Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Schwalle und Hoffnung: Ein Gespräch mit Alexander Horwath

Haben Peter Konlechner und Peter Kubelka im Österreichischen Filmmuseum jahrelang definiert, was und wie Film sein kann, hat ihr nun scheidender Nachfolger Alexander Horwath, den wir einige Jahre seines Schaffens in Wien beobachten konnten, für uns vor allem und darüber hinaus gezeigt, was Kinoliebe ist und wie sie sich äußern kann. Valerie und Patrick haben ihn zum Gespräch in seinem legendär verqualmten Büro getroffen. Es ging um seine vorletzte große Retrospektive, die derzeit unter dem Titel „Europa erzählen“ Bilder Europas vorschlägt, seine Auffassungen zum Kuratieren und die Entwicklungen der Filmlandschaft.

Sans toit ni loi von Agnès Varda (© Österreichisches Filmmuseum)
Sans toit ni loi von Agnès Varda (© Österreichisches Filmmuseum)

Patrick Holzapfel: Bei dem Titel der Schau „Europa erzählen“ scheint es sehr einfach, zunächst über Europa nachzudenken. Wir wollten uns aber erstmal auf das Erzählen konzentrieren und von dir wissen, was das eigentlich ist oder sein kann in diesem Zusammenhang, das Erzählen von Europa? 

Alexander Horwath: Das ist für mich nicht weit hergeholt, sondern steht in Verbindung mit einer sehr frühen, zentralen Entscheidung im Arbeits- und Findungsprozess dieser Schau. Zunächst entstammt dieses Thema oder dieser Fokus einem interessanten Gespräch, das ich mit einem befreundeten Filmemacher hatte. Ihm ist Europa sehr viel wert und er fragte sich und mich, warum es für europäische Filmemacher so viel schwieriger zu sein scheint, Europa als Erzählstoff zu fassen, als für amerikanische Filmemacher bezüglich der USA. Vielleicht stimmt das auch gar nicht, aber das war der erste Samen und hat mich ins Nachdenken über diese Thematik gebracht. Von Anfang an gab es also diesen Fokus aufs Erzählen, zum dem natürlich auch eine literaturgeschichtliche Dimension kommt. Das führt dann zu etwas anderen Ergebnissen, als wenn es um Bilder, ums Zeigen von Europa ginge – wenn also die Initiative von einem Gespräch mit einem Maler oder einer Fotografin ausgegangen wäre, die vielleicht andere ästhetische Pfeile abgeschossen hätten. Zum anderen wurde mir dann beim Nachdenken über diese Schau bewusst, dass eine Einschränkung auf, ich sage das jetzt banal: „Spielfilm“, dem Projekt gut tun würde. Natürlich könnte man meinen, dass es aufregender wäre, die Gattungen des Films zu kombinieren, aber da hatte ich schlicht die Sorge, dass ich überhaupt zu keiner annehmbaren Linie oder Linien finde. Also ist es mir, auch praktisch gedacht, klüger erschienen, dem Akt des Erzählens zu vertrauen und das noch weiter einzuschränken auf das abendfüllende Erzählen. Ich hatte auch Varianten am Anfang, in denen einzelne Kurzfilme im Programm waren, aber habe mich dann dagegen entschieden. Der abendfüllende Spielfilm war und ist, so wie der Roman, eine Artikulationsform für künstlerisch denkendes Tun, die sehr verbreitet ist – und ich wollte mir ansehen, was eigentlich im Zuge dieser Rahmung entstanden ist. Und so hat sich das dann zusammengefügt. Am Ende gab es auch zwei Ausnahmen, zwei dokumentarische Arbeiten: Nämlich D’Est von Chantal Akerman und Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? von Gerhard Friedl. Ich bin dann immer dafür, auch den besonderen Impulsen zu vertrauen, die sich von einem Konzept lösen. Manchmal ist einfach eine bestimmte Farbe in der Palette nötig, und wenn diese Farbe von zwei Filmen ausgeht, die man Essayfilme nennen könnte, dann soll mir das auch Recht sein. Das berührt ja etwas Grundsätzliches bei der kuratorischen Arbeit: das Verhältnis zwischen sogenannter Strenge und Klarheit eines Konzepts und sogenannter Offenheit gegenüber unreinen Teilentscheidungen. Ich versuche meistens, beiden Teilen gerecht zu werden und damit natürlich nie einem der beiden zur Gänze. Aber ich wollte mir eben nicht primär das „Bild Europas“ vor Augen führen, sondern die Bewegung des Erzählens. Das könnte auch damit zu tun haben, dass ich mir immer unsicherer werde – das mag am eigenen Älterwerden liegen oder an einigen Jahren der Enttäuschung –, ob diese Bewegung im gegenwärtigen oder auch zukünftigen Kino eine Chance hat. Das Erzählen im Modus Fernsehserie trifft offenbar auf größeres Interesse. Aber wie ist steht es mit der Option, diesen Kontinent weiterhin in dem Modus zu erzählen, in dem es der Spielfilm getan hat? Da bin ich mir offen gesagt etwas unschlüssig. Wie viel Luft ist da noch drinnen? Die Schau zeigt zwar Filme bis 2012, mit Tabu von Miguel Gomes als jüngstem Beispiel, und natürlich sehe ich hin und wieder neue Filme, die ein Teil der Schau sein könnten, aber es ging schon auch darum, eine ziemlich große historische Kraft zu zeigen, deren Überlebensfähigkeit ich skeptisch beurteile. Was nicht heißt, dass ich nicht mehr an das Kino glaube oder irgendwelche absoluten Aussagen tätigen will. Es gibt einfach eine Skepsis. Diese Filme in der Schau hatten ja auch alle eine Lebendigkeit, und ihre Kraft hatte damit zu tun, dass es ein ebenso lebendiges Publikum gab. Manchmal hatten sie am Anfang vielleicht kein Publikum, wie zum Beispiel Sierra de Teruel oder La règle du jeu, aber sie hatten eine Kraft in sich, die dann vielleicht zwanzig oder vierzig Jahre später zur Wirkung kam. Diese Kraft scheint mir erwiesen und die hat auch mit dem historischen Gegenüber, also mit der Publikumsseite zu tun. Meine Skepsis richtet sich dementsprechend ebenso an das fragliche künftige Gegenüber wie an die Filme selbst. Ich weiß nicht mehr ganz, an wen sich die neueren Filme richten. Abgesehen davon, dass sich Filme nicht an jemand Spezifischen, an ein „Zielpublikum“ richten müssen, entfalten sie sich trotzdem nur mit einem Gegenüber. Diese aktuelle Unsicherheit, die ich spüre, hat viel mit politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu tun – und das war dann wohl auch ein Motiv dieses „Erzählens von Europa“.

