Text: Noemi Ehrat
Von Anfang an ist der Fokus auf der Hand, die lose Fäden zu Stoff verwebt: Sichtbar sind nur die zupfenden und ziehenden Finger, die Spindel lässt sich am rechten Bildrand erahnen, da, wo die Fäden herkommen. Wie uns die Stimme des Erzählers lakonisch erklärt, haben Menschen schon vor neuntausend Jahren Garn aus Tierhaar oder Pflanzenfasern gesponnen. Mit diesem ersten Bild geben Peter und Zsóka Nestler die inhaltliche Richtung des knapp dreißigminütigen Films Tyg, del 1 vor, den sie 1974 für das schwedische Fernsehen realisierten.
Zwar geht es auch um die Geschichte des Stoffes, wie der Name des Films vermuten lässt, und wir erfahren auch einiges über Flachs und über die Technik hinter sogenannten Kettfäden. Doch rücken die Nestlers die Figur der Arbeiter*in in den Mittelpunkt, die die Fäden zusammenführt. Damit verdeutlichen sie, dass dem Produkt Stoff manuelle, körperliche Arbeit vorausgeht – und unter welchen Bedingungen dies geschieht.
Einerseits ist es eben nicht irgendeine Hand, die hier die Fäden hält. Es ist die einer Frau, denn Weben und Spinnen war lange eine sogenannte Frauenarbeit. Generell ist es den Nestlers, selbst in außenstehender, beobachtender Position, nicht egal, wen sie zeigen. Vielmehr betonen sie es, denn sie wissen, dass der Körper der Arbeiter*in immer eine Bedeutung hat. So wechselt das Bild bald und der Erzähler erklärt uns, dass wir Indianer in Lateinamerika sehen, die auf «uralte Weise» weben. Auch in Europa habe man vor langer Zeit so gearbeitet. Im gleichen Tonfall folgt dieser sachlichen Information der Kommentar:
«Dass die Indianer Stoffe nicht in Fabriken und mit modernen Maschinen machen, liegt daran, dass sie von Europäern ausgeplündert und verfolgt wurden.»
Unrecht und Unterdrückung – Themen, die sich in Variationen wie rote Fäden durch Nestlers Werk ziehen – werden hier nicht entrüstet angeprangert, sondern nüchtern festgehalten. Es sind Fakten, die ebenso zum Stoff und seiner Herstellung gehören wie Kettfach und Einschlag. Dieses Hin und Her zwischen technischen und historischen Details, oft anhand von Kupferstichen oder Holzschnitten visuell erklärt, verwebt der Film geschickt mit diesen einordnenden, ja urteilenden, Kommentaren des Erzählers. Sehen wir etwa eine Archivaufnahme von Flachs erntenden Arbeitskräften in Schweden, wird auf der Tonebene ergänzt, dass die Gutsbesitzer währenddessen herumlaufen und gern mit auf dem Bild sein würden.
Wer den Nestlers nun unterstellt, das Bild als vermeintlich objektives Beweismaterial zu missbrauchen – seht her, so haben die Leute damals gearbeitet –, irrt sich gewaltig. Denn die Kamera ist nicht passive Betrachterin, sie führt das Auge aktiv. Selbst bei einem eingeblendeten Foto einer skandinavischen Frau am Webstuhl folgt ein Close-Up auf ihre nackten Füsse, die das Trittbrett bedienen. In Tyg, del 2 zoomt die Kamera auf das Gesicht eines Wollarbeiters oder schwenkt von dem Gesicht eines mit Baumwolle arbeitenden Kindes zum nächsten. Somit präsentieren Peter und Zsóka Nestler ihrem Publikum nicht bloße Evidenz, quasi die visuellen Belege zum Voiceover, sondern sie kommentieren auch visuell, als ob sie sagen würden: «Schaut dahin, das ist wichtig». Diese Details – die Füsse und die Gesichter – verdeutlichen die verkörperte Arbeit, Menschlichkeit und Individualität der Arbeiter*innen zugleich.
