The Sky Trembles: Das Ben-Rivers-Problem

Vielen Dank an Éric Volmeer

Das Ben-Rivers-Problem ist eines, über das man nur schwer schreiben kann, weil es sich eigentlich verbietet darüber zu schreiben, es gar als Problem zu bezeichnen. Dennoch habe ich es hier gemacht, der Text heißt: Das Ben-Rivers-Problem. Was ist nun das Problem? Oder zuerst: Wer ist Ben Rivers?

Britischer Filmemacher und Künstler. Hier beginnt ein Problem, das keines sein sollte. Nein, nicht dieses alberne Truffaut-Gerücht, dass Briten per se keine Filme machen können. Dafür gibt es genug Gegenbeispiele, sondern diese Distinktion, dieser Verweis auf den Künstler hinter dem Filmemacher. Ein Klassiker des modernen Diskurses. Die Flucht des Kinos in die Gallerie, die Unterschiede, Lieblingsfragen junger Journalisten: Was ist für dich/Sie der Unterschied zwischen dem Kino und dem Präsentieren der Arbeit im Kontext einer Ausstellung? Welche beschränkte Frage, kann man sie doch selbst beantworten. Rivers ist interessiert an Entlegenheiten und Gelegenheiten, er mag das Finden und das Suchen, er treibt und schaut und wartet. Oftmals wird Rivers mit dem Label „Slow Cinema“ beschrieben, weil in seinen Filmen lange Einstellungen mit wenig äußerlicher Bewegung existieren. Er ist ein Meister darin, aus dem fast völligen Verschwinden einen Moment fokussierter Magie zu formen, der einen im baffen Unverständnis einer Verzauberung zurücklässt, hypnotisiert, ob des Gefühls für das Zusammenspiel von Zeit, Ton, Bild und Bewegung. Überdies ist Rivers ein geographischer Forscher. Seine Filme sind oft Reisen in das Verlassene, Nie-Erkundete und dadurch auch das Merkwürdige. Das Fremde ist bei Rivers immer doppelt zu denken. Unter vielem lauert dann eine Einsamkeit, die mit der flirrenden Eintönigkeit mancher seiner Bilder harmoniert.   Inspirieren lässt er sich oft von Schriftstellern, deren Werke er nicht adaptiert, sondern eher in eine filmische Arbeit übersetzt. Schließlich ist Rivers auch ein Filmemacher, der vieles, was er findet nicht ordnen kann oder will, er hinter- und überlässt Fragmente, Eindrücke, Fetzen einer gefundenen Wahrheit, die er nur in diesen Fetzen als Wahrheit zusammensetzen will. Rivers arbeitet an und mit dem Medium, auf dem er dreht. Er ist sicherlich mehr interessiert an der Präsenz und Materialität des Filmischen, als an der Repräsentation, die er mit und durch die Präsenz hinterfragt. Wo liegt das Problem?

The Sky trembles

Im vergangenen Jahr meditierte Rivers ein weiteres filmisches Konstrukt durch seinen nach Zelluloid lechzenden Apparat. Der Titel ist ein Kunstwerk in sich: The Sky Trembles and the Earth is Afraid and the Two Eyes Are Not Brothers. Auf der offiziellen Homepage des Films wird dieser wie folgt beschrieben: „…is a labyrinthine and epic film that moves between documentary, fantasy and fable. It was shot against the staggering beauty of the Moroccan landscape, from the rugged terrain of the Atlas Mountains to the stark and surreal emptiness of the Moroccan Sahara, with its encroaching sands and abandoned film sets. Rivers’ work contains multiple narratives, the major strand being an adaptation of A Distant Episode, the savage short story by Paul Bowles. The film also features the enigmatic young film director Oliver Laxe, whose onscreen presence becomes interwoven with the multiple narratives that co-exist amidst the various settings of Rivers’ cinematic exploration.“