L'Espoir von André Malraux (© Österreichisches Filmmuseum)
L’Espoir von André Malraux (© Österreichisches Filmmuseum)

Valerie Dirk: Beim Stichwort Unsicherheit möchte ich gleich einhaken. Es wird ja sehr viel von Splitterhaftigkeit im Programmtext gesprochen, die Splitterhaftigkeit des europäischen Erzählkinos im Gegensatz zum einenden Narrativ des amerikanischen Kinos. Inwiefern drückt sich denn darin diese Unsicherheit aus?

A.H.: Ich verstehe die Frage gut, sie hängt sicher mit einer gewissen „self-fulfilling prophecy“ zusammen. Ich hätte natürlich genauso gut Filme aussuchen können, in denen der deutliche Versuch des Geeinten oder Einenden im Vordergrund steht. Das gilt für die Erzählstrategien der Filme wie auch für deren Begriffe oder Visionen von Europa. Meine Erfahrung seit über drei Jahrzehnten hat mir aber gesagt, dass diese Art des Kinos selten befriedigend ausfiel; ich habe mir immer gedacht, dass das im amerikanischen Kino stimmiger gelöst ist. Ich denke da an diverse Versuche eines europäischen Genrekinos oder diese „Europudding“-Tendenz, also Anläufe, um Europa produktionstechnisch zu einen. Man macht mehr und mehr Filme, in denen viele Nationen mitwirken oder in denen ein Ensemble an Schauspielern auftritt, das verschiedene dieser Fragmente Europas repräsentiert. Die Sachen, die mir aus diesem Bereich bekannt sind, sind von sehr bescheidener Schlag- oder Aussagekraft. Mit „self-fulfilling prophecy“ meine ich das, was mir am europäischen Kino am stärksten und überzeugendsten vorkommt, nämlich eher die „rissigen“ oder offeneren Ästhetiken und Erzählweisen. Filme, die den BetrachterInnen viel Raum geben, wo man von den Filmemachern eingeladen wird, etwas erst zusammenzusetzen. Ich glaube, dass ich die Größe des europäischen Kinos entlang dessen wahrnehme, was es besser oder anders kann als das amerikanische Kino. Das liegt auch daran, dass ich zunächst mit dem amerikanischen Kino sozialisiert wurde. Mein Begriff von Kino war zuerst, im Großen und Ganzen, von populären amerikanischen Filmen geprägt. Und Alternativen dazu habe ich dann zunächst als nicht-amerikanisch wahrgenommen. Aber als ich dann mit 17, 18, 19 Jahren, also gar nicht so früh, begann europäische Filme zu sehen, habe ich das auch als eine wertvolle Form von Opposition betrachtet. Wenn man einen Ursprung der eigenen Kinoliebe sucht oder festmachen will, auch wenn man mit Ursprüngen vorsichtig sein sollte, dann wäre das in meinem Fall das Populärkino der USA. Das Aufregende dann im Weiterforschen ist zu sehen, was es bedeutet, wenn Renoir oder Rossellini Spielfilme machen oder Reisender Krieger, der mich begleitet, seit ich ihn mit 18 oder 19 zum ersten Mal im Fernsehen gesehen habe. Insofern kann ich die Frage nicht wirklich beantworten. Ist das europäische Kino per se so „splitterhaft“ oder ist das ein Ergebnis meiner Art von Nähe zum europäischen Kino? Vielleicht ist dieser Ansatz auch meine Antwort an den Filmemacher, der an der Erzählbarkeit Europas im Kino zweifelte. Seine These war eigentlich, dass man damit nicht durchkommt. Die Amerikaner kommen gewissermaßen durch mit ihrem Mythos, mit ihrer auf wenige Begriffe und Bilder fokussierten nationalen Erzählung. Vielleicht besteht unsere europäische Antwort dann eben aus diesen Fragmenten und der Offenheit.

P.H.: Nur weiß das europäische Kino um diese eigenen Eigenschaften?