Dass Teil 1 und 2 nicht in Deutschland, sondern im schwedischen Exil entstanden, dürfte mit ebendieser unverhohlenen kritischen Haltung gegenüber der besitzenden Oberschicht und der Kolonialmächte zu tun haben. Dabei wirkt es in keiner Weise so, als ob das Thema des Stoffes nur Vorwand oder Deckmantel für eine scharfe Gesellschafts- und Systemkritik wäre. Stattdessen erkennen Peter und Zsóka Nestler die Bedeutung des Stoffes als etwas, anhand dessen Materialität sich die Auswirkungen der Industrialisierung veranschaulichen lässt, was gleichzeitig beispiellos für die Art und Weise steht, wie wir die Welt deuten und lesen.
Schon Roland Barthes verstand den Text als «Gewebe, gewebten Stoff» den die Pluralität seiner Bedeutungsträger ausmacht. Nimmt man den Film als kulturelles Produkt ernst, das Bedeutung(en) generiert, und dessen Konstruktion anhand bestimmter Konventionen für ein Publikum lesbar ist, wird auch Film als Text, frei nach Barthes, zum Stoff. Im Korn des 16-mm-Films lässt sich seine eigene Materialität erkennen, die nun digitalisiert vorliegt.
Gegen Ende von Teil 2 wird diese Verdichtung der Inhalte und (Be-)Deutungen explizit ausformuliert: «Wie der Stoff verändert sich auch die Beschaffenheit unserer Gesellschaft und Kultur nachhaltig». Dies spiegelt sich auch in der Form des zweiten Teils wider. Im Gegensatz zum ersten Teil, dessen Fokus auf immer noch relativ langsamen Arbeitsprozessen lag, wird der Rhythmus des zweiten Teils mit den immer größeren und effizienteren Maschinen deutlich schneller. Angaben wie achthundert Meter pro Minute oder sechsmal in der Sekunde werden so fast schon erfahrbar gemacht.
Tatsächlich kommt die Maschine der Kamera der Stoffverarbeitungsmaschine gar nicht mehr hinterher: «Die Maschine läuft langsam, damit man die Bewegung der Nadeln besser erkennen kann», heisst es. Obwohl hier die Maschine im Vordergrund steht, wird die arbeitende Hand immer wieder in den Fokus gerückt. Schließlich wollen auch die Maschinen betrieben, kontrolliert und repariert werden. Selbst im Spinnbad der Viskose greift die mittlerweile behandschuhte Hand ein.
Gleichzeitig erinnern die Nestlers an Konstanten, die auch mit zunehmender Automatisierung gleichbleiben: tiefer Lohn und schlechte Arbeitsbedingungen. Die prekärsten Umstände hatten weiterhin Frauen und rassifizierte Menschen zu ertragen. Kunstvoll und effektiv ist hier etwa der Schnitt von europäischen Arbeitenden – die meisten haben keine Schuhe – zu versklavten Schwarzen Menschen: «Viel schlimmer hatten es die Leute in den Kolonien». So schafft es der Film, zwar auf beide Missstände aufmerksam zu machen, sie aber auch zu kontextualisieren.
Die Nestlers bleiben jedoch nicht ausschließlich beim Elend stehen. Teil 1 und 2 zeigen stets auch widerständige Arbeiterinnenbewegungen und Streiks. So hätten etwa die sogenannten «Maschinenstürmer» schnell gemerkt, dass nicht die Maschinen Schuld hätten an Arbeitslosigkeit und Hunger. Durch die einfach verständliche und direkte Sprache – «das hier ist ein komplizierter Webstuhl für gemusterte Seiden» – bleiben die vermittelten Inhalte zugänglich. Tyg, del 1 und Tyg, del 2 sind keine akademischen Abhandlungen über die Bedeutung des Stoffes, sie informieren über Arbeiterinnenschicksale und -bewegungen auf der ganzen Welt, von China bis Island – veranschaulicht am Beispiel des Stoffes.