Praxis: Der urbane Raum verwandelt sich in ein politisches Spielfeld und privatisierte Leerstellen werden durch diese künstlerischen Eingriffe immer wieder besetzt und wiederbelebt. Die Wiederholung an unterschiedlichsten Orten macht das Throw-Up erst zu einem umfassenden Gesamtkunstwerk. Denn ein Throw Up kommt selten allein. Wenn es irgendwo eines zu sehen gibt, wird es auf der Welt noch einige mehr davon geben.

„P.O.V.“ Throw-Up in Bitterfeld-Wolfen, gesichtet am 02. Juni 2024

„Do they mean to challenge the idea of a mural and confront the wall itself or enter into the wall and be part of it forever?“

In Los Angeles sind Wandgemälde, sogenannte Murals, künstlerischer Protest gegen soziale Ausgrenzung und Ausdruck eines kollektiven Gedächtnisses. Ihre Ursprünge reichen zurück in das Mexiko der 1920er Jahre. Im Zuge der mexikanischen Revolution entstanden sie als staatlich gefördertes Mittel zur „politischen Bildung“. In den 1960er Jahren gelangten die Murals dann mit der mexikanischen Migration in die USA. Dort wurden sie zu einem bedeutenden Medium der Chicano-Bewegung, einer Bürgerrechtsbewegung, die sich gegen die Diskriminierung und Marginalisierung von Mexican Americans richtete.

Die Chicano-Murals artikulieren konkrete gesellschaftliche Forderungen, fungieren als Protestform und machen das mexikanisch-amerikanische Leben im urbanen Raum sichtbar. Mit den Bildern treten sie in den Widerstand gegen die Gesellschaft als Ganzes. Sie bieten Zuflucht für abweichende Gedanken und bilden die Grundlage für eine Haltung, die Individualität und Kollektivität gegen die Kräfte der Mittelmäßigkeit, Kommerzialisierung und Gleichschaltung verteidigt.

Diese Geschichte des Widerstands spiegelt sich auch in Agnès Vardas Bildern in Mur Murs wider. Varda zeigt, dass Murals in Los Angeles mehr bedeuten als bloßer Wandschmuck: Sie sind Träger von Erinnerung und Widerstand. Ganze Straßenzüge erzählen in Farbe und Form von den Abgründen der Menschheit und zeigen die Absurdität des Lebens in bunten Farben: Skelette, Totentänze, Heilige. Symbole der mexikanischen Kultur, die den Tod nicht verdrängen, sondern ihn ins Leben verwickeln. Im Straßenbild werden diese Wandbilder zu Kulissen, die Passant:innen zu Figuren einer Bildwelt machen, in der sich nicht mehr klar sagen lässt, wo das Bild aufhört und das Leben beginnt.

Ein Kind mit einem Gewehr vor einem Mural in Mur Murs

„Ich bin paranoid! Ich habe euch nie vertraut“

„The fall of Icarus is quite a story. The cosmonaut fell through the air. Lay the blame on Voltaire. Icarus fell to the flows. Lay the blame on Rousseau“, spricht Juliet Berto in die Kamera. Sie steht auf einem Parkplatz vor einem der vielen Murals in der Umgebung. Das Wandbild zeigt eine Prärie, mitten in der Wüste. Ein Cowboy sitzt auf seinem Pferd und blickt auf ein Billboard, das einen Kosmonauten beim Fall aus dem All zeigt.

Aus der paranoiden Grundhaltung der Macht, alles kontrollieren und jedes Risiko ausschließen zu wollen, erwächst ein dringender Wunsch nach Freiheit. Ein Wunsch, der sich an Hauswänden Platz verschafft.

Wer der Angst vor der Zukunft folgt, verschließt sich vor sich selbst und existiert wie ein Untoter, der all seine Energie darauf verwendet, Risiken auszuschließen, um dem Horror zu entkommen, am nächsten Tag wieder aufzuwachen und sich den Unwägbarkeiten der Welt zu stellen. Das ist eine sichere Methode, sich selbst vollkommen zu verlieren und zu vergessen, dass der eigene Blick auf die Welt von maximaler Begrenztheit ist: Wir können nicht einmal wissen, ob die Kategorien, mit denen wir uns die Wirklichkeit erschließen, auch für andere einen Sinn ergeben. Wer wir wirklich sind, zeigt sich nicht im Spiegel, sondern erst, wenn wir in ein fremdes Gesicht schauen. Wer genau hinsieht, erkennt darin das ganze Universum. Dann begreifen wir: Wir sind nie der Mensch, für den wir uns gehalten haben. Aber der Schatten, der uns folgt, gehört zu uns.