A.H.: Das ist natürlich ein großes Problem der EU-Filmpolitik. Auf der einen Seite weist man immer auf die lokalen Kräfte und das Regionale hin, aber wenn sich dann auf der anderen Seite zeigt, dass daraus ein großes, wucherndes Bündel von Dingen wird, dann erkennt man auch, dass man damit am Massenmarkt nicht groß reüssieren wird. Also erfindet man recht künstlich ein angebliches Massenkino europäischer Herkunft und Identität, dessen Gestalt meist eine läppische Nachahmung der amerikanischen Erzählmodelle, Genres oder Identifikationsangebote ist. Und das ist doch langweilig, da war mein Reflex immer, dass ich lieber zum Schmied gehe, als mich mit dem Schmiedl abspeisen zu lassen. In meinen filmpolitischen Ausflügen argumentiere ich auch immer, dass man akzeptieren sollte, das europäische Kino nicht so „verkaufen“ zu können wie das amerikanische. Und ich bin recht froh, dass in Österreich noch Filmentstehungs- und Filmförderungsmilieus existieren, die nicht dieses verrückte Spiel spielen, das sich zwischen Frankreich, Deutschland und anderen immer wieder abgespielt hat, nämlich diese Idee einer B-Version des amerikanischen Kinos, die sich kultivierter vorkommt als das Original. Das bringt nichts. Es wäre besser, auf Produktionsbedingungen zu achten, in denen die Kraft einzelner KünstlerInnen, die „verschroben“ sein mögen und eben auch „Fragmentarisches“ produzieren, weiterhin unterstützt wird. Aber natürlich braucht es auch die, die das dann sehen. Und so etwas kann man nicht durch Filmpolitik oder Förderungen herbeiführen. Das heißt, man muss sich vielleicht einer Realität stellen, in der die Entwicklungen unserer Gesellschaft und ihrer Formen von Interaktion wegführen vom Kino in seiner Form als abendfüllender Spielfilm; dass diese Form also vielleicht langsam historisch wird. Ich wollte nicht, dass diese Filmschau als kulturpessimistisch verstanden wird, aber aus meinen Antworten kann man vielleicht erkennen, dass es einen Hauch davon gibt. Wie wäre es, wenn das Publikum für europäisches Kino, so wie man es lange Zeit rezipiert hat, irgendwie ausrinnt? Dann wäre diese Retrospektive eine Rückschau auf die Großartigkeit einer Kunst- und Erzählform auf diesem Kontinent im 20. Jahrhundert.

Pasażerka von Andrzej Munk (© Österreichisches Filmmuseum)
Pasażerka von Andrzej Munk (© Österreichisches Filmmuseum)

P.H.: Hängt diese Rückschau auch ein wenig an deinem persönlichen Abtreten aus deiner Position hier im Filmmuseum?

A.H.: Das will ich gar nicht abstreiten. Ich wollte sehr gern noch ein paar Dinge machen, bevor ich hier aufhöre. Zum Beispiel wollte ich unbedingt noch die Schau „Der große Grant“ über vier Komiker (W.C. Fields, Hans Moser, Totò, Louis de Funès) realisieren, und im September wird es ein paar kleinere Dinge geben, die mir wichtig sind. Es gibt heute ein bisschen die Tendenz, sich vor „zu großen“ Thematiken zu hüten, um den Kanon-Verdacht zu vermeiden, aber ich dachte mir bei diesem Europa-Thema: Wenn, dann jetzt. Daher stammt dann vielleicht auch dieser zurückschauende Gestus, der eben mit meinen sechzehn Jahren Arbeit hier zu tun hat. Vieles in diesem Programm haben wir schon gezeigt, oft mehrfach, aber ich wollte ganz bewusst Dinge, die ich für ganz zentral, aber noch nicht ausreichend gewürdigt halte, ein weiteres Mal in dieses Spiel bringen. Mein Denken über Kino und Europa ist schlichtweg mitgeprägt von diesen Markierungen, und es käme mir ganz falsch vor, Filme wie Pasażerka von Andrzej Munk oder eben Reisender Krieger von Christian Schocher da nicht mit reinzunehmen, nur weil das Filmmuseum diese beiden Filme schon viermal in meiner Amtszeit gezeigt hat. Bei mehreren dieser Filme haben wir uns auch erfolgreich bemüht, sie für die Sammlung zu erwerben, das ist auch ein wichtiger Aspekt. Etwa 50% der Werke in der Schau stammen aus der Sammlung des Hauses. Das ist also auch ein Schaufenster für Dinge, die das Filmmuseum in letzter Zeit oder schon lange vorher erworben hat. Wir haben z.B. ganz zu Beginn meiner Zeit hier eine Munk-Retrospektive gemacht  und uns seither darum bemüht, Pasażerka zu erwerben. Irgendwie ist das jahrelang an verschiedenen Konstellationen gescheitert, aber jetzt ist es Regina Schlagnitweit tatsächlich gelungen, für diese Schau eine neue Kopie zu erwerben. Das freut mich sehr. Rückschau also auf meine Tätigkeit hier und auf etwas Größeres, 100jähriges, dessen Kräfte sich derzeit stark verändern.

P.H.: Du hast jetzt eine Lesart der Schau angeboten, die mir oder unserem Blog an sich sehr nahe ist, also mit filmpolitischer Einbettung und so weiter. Allerdings finde ich in dem Fall dieser Schau tatsächlich, dass sie nicht zuletzt aufgrund der Europa-Thematik sehr aktuell ist und eben nicht nur eine Rückschau und eine Kinogeschichte, sondern ein Politik darstellt. Das finde ich sehr spannend und vor allem in Verbindung mit den Filmen, die in der Schau sind, die von nicht-europäischen Filmemachern gemacht wurden, die also von „Außen“ kommen. Da frage ich mich dann nicht nur, wann ein Film europäisch ist, sondern auch, wann er von Europa erzählt.

