Zum 50. Geburtstag der Viennale hat Chris Marker 2012 den Festival-Trailer gestaltet. Diese rund 100 Sekunden hat man als passionierter Viennale-Besucher sicher einige dutzend Male gesehen; zudem ist Kino (so der Name des Trailers) im Internet frei zugänglich, um ihn sich wieder und wieder ansehen. Das habe ich getan, als Einstieg für meine Beschäftigung mit Marker und es ist verblüffend, wie viele lose Enden und potentielle Anknüpfungspunkte in diesem kurzen Trailer stecken. Wenn man sich durch Markers Oeuvre bewegt (und darüber nachdenkt/schreibt), lohnt es sich immer wieder darauf zurückzukommen.
Kino ist zugleich ein kleiner, persönlicher Rundgang durch die Filmgeschichte, eine mediale Spielerei, eine Übung in Non-Konformität, eine Karikatur und eine politische Attacke. Marker begibt sich auf die Suche nach dem idealen Zuschauer und findet Mitstreiter in Georges Méliès, D.W. Griffith, Orson Welles und Jean-Luc Godard. Recht krude animierte Bildcollagen zeichnen die Entwicklung der Kinotechnik und der Rezeptionsweise von Filmen nach. Am Ende findet Marker (und das Kino) seinen perfekten Zuseher in Osama Bin Laden, der auf einem Fernseher Tom & Jerry-Cartoons schaut. Eine einigermaßen irritierende Abhandlung der Filmgeschichte findet ihren Abschluss in einer etwas platten Spitze gegen den amerikanischen Imperialismus.
Kino ist
Ich kann nicht so recht festmachen weshalb, aber immer wieder zieht es mich zu diesem Trailer zurück, wenn ich über Marker nachdenke. Vielleicht, weil Kino ein geradezu exemplarisches Werk in Markers Filmographie ist, genauer in einer Reihe von kleineren Arbeiten, die ich liebevoll als Kleinode bezeichnen würde. Mal irritieren sie, mal faszinieren sie, mal können sie einen nicht so recht überzeugen, aber auf jeden Fall füllen sie den filmischen Kosmos Markers mit Leben. Es sind kleine Eindrücke der Welt, die Marker sammelt (in dieser Hinsicht ist er seiner Freundin Agnès Varda nicht unähnlich): der angeschwemmte Müll in der kalifornischen Bay Area in Junkopia, die Vision der Gewerkschaft der Zukunft in 2084, die eigenwillige Konfrontation von politischem Protest und Katzengraffitis in Chats perchés; man könnte diese Liste noch weiter fortsetzen, wenn man tiefer in diese Filmographie eintaucht.
Diese kleineren Werke, oft nur wenige Minuten lang dienen als Brücken, als Staffage zwischen den großen Antipoden politischen Filmemachens, die Marker einen vorderen Rang im Pantheon des Autorenkinos eingebracht haben. Manchmal scheint es mir, dass diese kleinen Übergangswerke, dieses filmische Füllmaterial eine Art Schlüssel darstellt, um den roten Faden in Markers Gesamtwerk zu erkennen. Während er in seinem (je nach Version) zweieinhalb- oder dreistündigen Film Le joli mai ein Stimmungsbild von Paris (und eigentlich von ganz Frankreich) im Mai 1962 zeichnen will, oder im (je nach Version) drei- oder vierstündigen Le fond de l’air est rouge eine ganzheitliche Erklärung der Linken Internationalen im Sinn hat, oder in seiner Fernsehserie L’Héritage de la chouette nichts weniger als die Aufarbeitung der gesamten Aufarbeitung der abendländischen Philosophiegeschichte anstrebt, sind seine kürzeren Werke kleinteiliger organisiert. Es sind kleinere Episoden, Fundstücke der Reisebewegungen, die Marker für seine Filme rund um die Welt geführt haben, oftmals in humorvollem Ton erzählt und mit allerlei Absurditäten versetzt.
Gruß aus Sibirien
Markers Filme anzusehen, fühlt sich ein wenig an, wie mit ihm auf Reisen zu gehen. Diese Reisen führen direkt vor die Haustüre (Le joli mai), in fremde Länder (Dimanche à Pékin) oder durch die Zeit (La jetée). Die Online-Retrospektive zu Chris Marker von DocAlliance bietet im Moment Gelegenheit eine solche Reise zu starten.