Spurloser, Joachim (@spurloser)
„P.O.V.“ Throw-Up in Marseille, gesichtet am 13. Oktober 2021. Gefunden auf Instagram, am 24 Apr. 2025

„The future may be a wave that will wash us away.“

Indem Künstler:innen Bilder an Wänden hinterlassen, übernehmen sie die Kontrolle über ihre öffentliche Wahrnehmung. Mit Distanz, ohne körperlich präsent sein zu müssen. Gleichzeitig entsteht mit jedem Wandbild eine Art Leben nach dem Tod: eine öffentliche Leiche, die gegen Gewalt resistent ist, weil sie sich nicht vereinnahmen lässt, sondern immer nur für sich selbst steht. 

Viele der Wandbilder, die Agnès Varda in Mur Murs mit ihrer Kamera festhält, sind heute übermalt oder ganz verschwunden. Doch den Dialog, den auf den Wänden und Mauern Unbekannte miteinander führen, setzt sich fort, und das ganz ohne Missverständnisse. Die Verabredung ist von vornherein klar: Diese Bilder sind der Inbegriff einer Verwandlung, gerade weil sie ein Teil des öffentlichen Raums sind.

Im Laufe der 85 Minuten wird Mur Murs selbst zu einem Raum der Erinnerung, der allerdings nicht mehr überschrieben werden kann. Er ist vielmehr eine Zeitkapsel und bewahrt die Spuren einer Revolution in sich. Im wirklichen Leben geht es weiter: immer vorwärts! Nicht als Parole, sondern als Notwendigkeit.

Ein Kind auf der Bank vor einem Mural in Mur Murs

„Ich bin paranoid! Ich habe immer an mich geglaubt.“

Jeden Tag.

Immer wenn ich gezwungen bin, mich der Welt zu stellen, fühle ich mich massiv beobachtet. Mein Leben lang stolpere ich mit gemischten Gefühlen von einem Gespräch ins nächste, ohne zu wissen, woran ich bin. Gleichzeitig muss ich sicherstellen, dass mir dabei jemand zusieht, wie ich sehe und interagiere, damit ich überhaupt weiß, dass ich in Kontakt mit anderen treten kann. Dabei ist alles immer eine Frage von Ort und Zeit. Und eine Frage von Wahrnehmung und Bewertung. Ich habe gelernt, Gesichter zu lesen, Ähnlichkeiten zu erkennen, sie zu dechiffrieren, auszuwerten und auf dieser Grundlage soziale Entscheidungen zu treffen. Gerade weil diejenigen, denen diese Gesichter gehören, nicht den geringsten Schimmer davon haben, welchen Eindruck sie bei mir hinterlassen, verschärft sich mein Point of View von Tag zu Tag.

Mein Blick bleibt getrennt von deinem, ein vereinzeltes Fragment in einem großen, mir fremden Ganzen. Daher sind soziale Situationen für mich auch mit Vorsicht zu genießen. Vis-à-vis kann man schließlich nie auf Nummer sicher gehen. Man kennt sich nicht aus. Wer weiß schon, was sich da hinter deiner Stirn abspielt. Ich kann ja nicht wissen, welche Spuren ich in deinem Kopf wirklich hinterlasse. Wer ich bin, zu wem ich werde, wenn dein Blick auf mich fällt. Was mir bleibt, ist nur der Glaube daran, dass ich bei dir überhaupt irgendeine Spur hinterlasse. Bei Bildern ist das anders. Sie lassen sich betrachten, ohne zurückzuschauen. Sie sind Katalysatoren, die sich vor unseren Nasen auftun und unseren Geist in Gang setzen, ohne sich selbst im Moment der Betrachtung zu verändern. Zu einer bestimmten Zeit sind sie ein Teil von einem Ort, zeigen etwas Konkretes und sind eine Spur, ein abgetrennter Teil, ein Selbstportrait von jemandem, der sie absichtlich dort hinterlassen hat, um sich selbst in Farbe zu verteilen.

„P.O.V.“ Throw-Up in Warschau, gesichtet am 07. April 2025