A.H.: Ich habe am Anfang sogar zwei Listen geführt. Auf der einen waren quasi echte europäische Produktionen und auf der anderen waren Filme von Menschen aus anderen Kontinenten, die von Europa erzählen. Da kommt man dann sehr schnell drauf, dass wenn man zum Beispiel mit An American in Paris von Vincente Minnelli anfinge, eine Schau zusammenstellen könnte, die das komplette Gegenteil erzählen würde. Da würde dann aber nicht Mr. Arkadin oder Mr. Klein drinnen sein, sondern zum Beispiel amerikanische Musicals wie Funny Face. Es war mir wichtig, dass es da keine Reinheit bezüglich des Ursprungs gibt. Aber viele Filme, die von anderen Kontinenten auf Europa blicken, unterstützen nicht unbedingt diese These, diese Erzählungen von Europa, die mir wichtig waren. Und natürlich hast du Recht damit, dass diese Erzählungen im gegenwärtigen Europa, spätestens mit dem Brexit, noch einmal eine andere Dimension gewinnen. Letzten Sommer, während des FIAF-Kongresses in Bologna, sind unsere britischen Freunde tagelang niedergeschlagen auf der Piazza Maggiore gesessen und wollten gar nicht mehr heimkehren. Diese Niedergeschlagenheit hat der Schau dann den letzten Schub gegeben. Im Lauf des Sommers habe ich dann Tomas Zierhofer-Kin von den Wiener Festwochen getroffen. Ich hätte die Schau sowieso gemacht, aber ich habe ihn gefragt, ob die Wiener Festwochen da als Partner mit dabei sein wollen. Natürlich schwingt da vieles mit, was wir in den letzten zwei Jahren in Europa und der ganzen Welt erleben mussten. Es sind ja auch mehrheitlich Filme, die einen jetzt nicht total glücklich aus dem Kino entlassen. Das ist mir schon bewusst. Andererseits habe ich die fast närrische Hoffnung, dass man, wenn man sich dieser Schau in einem größeren Maße aussetzt, so etwas wie Stolz oder einen neuen Glauben an Europa gewinnen könnte.

Die letzte Chance von Leopold Lindtberg (© Österreichisches Filmmuseum)
Die letzte Chance von Leopold Lindtberg (© Österreichisches Filmmuseum)

P.H.: L’Espoir, Hoffnung scheint ein gutes Wort dafür.

A.H.: Ja, genau. Ein großes Wort natürlich. Aber deshalb habe ich im Einleitungstext auch so Begriffe wie ‚Espoir‘ oder ‚Promesse‘ betont, nicht nur weil es Filmtitel sind, sondern weil es wirklich um Versprechungen geht. Die Gründung der EU und die Nachkriegsdiskurse haben uns ja ein Versprechen gegeben und eine Hoffnung ausgedrückt. Man kann natürlich sagen, dass das hohle Begriffe sind, die Politiker immer verwenden, aber ich wollte sie lieber ernst nehmen und fragen, wo sie sich zeigen im filmischen Schaffen, in den Narrationen, die dieser Kontinent hervorgebracht hat. Heute sind wir ja gerne so ironisch gegenüber allem, und ich bemühe mich, das nicht zu sein, wo ich nur kann. Also schaue ich mir diese Versprechen, diese Utopien mal genauer an. Dass das auch mit schwierigen Gefühlen bei manchen dieser Filme verbunden ist, ist klar. Wenn man aus Le diable probablement herauskommt, dann wird man nicht unbedingt die große Hoffnung für Europa gewinnen, das ist mir klar. Aber wenn man zum Beispiel sieht, wie in Le diable probablement, in einer Zeit, in der die ökologische Bewegung noch weit nicht jene Präsenz hatte wie heute, mit Robert Bresson jemand kommt, der alles andere als ein Message-Filmemacher ist und einen jungen Mann als Protagonisten in dieser Post-68er Stimmungswelt wählt, der Suizid begeht, und das im Film aber mit der Zerstörung der Natur zusammenhängt, dann ist das ein Weg aus diesem illustrativen Kuratieren herauszukommen. Letzteres hieße,  die wichtigen Themen und Diskurse in Europa seit den 1920er oder 30er Jahren herzunehmen und sie möglichst punktgenau mit Filmen abzubilden. Nichts interessiert mich weniger als diese Methodik. Es geht eher darum, aus Filmen, die ich für zwingend oder begeisternd halte, erst die Diskurse herauszulösen, die dann eine Rolle spielen werden. Dazu braucht man keine „Themenfilme“, sondern man kann diese Begriffe aus Filmen wie Le diable probablement gewinnen.

V.D.: Du sagst, dass dich das illustrative Kuratieren nicht interessiert. Trotzdem sind in der Schau einige Punkte vertreten wie Geschichte, Geld, oder Bewegung über Grenzen, die dann in fast allen Filmen immer wieder auftauchen auf die eine oder andere Art und Weise. Außerdem geht es sehr viel um Freiheit und Aufklärung. Das mit der Aufklärung interessiert mich sehr. Was hast du dir dabei gedacht? Am Ende des Programmtexts steht ja: „50 Filme für die kommende Aufklärung“.