Im Kern erinnert der Film an Raya Martins/Mark Peransons La Última Película. Es ist eine ernsthaftere und präziser fotografierte Auseinandersetzung mit ähnlichen Phänomenen: Der Vergessenheit ehemaliger (Film-) Welten, der Entführung eines Filmemachers, der Frage nach Autorenschaft und eine Tendenz, die Blödelei/Freude am Filmemachen mit ins Bild zu bringen, sie nicht aus dem Fluss zu schneiden. Rivers stellt auch die Frage wie eine Geschichte entsteht, getragen wird, weitergetragen wird und heute (im Film) erzählt werden kann. Ein kolonialer Konflikt zwischen der Gleichgültigkeit einer tödlichen Natur und ihrer filmischen Eroberung entbrennt in einem Fiebertraum im französischen Filmemacher Oliver Laxe (sowie Shezad Dawood in der Installationsarbeit mit einem Film namens Towards the Possible Film), der seinen Film als Spiegel und als Unendlichkeit für und vor Rivers dreht, der dieses Fieber liebt und sich in surreale Bilder von nickenden Pferden und einem Mond, der den Bildrahmen sprengt, stürzt, um zu sammeln, was man spürt. Dabei geht eine merkwürdige, an Pere Portabella erinnernde, Bedrohung vom Set und den 16mm-Bildern der Felsen des Atlas-Gebirges aus. Man sollte nie vergessen, dass Atlas die Welt stützte. An einem Tag in diesen unwirklichen Landschaften zwischen Felsen und dem orangen Licht der existenzialistischen Sonne verlässt Laxe das Filmset und fährt in die Wüste. Die Landschaftsaufnahmen sind viel zu einfach, zu schön und doch sind sie tatsächlich schön. Ab dann befindet man sich in der Fiktion von Paul Bowles. Laxe der Filmemacher wird von einigen zahnlosen Banditen gewaltvoll niedergekämpft, entführt und in ein Kostüm aus Blechdosen gesteckt und im Stile Joe Pescis zum Tanzen gebracht. Zuvor wird ihm in einem Ausbruch einer Lagerfeuer-Brutalität die Zunge rausgeschnitten. Die Musik einer Umkehr der Nutzung von Landschaften etabliert sich in einem Wechselspiel aus enigmatischem Hipster-Vollzug und Betörung.

The sky trembles2

Hier liegt dann auch womöglich das Ben-Rivers-Problem, das auch eine Frage an die Art und Weise stellt, wie man solche Arbeiten beschreiben kann (sowohl für Förderungen als auch in der Filmkritik). Ist diese Fragmentarisierung eine Notwendigkeit, ein Selbstzweck? Rivers spricht in Interviews von einer Essenz der Wirkung des Drehs, den er begleitet hat. Die Frage ist, wieso diese Essenz sich nur in kurzen Momenten aus den Bildern schält oder ob die Essenz genau dieser Nicht-Druck ist. Vielleicht machen wir es uns zu einfach. Es gibt diese Idee, dass in einem Film jede Einstellung, jede Sekunde voller Konzentration sein muss. Bei Rivers dagegen ist die Konzentration manchmal ihr Verschwinden, ein Verlieren, ein Treiben. Wie kann man filmen, was nicht war, wie kann man etwas uninteressant ehrlich filmen, ohne uninteressant zu sein? Beispiele lassen sich von Angela Schanelec über Chantal Akerman durchaus finden, weil man sich ja auch durchaus die Frage stellen muss, was eigentlich uninteressant sein könnte. Rivers ist interessiert an der Hypnose der Zeit an einem bestimmten Ort. Man kann sie nicht beschreiben und in ihrer Wirkung kaum greifen.

