Text: Jan-Hendrik Müller
Der innerhalb von vier Tagen in einem Dorf bei Frutigen im Berner Oberland gedrehte Aufsätze ist Nestlers zweiter Film nach Am Siel (1962). Obwohl ganz am Anfang seiner Filmographie und nur aus kurzen Beobachtungen einer Schulklasse über den Verlauf von elf Minuten bestehend, eröffnet der Film essentielle Verfahren Nestlers, die sich auch in seinen folgenden Filmen immer wieder zeigen werden. Aufsätze besticht durch das Spannungsverhältnis zwischen Gelesenem und Gesehenen, das zunächst einfach und klar erscheint und dennoch durch scharfe Beobachtungen tiefere Einblicke in die geschichtete filmische Wirklichkeit bietet.
Eine krakelige, aber bemühte Schreibschrift auf eng liniertem Papier führt in die von den Schülern und Schülerinnen geschriebenen und vorgelesenen Aufsätze ein. Nestler hatte den Film mit Freund und Filmemacher Kurt Ulrich sowie der Lehrerin Marianne Beutler konzipiert. Einen Monat vor dem Dreh besuchten Ulrich und Nestler die Schulklasse und machten sich mit dem Alltag der Kinder vertraut. Während die Lehrerin Beutler die Aufsätze initiierte, drehten Ulrich und Nestler in den darauffolgenden Wochen und ließen die Kinder das Geschriebene für die Tonspur des Films vorlesen. Die unaufgeregte Montage vom winterlichen Schulweg, vom Feuermachen im Klassenzimmer, dem gemeinsamen Unterricht und den Kinderzeichnungen wird durch das vermeintlich ‚naive‘ Erzählen der kindlichen Imagination ergänzt. Doch gerade in dieser Idee eines unschuldigen und naturverbundenen Aufwachsens versteckt sich der doppelte Boden des Films. Nicht nur die Angst vor einem Gespenst bricht mit einer möglichen Idealisierung, auch das beflissene und teils gebrochene Vorlesen – die Versuche den Dialekt zurückzudrängen –, zeugen von einer eher unbequemen Anstrengung. Die Aufsätze sind für die Kinder mühevolle Arbeit. Diese liegt insbesondere darin, eine Perspektive auf das eigene Leben zu gewinnen und diese in Worte zu fassen.
Hier könnte man an einen anderen wichtigen Aspekt in Nestlers Werk anschließen: Die Aufgabe, die das Dokumentarische in seinen Filmen übernimmt. Diese bestehe darin zu verstehen, was ist und dieses, was ‚nachzuerzählen‘, schreibt Hartmut Bitomsky über Nestlers Filme. Die Kraft des Dokumentarischen gehe bei Nestler nämlich nicht von der Erzählkraft eines Autors aus, sondern ‚sie geht von den Dingen aus, durch ihn hindurch‘. Das scheinbar Einfachste besitzt eine eigenständige Qualität, die sich, ausgehend vom Dargestellten, langsam entfaltet. Die zunächst ablehnenden Reaktionen auf das dargestellte ärmliche Landleben bei der Veröffentlichung des Films sind dahingehend nicht überraschend. Ein Schweizer Verleiher betrachtete den Film als ‚eine Schande für die Schweiz‘. Doch führen solche Rückschlüsse insofern in eine falsche Richtung, als dass sie mit den Maßstäben eines Erwachsenen auf die Kinderwelt schauen und den Reichtum der filmischen Momentaufnahme kindlichen Aufwachsens übersehen. Kinder ‚ver‘-halten sich nicht für jemanden, sondern nehmen Haltungen ein. Diesen Haltungen kann man in Aufsätze zusehen.