Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Sankt Galler Kassiber

In den Hügeln ober­halb Sankt Gal­lens ste­hen Lin­den wie Bojen im Grün. Wer ihnen folgt und von einer zur nächs­ten wan­dert, geht ver­lo­ren zwi­schen den von Schnee­ver­we­hun­gen ver­las­se­nen Berg­gip­feln und dem sty­gi­schen Lau­ern des Boden­sees. Wir stei­gen aus der Stadt dort­hin hin­auf an einem Früh­lings­mor­gen. Du zeigst auf ein Schild, es sei­en nur drei Stun­den von hier zu Fuß nach Heris­au, wo Robert Wal­ser im Schnee gele­gen ist, ganz so, wie er es gewollt hat­te. Du fragst mich, ob ich über­haupt noch bereit wäre für einen sol­chen Weg. Ich nicke, aber weiß es nicht. Ich habe lan­ge nichts gesehen.

Ehr­lich­ge­sagt woll­te dich zurück­las­sen dort in dei­ner Rich­tungs­lo­sig­keit, dei­ner moos­ver­han­ge­nen Selbst­trau­rig­keit, dei­ner zitt­ri­gen Demut, die sich an Ähren klam­mert und wun­dert, dass es so vie­le Ver­zwei­gun­gen gibt in die­ser Welt. Ich woll­te mich von dir lösen, um end­lich im Leben zu ste­hen, statt immer nur zu schwe­ben, zu flie­gen, zu fal­len. Ich glau­be, du hast davon nichts gemerkt. Bei der nächs­ten Lin­de, habe ich mir gesagt, wer­de ich abbie­gen und hin­ab zum See gehen oder hin­auf in den Schnee. Bei der nächs­ten Gabe­lung wer­de ich ver­schwin­den und dann wird alles gut.

Aber jetzt stei­ge ich dir hin­ter­her, durch den Wie­sen­ge­ruch der ers­ten Mahd des Jah­res, und bin über­rascht von der kla­ren Luft und dem hel­len Tag und dass all das wil­de Blü­hen mit einem Mal so beschwich­ti­gend auf mich wirkt. Ich spü­re, dass wir uns noch ein­mal fin­den könn­ten hier in den Löwen­zahn­fel­dern, unter den Ahorn­bäu­men, in die­sem Gelän­de, in dem es nur Run­dun­gen zu geben scheint, sich wel­len­gleich ins Tal erschöp­fen­de Reli­ef­for­men, die an die sanf­tes­ten Tage erin­nern, die ich in mir trage.

Und dann den­ke ich mir, dass es noch ein­mal mög­lich sein müss­te, wenigs­tens noch ein Mal ohne das mög­li­che Ende zu sehen und die grau­en Wol­ken über den Berg­gip­feln, und ich den­ke an jenen Tag, der den Som­mer her­ein­lässt und ich linde.

Das muss vor Jah­ren gewe­sen sein, sagst du. Ich nicke, obwohl ich nicht weiß, von was du gera­de sprichst. Ich war in Gedan­ken anderswo.