Dann kommt man aber schnell in die Problematik einer Willkür. Die Notwendigkeit einer Kritik trifft hier auf ihre verzweifelte und ungerechte Anmaßung. Natürlich kann man subjektiv immer kritisieren, aber unartikulierte Meinungsäußerungen („Mmh, hat mir gefallen.“) sind genauso obsolet wie normal. Daumen hoch, Daumen runter, ja schön, habe ich mich gelangweilt in diesem Ben Rivers Film? Ist das wichtig? Es gab Stellen, die an mir vorbeizogen. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: In Two Years at Sea oder auch seinem Things gab es solche Augenblicke der Langeweile nie für mich, es geht nicht um das Filmen einer Langeweile, eines Findens, einer Fragmentarisierung, das per se langweilig ist, nein, das Problem scheint ein anderes und mein Problem und der ehrliche Grund, warum ich diesen Text das Ben-Rivers-Problem nenne ist, dass ich nicht weiß, was das Problem ist. Es gibt diese Filme immer wieder. Man kann nur schwer Stellung zu ihnen beziehen. Meist bekommt man davon nichts mit, weil man es dann entweder lässt oder so tut als hätte man eine Meinung dazu. Ähnliches passiert auch bei vielen Filmemachern, die ihre Gefühle in verkaufbare Konzepte pressen müssen, die nicht nur nichts mit dem ursprünglichen Impuls des Filmemachens zu tun haben, sondern auch diesen Impuls verändern. Rivers ist auch deshalb ein Künstler hinter dem Filmemacher, weil er sich dann diesen Impuls bewahren kann (ob das wirklich so ist, weiß ich nicht). Wenn man ehrlich ist, dann muss einen die Klarheit einer Meinungsäußerung abstoßen genauso wie jene einer Idee genauso wie jene einer Dramaturgie. In diesem Sinn ist Ben Rivers kein Problem, sondern eine Lösung. Auf der anderen Seite gibt es auch eine Klarheit, die nicht anmaßend ist beziehungsweise eine Unklarheit, die faul ist. Wichtiger denn je scheint mir dann das Beschreiben, Beobachten und Wahrnehmen zu sein. Im Fall von The Sky Trembles and the Earth is Afraid and the Two Eyes Are Not Brothers wirkt es aber so, als wäre der Filter eines coolen Konzepts, einer Idee über diese zweifelsohne hier und da sichtbare Wahrnehmung von Rivers gestülpt worden. Die Idee des Treibens und das tatsächliche Treiben sind zwei paar Schuhe. Wenn man sich vergegenwärtigt wie Apichatpong Weerasethakul in seinem Cemetery of Splendour in einen Traum fällt oder Assayas in seinem L‘eau froide in die Verlorenheit eines Alters, dann wirkt es bei Rivers umgekehrt, er treibt schon bevor er etwas sieht, das könnte großartig sein oder falsch. Ist das also mein Problem?

THE SKY TREMBLES AND THE EARTH IS AFRAID AND THE TWO EYES ARE NOT BROTHERS – TRAILER from Ben Rivers on Vimeo.

 

Rivers, der in seinen besten Filmen den Geist von Jean Rouch erweckt, wirft hier viele verschiedene Projekte ineinander und entfaltet ein kryptisches Mosaik, das nach einer betrunkenen, apokalyptischen Prophezeiung benannt ist. Es ist eine Prophezeiung, die sich in ihren eigenen Klang verliebt und gleichermaßen verliebt sich Rivers in die Oberfläche seiner Bilder. Doch Rivers ist auch ein Filmemacher der Möglichkeitsform und man darf nie vergessen, dass das große Kino immer im Konjunktiv besteht. Und so liegen vor uns Skizzen gleich jenen von Pasolini in Indien, Skizzen von Filmen, die wir nie sehen werden und konsequenterweise müsste man eine Kritik oder eine Projektmappe demzufolge auch im Konjunktiv schreiben (Towards the possible film).

Was wäre, wenn das ein richtiger Film wäre? Was wäre, wenn ein richtiger Film so wäre?

Die Kinomomente des Jahres 2015

Es war ein Jahr des Fließens, in dem man sich an das Vergessen erinnerte. Daher ist mein kleiner Rückblick dieses Jahr nicht nach den Filmen geordnet, sondern nach verschiedenen Phänomenen, Emotionen oder Symptomen des Filmjahres, die in sich die Geschichte einer wiederkehrenden Liebe und Angst erzählen.

Die Berührung

No No Sleep

2015 war ein Jahr für das Potenzial einer Liebe im Kino. Es lebte von den Möglichkeiten, sich doch einmal zu berühren, zu küssen, wenn nicht in der Realität, so doch in einem Traum, in einem abwesenden Moment oder in einem anderen Körper. Eine der großen Szenen der Berührung findet sich in No No Sleep von Tsai Ming-liang. Lee Kang-sheng liegt in einer heißen Wanne mit einem anderen Mann. Es ist ein Moment, bei dem man nicht weiß, ob es eine Berührung gibt oder nicht. Eine Hand greift unter Wasser nach einer anderen Hand. Ist es eine Illusion, eine Sehnsucht, passiert es wirklich? In Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul gibt es die Faszination der Berührung von Schlafenden. Wie alles im Film bewegt sich diese Lust in einer Dazwischenheit von Ekel und Verführung sowie Spiel und Tod. Mit einer Berührung übertritt man die Schwelle, sie ist wie eine Erinnerung an die Gegenwart. Es sind die leichten Berührungen wie in Carol von Todd Haynes oder L‘ombre des femmes von Philippe Garrel, kaum sichtbare Berührungen wie in Samuray-S von Rául Perrone oder die zerfetzenden Berührungen wie in The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky (der nicht nur die Körper berührt, sondern gleich den Filmkörper), die letztlich ein Fieber auslösen. Die Berührungen haben uns weniger gerührt als zerstört.