A.H.: Ja, ich habe vielleicht keine Hoffnung in ein zukünftiges europäisches Kinopublikum, aber ich habe Hoffnung, dass sich unserer Jetzt-Zustand verändern kann. Der ist doch genauso wenig das Ziel der Geschichte wie die vollends aufgeklärte oder kommunistische Gesellschaft das Ziel der Geschichte sein kann. Es gibt kein Ziel der Geschichte, das irgendwann einmal erreicht wird. Dieser Moment, der in meinem bisherigen Leben sicher der deprimierendste Moment ist bezüglich der Weltlage und der gesellschaftlichen Umstände, ist auch nicht der Endpunkt. Wenn da also am Ende steht „die kommende Aufklärung“, dann soll das nichts anderes sein ein kleiner Beitrag zur Überwindung der gegenwärtigen Situation. Es geht darum, dass ein Blick auf die jüngere Geschichte dessen, was Europa bereits erzählen konnte, und auf was es bereits zählen konnte, sich lohnt. Ich glaube nicht, dass sich Historisches 1:1 wiederholt, aber jegliche Schärfung hinsichtlich zukünftiger Möglichkeiten geht aus einer historischen Analyse hervor. Das ist für mich die einzig denkbare Weise des Fortschritts oder eben der Befreiung aus scheinbaren Sackgassen. Natürlich ist eine kommende Aufklärung eine Behauptung, aber sie ist auch die Angabe eines Ziels. Ich bin Anhänger davon, dass wir aus dem extrem unaufgeklärten Zustand, in dem sich momentan nicht nur die europäischen Gesellschaften befinden, eine zweite, fünfte oder hundertste Aufklärung anstreben sollten. Ich verstehe dieses Programm als ein Mosaik von Möglichkeiten, wo man ansetzen könnte. Es soll auch zeigen, dass es sehr wohl Alternativen gibt. Das sind nur Filme, keine Staatsgebilde oder Verfassungen, aber als Filme sind es erkennbare und relevante Vorschläge. Wir dürfen halt nur nicht dem Gedanken anhängen, historische Erfahrungen oder Begriffe 1:1 zu übertragen. Die Frage ist immer: Wovon lernt man? Und was braucht es, damit das Gelernte überhaupt nutzbar gemacht werden kann in der aktuellen Situation? Das ist das Allerschwierigste – die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und da gehöre ich zu den Millionen von Überfragten. Aber es braucht erstmal das Material. Wenn man nicht einmal daran glaubt, dass es Material gäbe für eine kommende Aufklärung, dann soll man sich gleich aus der Existenz verabschieden.

Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? von Gerhard Friedl (© Österreichisches Filmmuseum)
Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? von Gerhard Friedl (© Österreichisches Filmmuseum)

V.D.: Und wie kommen jetzt solche Begriffe wie Geschichte, Geld und Grenzen zu Stande in deiner Arbeit an einer solchen Schau?

