Text: Sebastian Bobik
Víctor Jara war Sänger, Dichter, Lehrer und Kommunist. Am bekanntesten ist wohl seine Musik. Er war Teil jener Generation, die sich mit chilenischen Volksliedern und traditioneller Musik auseinandersetzte und gehörte zu der lateinamerikanischen Bewegung, die man Nueva Canción nannte. Als Salvador Allende seinen Präsidentschaftswahlkampf führte, schrieb Víctor Jara das Lied Venceremos, um die Kampagne zu unterstützen. Allende siegte. Am Tag nach dem Militärputsch gegen die Regierung Allendes wurde Jara entführt und ein paar Tage darauf ermordet. Als man seinen Leichnam fand, zählte man mehr als vierzig Kugeln in seinem Körper. Er wurde, wie so viele, im Estadio Chile (einem Folterstadium und heute eine Mehrzweckhalle mit den Namen Estadio Víctor Jara) umgebracht. Jara wurde vierzig Jahre alt.
Víctor Jaras Kinder erzählt von Kindern, die aus Chile nach Schweden geflohen sind, um der Militärdiktatur zu entkommen. Sie leben nun in Stockholm, wo Nestler sie im Unterrichtsalltag (z.B. beim Sportunterricht) zeigt. Vor allem aber sehen wir in den kurzen Szenen die Kinder in Gruppen mit der Sängerin Mariela Ferreira (eine ehemalige Bekannte Víctor Jaras). Sie singen einige chilenische Lieder (manche davon, wie Luchino stammen aus der Feder von Víctor Jara), oder singen und tanzen traditionelle Tänze ihres Landes (z.B. die Sarajuriana). Dabei tragen sie auch die dazu passenden Kleidungsstücke. Ein Lied nach dem anderen, ein Tanz nach dem anderen, dazwischen geben Titelkarten über deren Benennung Auskunft.
Hin und wieder hören wir in Szenen die Stimmen der Kinder. Sie sprechen auf Schwedisch, berichten, was sie in Chile erlebt haben. Dann unterbricht ein Kind die gewohnte Szenenabfolge des Filmes und erzählt ausführlicher eine Art Kurzversion der chilenischen Geschichte. Das erinnert an Nestlers Chilefilm (1974), der ähnliches tut. Für diese Szene ändert sich auch die Bildsprache des Filmes. Wir sehen nun Illustrationen, die diese Geschichte veranschaulichen.
Auch das Ende von Víctor Jaras Kinder erinnert an Chilefilm. Nestler beendet den Film mit demselben Standbild. Es ist ein Schwarzweißfoto eines Mannes, der in die Kamera schaut. Der Bildausschnitt ist recht eng. Wir sehen nur einen Teil seines Oberkörpers. Seine Kleidung lässt ihn wie einen schlichten Landarbeiter erscheinen. Sein Blick wirkt besorgt, ungewiss, ernst. 1974, also ein Jahr nach dem Militärputsch, lässt Nestler seinen Film über Chile mit diesem Blick und einem antifaschistischen Lied enden. Acht Jahre später schließt Nestlers Film wieder mit demselben Blick und wieder mit Musik. Dieses Mal ist es ein von Kindern gesungenes Lied. Chile steckt immer noch in derselben Diktatur. Es hat sich nichts verändert. Doch auch der Glaube und die Hoffnung auf den großen Widerstand leben noch. Irgendwann wird Pinochets Regime enden. Es würde nochmal acht Jahre dauern, bis 1990 die Militärdiktatur in Chile endete.
Im Fall von Víctor Jara vergingen fünfzig Jahre, bis es gerichtliche Urteile über dessen Tod gab. Sieben ehemalige Militäroffiziere wurden schuldig gesprochen für die Entführung und Ermordung des Sängers. Die Verurteilten sind allesamt mittlerweile zwischen siebzig und neunzig Jahren alt. So lange dauerte es, bis es eine Form von Gerechtigkeit für Víctor Jara gab. Für viele wird es sie nie geben. Für sie zu kämpfen ist dennoch unabdingbar. Auch darum geht es in den Filmen von Peter Nestler.