Der Kuss

Carol

Und dann stürzt man sich hinein. Arnaud Desplechin hat in seinem Trois souvenirs de ma jeunesse etwas vollbracht, was mutig ist: Der Filmkuss. Ganz klassisch, magisch. Das Verschmelzen zweier Menschen, das Symbol, das Klischee, das Kino, ja. Es war Godard – ausgerechnet er – der gefordert hat, dass das Kino wieder zurück zu einer solchen Leichtigkeit muss. Desplechin, der manchmal zu Unrecht mit Rohmer verglichen wurde, hat gezeigt, dass er genau das kann, denn wo bei Rohmer ein Kuss nicht einfach nur ein Kuss sein will, da kann er bei Desplechin ein Kuss sein. Es ist die Lust daran, die Hingabe.  Eine ähnlich mutige und kräftige Einfachheit gibt es am Ende von Carol. Lange habe ich kein derart kompromissloses und keinesfalls aufgesetztes Happy End gesehen. Einen ganz anderen Kuss gibt es im zweiten Teil von Hong Sang-soos Right Now, Wrong Then. Hier geht es um die Unbeholfenheit, die Schüchternheit. Es ist ein Kuss auf die Wange mit dem Versprechen, dass es das nächste Mal die Lippen werden. In diesem Versprechen taucht wieder das Potenzial einer Liebe auf, einer anderen Zeit. Es muss ein neues Treffen geben, einen neuen Versuch, einen zweiten Kuss. Aber gibt es den?

Die Krankheit

Les dos rouge2

Schließlich verlässt die Protagonisten des Kinos 2015 die Kraft. Sie brechen zusammen im Rauch einer geheimen Schwangerschaft wie in The Assassin von Hou Hsiao-hsien oder sie entdecken einen mysteriösen roten Punkt auf ihrem Rücken wie Bertrand Bonello in Les dos rouge von Antoine Barraud. Die Körper versagen und mit ihnen verschwimmt die Seele, das Selbstvertrauen. Das beständige Husten im tödlichen Ascheregen von La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo ist Inbegriff dieses Dahinsiechens, das gleichermaßen jegliches Potenzial der Liebe erstickt, als auch genau diese wieder von Neuem ermöglicht, wenn das was man liebt nicht die Kraft, sondern die Schwäche des Partners, des Vaters oder des Fremden ist. Außer Chantal Akerman in No Home Movie hat kaum ein Filmemacher Krankheiten offen thematisiert. Vielmehr waren es unerklärliche, fast magische Elemente, gar nicht so verschieden von einer Berührung oder einem Kuss. Darin liegt auch ein letztes Aufbäumen des Spirituellen im westlichen Kino, das die Krankheit als (surrealistische) Erscheinung inszeniert, als ein Geheimnis und Tabu, das ganz vorsichtig umflogen wird mit Gefühlen einer wundervollen Dekadenz wie bei Barraud oder der Schönheit, die den Tod bringt wie bei Acevedo. Im Kino, vermag die Direktheit genauso zu treffen wie ihre innere Zensur, die Angst.

Die Angst

No Home Movie

Im Dunkel einer plötzlichen Nacht irrt die Kamera von Akerman in No Home Movie durch das Haus ihrer Mutter. Sie rettet sich hinaus auf den Balkon, wild atmend und dann verschwindet sie im Bad, wo Wasser die Badewanne flutet. Es ist dies eine absolut einzigartige Szene, denn Akerman filmt das Aufwachen aus einem Albtraum hier wie einen Albtraum. Man kennt solche Tricks von Filmemachern, wenn man glaubt, dass die unheimliche Traumsequenz vorbei ist und sie dann doch weitergeht. Aber darum geht es bei Akerman nicht, weil es keine Illusion eines Friedens gibt, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Aufwachen und Schlafen, zwischen den obskuren Schatten Innen und Außen, es bleibt ein Horror, eine Angst.