A.H.: Das kam eigentlich erst im zweiten oder dritten Schritt. Die Arbeit hat nicht mit diesen drei Leitbegriffen begonnen. Ich weiß nur, dass wenn eine Schau eine gewisse Stimmigkeit hat, dann ist es mir ab einem bestimmten Zeitpunkt möglich, solche Linien selber zu erkennen und sie dann auch zu benennen und dem Publikum anzubieten. Aber ich habe keinen dieser Filme quasi nachträglich hineingenommen, nur weil er einem solchen Teilthema entsprechen würde. Es war mir ab einem bestimmten Punkt klar, dass diese Linien bei der Vermittlung dessen helfen würden, welches Europa ich meine. Ich habe nicht so viel neu gesichtet für diese Schau. Manches habe ich gezielt und zum ersten Mal angeschaut, einiges wieder gesehen. Das ist alles ein wenig so wie eine Landkarte. Manche Orte sind besetzt und dann fragt man sich, in welchem Verhältnis diese Orte zueinander stehen. Auch bestimmte AutorInnen-Positionen finde ich da wichtig. Zum Beispiel Jean-Luc Godard. Wir hatten jetzt drei Jahre in Folge im Frühjahr Retrospektiven zu Godard. Heißt das jetzt, dass man der vom Kulturbetrieb verlangten Logik der Abwechslung folgt und damit eine Pause macht? Das wäre ein falsches Argument. Ich bin der Meinung, dass diese Schau einen Godard-Film braucht. So wie sie einen Rossellini-Film braucht, der naheliegenderweise Europa 51 heißt oder, mit La Règle du jeu, einen Renoir-Film. Bei Godard gab es naheliegende Kandidaten wie Film Socialisme oder Allemagne Neuf Zéro. Das wäre aber zu illustrativ gewesen. Und dann bin ich auf Masculin Féminin gekommen, und zwar über Lina Wertmüllers I basilischi. Das ist ein Film, den ich erst vor drei Jahren entdeckt habe, obwohl wir ihn in der Sammlung haben. Meine Liebe zum Kino von Lina Wertmüller ist beschränkt, was ihr sogenanntes Hauptwerk der 1970er Jahre betrifft. Sie ist also keine Filmemacherin, von der ich glaube, dass sie in einer solchen Schau unbedingt vertreten sein muss. Aber Peter Konlechner hat in seiner Carte Blanche im Jahr 2014 diesen Film ausgewählt und da habe ich ihn gesehen und war wirklich begeistert. Ich war dann auch fassungslos über meine eigene Ignoranz diesbezüglich. Es ist einer jener Filme, die nicht die große politische Geste in sich tragen. Er spielt in einem Kaff und bleibt mehr oder weniger in diesem Kaff. Niemand würde auf den ersten Blick sagen, dass das ein „Europa-Film“ ist. Aber er hält eine Situation junger Menschen fest, die an diesem Ort recht wenige Außenimpulse empfangen, wie Amerikanisierung, Globalisierung, Medialisierung; das ist dort eine Art mildes Gefängnis, wo aber viele gar nicht weg wollen. Und dazu dann die „Kinder von Marx und Coca-Cola“ im Paris der 1960er Jahre zu sehen, Jugendliche, die sich an alle Impulse ranhängen, an Amerika, an Pop und so weiter, fast im selben historischen Moment, das finde ich sehr spannend. So kamen Masculin Féminin und I basilischi zusammen. Ich habe bei diesen Assoziationen dann auch mehr und mehr gehofft, dass ich zwei Filme wie diese beiden auch wirklich nacheinander zeigen kann. Solche Hoffnung ist meistens illusorisch, wenn man sie auf eine ganze Schau anwendet, da steht meistens irgendeine praktische Realität dagegen, weil zum Beispiel nicht alle Filmkopien zu jedem beliebigen Zeitpunkt verfügbar sind. Aber da in diesem Fall vieles aus der eigenen Sammlung kommt und wir das mit den Leihkopien gut regeln konnten, hat es tatsächlich durchgängig geklappt. Es gibt 25 Abende mit jeweils 2 Filmen, die miteinander sprechen. Natürlich man fragt sich, ob man manchmal, um das Konzept einzuhalten, Nachbarschaften erzeugt, die keine sind. Das mag schon sein. Aber am Ende habe ich mich zu meiner eigenen Überraschung sehr wohl gefühlt mit all diesen Paarungen. Mir ist sehr bewusst, dass nur wenige Menschen zwei Filme am Tag sehen werden. Die Zahl jener, die so etwas regelmäßig tun, wird jedenfalls nicht größer, glaube ich. Aber vielleicht kennt man ja schon einen Film und schaut sich dann den anderen an und stellt so Verbindungen her. Dabei geht es auch nicht darum, dass man sich in erster Linie über die Frage der Paarung Gedanken macht. Ich verstehe mich nicht als allzu didaktischer Kurator. Es geht mir darum, dass man starke Erfahrungen machen kann, eben auch mit einer Paarung, wie zum Beispiel Mr. Arkadin von Orson Welles und Mr. Klein von Joseph Losey, die starke ästhetische Differenzen enthält. Und dann kommt so ein Film wie La Question humaine von Nicolas Klotz, ein Film der mich begeistert, seit ich ihn vor zehn Jahren zum ersten Mal gesehen habe. Der hat keinen besonderen Status im cinephilen Milieu, aber für mich ist das einer der politisch härtesten und klarsten Filme der jüngeren Zeit. Und er hat zum Thema „Geld“ eine besonders auffällige Nähe, so wie eben Mr. Klein oder David Golder oder mein liebster Fassbinder, In einem Jahr mit 13 Monden. Auf einmal gibt es also auf dieser Landkarte mehrere Filme, die Ökonomie und das Kapital thematisieren. Der Boden für diese Leseangebote der Schau sind die Werke selber. Und beim Begriff der „Freiheit“, die in Eurer vorherigen Frage anklang, bin ich von etwas ausgegangen, das Harun Farocki einmal in bestechender Klarheit gesagt hat. Nämlich dass das starke Streben nach einem möglichst freien Warenverkehr und Kapitalfluss kein rechtliches Äquivalent hat, was die Bewegungsfreiheit von Menschen betrifft. Was das bedeutet, sehen wir in den letzten Jahren, aber man muss dazu gar nicht Fuocoammare oder ähnliche aktuelle Kinoreflexe zeigen, man kann schon aus Filmen wie Die letzte Chance von Leopold Lindtberg oder Topio stin omichli von Theo Angelopoulos sehr viel mitnehmen. Es geht um das ungleiche Verständnis von Freiheiten. Hier gibt es eine Flüchtlingsdiskussion, dort eine Freihandelsdiskussion.

La Règle du jeu von Jean Renoir (© Österreichisches Filmmuseum)
La Règle du jeu von Jean Renoir (© Österreichisches Filmmuseum)

V.D.: Gehen und Geschichte stehen ja im Kontrast mit Narrativen, die man aus den USA kennt. Ich glaube ja, dass wenn man von außen auf Europa schaut, dann sieht man zuerst die Geschichte.

A.H.: Das Gewicht der Geschichte, ja.

V.D.: Wie zum Beispiel in Playtime mit dieser Postkartengeschichte, die dann in so Spiegelungen existiert. Und das Gehen ist ja etwas, was in Amerika in dem Sinne eigentlich nicht existiert.