Ein möglicher Ausgangspunkt dafür ist Lettre de Sibérie, ein filmischer Reisebericht aus dem sowjetischen Sibirien. Es beginnt mit Landschaftsaufnahmen der eisigen Weiten, dazu meldet sich eine Stimme aus dem Off zu Wort. Was zunächst eine trockene ethnografische Studie erwarten lässt, kippt schon bald in ein absurdes Kuriositätenkabinett. Marker schildert die aussichtslosen Versuche der zivilisatorischen Expansion der Sowjets in die unwirtliche Natur. Mit ironischem Ton erzählt der Film vom müßigen Ankämpfen gegen die klimatischen Bedingungen und zeigt die charmant-schrulligen Auswüchse des sibirischen Frontier-Lebens: ein zahmer Bär wird an der Leine durch die Stadt geführt; Nomadenstämmen werden feste Wohnorte zugeordnet, an denen sie sich jahrelang nicht blicken lassen; dem Rentier, Alleskönner der subpolaren Zone, werden Loblieder gesungen.
Marker bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen einer genuinen Faszination für das Exotische und paternalistischem Belächeln, zwischen Sympathie für kommunistische Ideen und der Erkenntnis, dass sie nur schleppend umgesetzt werden, zwischen sorgfältig recherchierter Reportage und satirischer Ethnografen-Parodie. Obwohl die Bilder und der Kommentar von einer Zuneigung für diese Orte und die Menschen zeugen, bleibt der Film nicht kritiklos. Obwohl diese Kritik oft in komödiantischer Form vorgebracht wird, ist sie nicht frei von politischer Bissigkeit. Das gibt dem Film eine Ambivalenz, die weit über oberflächliche politische Satire hinausgeht, da letztendlich immer der Respekt für das Sujet spürbar bleibt und der Film seine eigene manipulative Kraft selbst zum Thema macht: in einer berühmten Sequenz wird die gleiche Sequenz dreimal mit unterschiedlichen Kommentaren wiederholt.
Man könnte sagen, Markers Reisefilme wie Lettre de Sibérie, Dimanche à Pékin oder Description d’un combat gipfeln in Sans soleil, wo nicht mehr die Reise zum Film wird, sondern der Film die Reise ist, eine physische Reise rund um den Erdball und zugleich eine gedankliche Reise durch die Ideenwelt von Chris Marker.
Das Spiel, ein Leben
Weniger buchstäblich ist „Reise“ in Level Five zu verstehen. In einem Dialog zwischen der Protagonistin Laura (Catherine Belkhodja) und Markers Voice-over-Kommentar wird die Schlacht von Okinawa aus dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Der Film folgt dabei lose der Dramaturgie des imaginären Videospiels, an dem Laura arbeitet. Das Spiel muss unvollendet bleiben, weil der Computer, die Rechenmaschine, das ultimativ Rationale keinen Eingriff in die Geschichte zulässt. Die amerikanischen und japanischen Truppen lassen sich nicht einfach hin- und herschieben, der Verlauf der Geschichte darf nicht verändert werden.
Die Vorgehensweise des Films präzise zu beschreiben fällt schwer. Denn die Spiele-Metapher kreuzt sich mit Archivaufnahmen, kruden Animationen, Interviews und reportageartigen Bildern des Okinawa von heute. Das Spielemenü dient schließlich nur mehr als Kapitelmarke, als Skelett, an dem sich die verschiedenen audiovisuellen Materialien festklammern. Level Five hat vieles, was den meisten Arbeiten aus dem Bereich der artistic research fehlt: der Film ist eine Aufforderung an sein Publikum die Materialien mental selbst zu montieren, gibt aber zugleich unterschiedliche Interpretationsvorschläge. Im Zwiegespräch von Markers Kommentar und Lauras Monologen entsteht daraus eine selbstreflektierte Kritik am eigenen Material. Level Five vermittelt ohne zu schulmeistern, konfrontiert Bilder mit Bildern, Töne mit Tönen und Bilder mit Tönen, initiiert ein Versteckspiel der Bedeutung, so wie Markers gesamte Karriere ein Versteckspiel (hinter Katzen und Eulen) ist.