Das Unvermögen

One floor below

Ein erster Versuch, aus dieser Angst zu entkommen, ertränkt sich im eigenen Unvermögen. Wieder hat vor allem das rumänische Kino einige unvergessliche Momente des Unvermögens gefunden. Da wäre ein Wünschelroutenexperte in Corneliu Porumboius Comoara und ein verzweifelter, zögernder, lügender, ängstlicher Protagonist in Radu Munteans Un etaj mai jos. Dort filmt Muntean seinen Protagonisten ähnlich wie Renoir Michel Simon filmte, wie ein Raubtier. Teodor Corban liefert eine Darstellung ab, die neben  jener von Jung Jae-young in Right Now, Wrong Then sicherlich zu den besten schauspielerischen Leistungen des Jahres gehört. Beide fabrizieren ein Unvermögen, indem sie alles dafür tun, dieses zu verstecken, sodass es für den Zuseher sicht- und fühlbar wird. Dieses Schauspiel existiert in der Wahrheit einer Lüge oder besser: im Spiel mit der Identität, die sich dadurch offenbart, dass man sich selbst nicht wahrhaben will, verstecken will und sogar erneuern darf wie im Fall von Jung Jae-young, der zweimal dasselbe anders leben darf und doch vor uns der gleiche bleibt. Als dritte schauspielerische Verunsicherung sei hier noch Jenjira Pongpas in Cemetery of Splendour genannt, deren Unvermögen sich in den weit aufgerissenen Augen einer identitätslosen Sehnsucht äußert. Was in diesem Unvermögen, das aus Angst entsteht, noch bleibt, ist das Blicken, das Beobachten. Johan Lurf hat zwei spannende Blicke gezeigt, die politische Strukturen hinterfragen. In Embargo und Capital Cuba ist ein Blick auch immer zugleich das Angeblick-Werden. Die Machtlosigkeit und Penetration dieser Blicke, es ist das Kino selbst, das sich dahinter verbirgt, verunsichert, immer nur ein Potenzial.

Die Flucht

Kaili-Blues

Und was einem bleibt, ist die Flucht. Es ist nicht nur so, dass der Mainstream 2015 eine enorme Lust an Verfolgungsjagden entfesselt hat, die in Mad Max: Fury Road ihren nackten Gipfel erreichte, sondern auch der Filmemacher selbst floh in Person von Miguel Gomes aus seinem ersten Teil von As Mil e uma Noites. Und doch führen diese eskapistischen Ausbrüche in leere Versprechen. Der Weg führt zurück. Von der Illusion in die Realität und von der Realität in die Illusion. Ein flirrendes Wechselspiel zwischen dem Aktuellen und dem Vergangenen hat sich 2015 in den Kinos entfaltet. Es sind die unterschiedlichen zeitlichen Schichten in Cemetery of Splendour, die nostalgische Vergangenheit der Zukunft in Star Wars: The Force Awakens von J.J. Abrams, die Landschaften Chinas, die heute genau so aussehen, wie vor über 1000 Jahren in The Assassin,das beständige Echo in Aus einem nahen Land von Manfred Neuwirth, japanische Stummfilme entstanden mit digitalen Technologien im Haus eines Argentiniers in Samuray-S oder Jean Renoir, der als Synthese einer dialektischen Gefangenschaft aus einem Aquarium ausbricht in Jean-Marie Straubs L‘aquarium et la nation. Die Flucht geht nach vorne zurück, zurück in die Zukunft und vorne ist es mehr hinten als jetzt. Das Ende von Bi Gans hypnotischen Kailil Blues lässt die Zeit dann tatsächlich rückwärts laufen. Die Flucht zurück, der Neuanfang, die Nostalgie und die Erkenntnis, dass man nirgends wirklich hinfliehen kann. Es ist dies das Kino einer Identitätskrise. Ihr perfektes Bild findet diese Krise im Schlussbild von Jia Zhang-kes ansonsten über weite Strecken enttäuschenden Mountains May Depart: Im Schnee tanzt die großartige Zhao Tao zur unerfüllten und schrecklichen „Go West“ Hoffnung einer Vergangenheit. Eine Welt, die sich geöffnet hat, um wieder davon zu träumen, träumen zu dürfen, dass man sich öffnet. Aber man ist schon offen und diese Zukunft war auch nur Geschichte. Vor was flieht man?