A.H.: Ein Grund, dass ich das unter „Gehen“ subsumiert habe, ist auch recht simpel – es beginnt ebenfalls mit „Ge“, und ich habe solche Alliterationen ganz gern. Aber der zweite Grund ist tatsächlich dieser Kontrast zum Fahren, das wir ja hier vor einigen Jahren schon mit einer zweiteiligen Schau beleuchtet haben. Natürlich fahren die Leute auch in Europa sehr viel. Ich meine also insgesamt eher eine Bewegung, über Grenzen hinweg. Aber im Gehen drückt sich etwas spezifisch hiesiges aus, weil die Distanzen kleiner sind. Und man kann sich irgendwie nicht so gut vorstellen, dass hunderttausend Syrer an der US-Ostküste landen und dann nach Minneapolis gehen. Hier in Europa ist das anders. Nach diesen Motiven, wie dem des Gehens, habe ich dann mit Regina Schlagnitweit auch die Fotos für das Programmheft ausgewählt. Ich denke dabei immer auch an Sandrine Bonnaire in Sans toit ni loi. Sie bricht die Konvention nicht, indem sie sich in ein Auto setzt, sondern sie fängt an zu gehen.

P.H.: Ich tue mir sehr schwer damit, Sachen wie Geld oder Gehen an einen Kontinent zu binden. Zum Beispiel denke ich beim Gehen sehr stark an viele Enden in amerikanische Filmen, etwas Chaplin oder Ford, das sind für mich mit die stärksten Bilder des amerikanischen Kinos. Auch bei Ozu zum Beispiel wird unglaublich viel gegangen.

A.H.: Ich wollte nicht sagen, dass diese Begriffe exklusiv zu Europa gehören. Sie haben sich einfach im Zuge meiner Auswahl als drei grobe begriffliche Linien etabliert. Ich würde das wirklich eher mit Bewegung als mit Gehen umschreiben. D’Est von Chantal Akerman ist da ein gutes Beispiel. Das ist ein ganz eigentümliches Fahren in diesem Film, ein Fahren, das Gehende und Stehende filmt. Ein Fahren, das sich unterbricht und in konkrete Wohnungszusammenhänge hineingeht. Die Gefahr in solchen Gesprächen, wie wir es jetzt führen, ist, dass man alles restlos zu erklären versucht, was man im Lauf der Zeit entschieden hat. Aber in Wahrheit ist sehr vieles gar nicht erklärbar, sondern stimmig. Das entspricht dem schon beschriebenen Ansatz, von Filmerinnerungen auszugehen und diese dann zu befragen im Hinblick auf ein solches Thema. Es geht darum, den Filmen zu vertrauen. Und die Präsentation dieser Filme, das ist auch Strategie und Erzählung. Das ist halt meine Erzählung über die Arbeit, der ich mich ausgesetzt habe. Und wenn ich in meinem Text zur Schau dann einen langen Absatz habe, in dem ich zwanzig Filmtitel verwende, dann ist das auch eine Reaktion auf Gedankenprozesse in der Zusammenstellung solcher Texte. Der Text hat bis zu dem Zeitpunkt einen klaren Aufbau und dann wollte ich einfach so einen Traktor der Filmerinnerungen anwerfen. Wie lässt sich ein bestimmter Teil meiner Auswahl begrifflich so kombinieren, dass etwas noch mal klarer wird. Da ändert sich dann auch der Duktus des Schreibens, das sind nicht mal ganze Sätze. Das gefiel mir dann, dass der Text fast mit diesem Schwall endet. Der gibt auch den Schwall wieder, dem man sich ausgesetzt fühlt, wenn man so ein Programm erarbeitet oder auch nur betrachtet.

Le diable probablement von Robert Bresson (© Österreichisches Filmmuseum)
Le diable probablement von Robert Bresson (© Österreichisches Filmmuseum)

P.H.: Diese Art des Schreibens hat ja doch auch viel mit dem zu tun wie du programmierst, kuratierst. Die Wahl der Filme, ihre Kombination, das hat alles sehr viel mit Erfahrung und Erinnerung zu tun. Das hat sehr viel mit impulsiven Entscheidungen zu tun aus meiner Sicht. Ich mag das sehr. Aber jetzt, wo du aufhörst, stellt sich dir da nicht die Frage wie man so etwas weitergeben könnte? Wie soll denn deiner Meinung nach kuratiert werden, also selbst wenn man nicht deinen Erfahrungsschatz hat?

A.H.: Ich habe schon mit 22 Jahren begonnen, Programme zu machen. Meine erste Schau, die ich jemandem angeboten habe, war ein Programm der Filme, die Val Lewton produziert hat. Das war im Stadtkino, 1986 als Mitternachtsschiene. Zu dem Zeitpunkt habe ich wahrscheinlich ein Fünftel der Filme gekannt, die ich heute kenne, oder noch viel weniger, aber die Filme von Val Lewton habe ich ausreichend gut gekannt. Natürlich strebt man an, möglichst viel zu kennen, aber das lässt sich nicht anders bewerkstelligen als langsam aufbauend. Mein eigener Kenntnisstand ist außerdem wie bei jedem anderen Menschen durch libidinöse Neigungen geprägt. Manches ist einem näher, manches weniger. Ich kann mich bemühen, die Dinge, die mir weniger nahe sind, trotzdem zu verstehen und mehr und mehr davon zu sehen, aber ich kenne zum Beispiel im asiatischen Genrekino unendlich wenig, verglichen mit spezialisierteren Kollegen. Das Aufnahmevermögen ist halt begrenzt. Das gilt auch für das aktuelle Kino. Ich versuche da schon mitzukommen, deshalb fahre ich ja auch weiter auf Festivals, aber seit einigen Jahren habe ich das Gefühl, dass ich das einfach nicht mehr schaffe. Das ist auch kein besonderes Drama oder Trauma für mich. Das ist halt so. Das muss man mit Bescheidenheit betrachten. Und was das Weitergeben betrifft – diese Arbeit in den letzten 16 Jahren war für mich nicht nur ein Weitergeben von Werken oder Wissen an ein Publikum, sondern auch das Weitergeben bestimmter Praktiken. Wie man im Modus des Programm-Machens und Programm-Wahrnehmens Film und Filmgeschichte vermitteln bzw. auffassen könnte. Das ist eine Sache der Praxis, man muss es sozusagen tun – das Zeigen wie das Anschauen. Das geht mit Filmwissenschaft alleine nicht. Ich war und bin ja auch selber Publikum verschiedener Institutionen und habe daraus diverse Ansätze oder Ideen mitgenommen und andere zurückgewiesen. Es gibt also ein Fortschreiben, eine Genealogie. Zumindest habe ich meine Arbeit immer als Teil einer Genealogie empfunden, die auch stark von Wien und seiner Filmkultur geprägt ist. Darum finde ich die Tätigkeit hier auch so spannend und beglückend. Ich war hier lange im Publikum, habe die Szene kennengelernt und Figuren wie Peter Kubelka erlebt, bestimmte Redeweisen, Schreibweisen und Programmmatiken erlebt. Daraus konnte ich immer schöpfen, und Anderes konnte man woanders mitnehmen. Das verknüpft sich dann im Lauf der Zeit, und irgendwann kommt hoffentlich etwas Eigenes dabei raus. Diese Disziplin, an der mir viel liegt, nämlich Film Curatorship, inkludiert ja idealerweise auch ein hohes Bewusstsein von den Relais zwischen verschiedenen Generationen. Das ist insgesamt ein Metier, das im Schatten der Kunstkuratorenschaft steht und noch recht wenig reflektiert wird, gerade auch von denen, die es selber betreiben. Ich habe es als Teil meiner Arbeit verstanden, dieses Metier sichtbarer und auch „selbstreflexiver“ zu machen. Mit dem Ziel oder der Hoffnung, dass die Befassung mit Film und Filmgeschichte in den kommenden Jahrzehnten als notwendiges Element der generellen kulturgeschichtlichen Reflexion verstanden wird. Damit bin ich natürlich nicht sehr weit entfernt von jenen, die vor 70, 80 Jahren Kinematheken und filmkulturelle Institutionen gegründet haben oder die begonnen haben, ernsthaft über Film zu schreiben – fast immer mit dem Ziel einer Aufwertung. Das ist sicher auch zweischneidig. Das hat dann auch dazu geführt, dass man dem Film nur „als Kunst“ einen Wert zugestand, was meiner persönlichen Anschauung widerspricht. Aber dieses Motiv, den Film in ernsthafte kulturelle und ästhetische Debatten zu integrieren, war für jede Generation und auch für mich prägend. Ich merke auch, dass es heute wieder – mehr als vor fünfzehn Jahren – viele Diskurse gibt, die in die entgegengesetzte Richtung führen.

Alexander Horwath (© Österreichisches Filmmuseum)
Alexander Horwath (© Österreichisches Filmmuseum)

V.D.: Inwiefern?

A.H.: Wenn ich mir zum Beispiel die Verleih- und Kinolandschaft anschaue. Also die Motivlagen, die darüber entscheiden, was aktuell ins Kino kommt. Ich habe das Gefühl, dass die Motive für oder gegen die Herausbringung eines Films doch viel rückschrittlicher sind als vor 15 oder 25 Jahren. Wenn vor 20 Jahren ein Film von der internationalen Kritik einhellig als künstlerisch relevantes Statement begriffen wurde, dann war es selbstverständlich, dass sich auch in Österreich ein Verleih und Kinos dafür finden. Wenn man jetzt beobachtet, was herausgebracht wird, dann sind es andere Motiv- und Bedürfnislagen, die den Ausschlag geben. Es sind offenbar auch andere gesellschaftliche Bedürfnisse, die sich an das Kino richten. Wenn man das, wie ich, als einen Rückschritt in der Filmkultur betrachtet, muss man erst recht dafür eintreten, wieder relevante Räume für den Film im öffentlichen Gespräch zu schaffen. Ein anderer Aspekt ist das Leiden am Filmjournalismus, der mittlerweile wieder zu einem beträchtlichen Teil aus Stimmen besteht, die sich „generalistisch“ mit allem und jedem befassen, ohne von einem konkreten Feld viel Ahnung zu haben. Dafür hat sich an manchen Orten der Filmkultur aber auch eine Verbesserung eingestellt, denke ich; an den Universitäten zum Beispiel. Einerseits spricht viel dafür, dass mit dem Film jetzt dasselbe passiert wie mit anderen älteren Künsten – eine Art „Absinken“ im Mainstream bei gleichzeitigem „Aufstieg“ in die Hochkultur. Anderseits kommt mir vor, dass das Bildungsbürgertum, das für diese Prozesse im 19. und 20. Jahrhundert zumindest in Europa sehr aufnahmefähig und wichtig war, auch deutlich schrumpft. Damit stellt sich die Frage, wer jetzt und künftig den gesellschaftlichen Raum bilden könnte, den der Film dann „bespielt“. Das hat natürlich viel mit dem allgemeinen Medienwandel zu tun, mit den neuen Formen der Kommunikation. Und ich habe wenig Ansätze dafür, was das bedeuten wird für die Rolle des Films in 20 oder 40 Jahren.