Die Verschwundenen

IEC Long

Es ist klar, dass man in diesem Nebel aus Flucht, Angst, Berührung und Sehnsucht verschwinden wird, wie die Berggipfel hinter den Wolken in The Assassin. Vielleicht verschwindet man in einen Wald wie in The Lobster von Giorgos Lanthimos oder man versteckt sich einfach mitten im Bild wie einer dieser Flüchtenden im Mise-en-Scène Spektakel Aferim! von Radu Jude. Das Filmmaterial löst sich auf, die Asche bedeckt die Repräsentation, ein Hund verschwindet in der Magie von Sayombhu Mukdeepromein, ein Ozean überflutet all unsere Existenzen wie in Storm Children, Book One von Lav Diaz. Es bleibt Treibgut, kleine Reste wie in Things von Ben Rivers oder IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata, mehr scheint nicht mehr möglich, wenn man von der Gegenwart erzählen will. Entweder die Fragmente dieser Identitästlosigkeit oder das Bedauern über ihren Verlust wie auf dem Gesicht von Stanislas Merhar in L‘ombre des femmes, der zeigt, wie man sich selbst belügt, um zu lieben. Hilflos irren auch die starken Figuren in Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke durch die Welt nachdem eine ihrer Freundinnen körperlich und auch bezüglich ihrer Identität verschwunden ist. Selbst die Heldinnen Hollywoods verschwinden wie Emily Blunt in Sicario von Dennis Villeneuve. Es ist das Verschwinden in einer Machtlosigkeit und wir verdanken es den großen Filmemachern unserer Zeit wie Akerman, Garrel, Rodrigues&Guerra da Mata, Diaz, de Oliveira oder Weerasethakul, dass sich in diesem Verschwinden eine Sinnlichkeit greifen lässt. Der Sinn und die Sinnlichkeit des Verschwindens. Viel brutaler verschwindet die Bedeutung des Bildes und des Kinos in 88:88 von Isiah Medina. Hier verschwindet alles in der Flut der Bilder, die Montage regiert, aber sie steht nicht mehr im Dienst der Bilder, die sie verbindet, sondern sie wird zum einzigen Zweck eines Zappings und Clickings, das unsere Wahrnehmung in Zeiten dieser Identitätskrise bestimmt. Eine Schwerelosigkeit setzt ein, sie fühlt sich nur sehr schwer an.

Die Wiederkehr

Cemetery of Splendour2

Der einzige Film, der aus dieser Reise der Angst zurückkehrt, der Film, der gleich Phönix tatsächlich wiederkehrt, ist Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira. Verschlossen, um nach dem Tod sichtbar zu werden, ist dieser Film eine wirkliche Offenbarung, in der sich der Stil eines Mannes als seine Seele entpuppt. Er zeigt, dass Berührung im Kino immer im Wechselspiel aus Wahrnehmung und Selbst-Wahrnehmung entsteht. Die Distanz, sei sie zeitlich, räumlich oder emotional und die Umarmung, Zärtlichkeit, das Treiben in und jenseits einer Zeit und Zeitlichkeit. Dann schließen wir die Augen und fallen in eine Rolltreppen-Hypnose der Schlafkrankheit und vor uns kann nicht nur die Vergangenheit vergegenwärtigt werden, sondern auch die Gegenwart in ihrer Vergänglichkeit greifbar werden. Das Kino 2015 bemüht sich nicht mehr so stark darum, die Zeit festzuhalten, als wieder, wie in frühen Tagen des Kinos, die Flüchtigkeit von Erfahrungen spürbar zu machen und sie dadurch in unser Bewusstsein zu rücken. Die Erinnerung in den Filmen des Jahres ist keine feststehende Größe, sie ist selbst wie die Oberfläche eines unruhigen Wassers, in dem wir manchmal etwas erkennen können und manchmal verschwinden. In Visita ou Memórias e Confissões verschwinden die beiden Besucher in der Dunkelheit. Wir wissen nicht, ob sie von Gestern sind und das Heute besucht haben oder ob sie von Heute sind und das Gestern besucht haben. Dasselbe gilt für die Filme des Jahres 2015.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: HYPNOSE

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel sind am biblischen siebten Tag des Festivals weit davon entfernt zu schlafen. Stattdessen gehen ihre Träume mit den Filmen spazieren in den Nächten Wiens, die nicht erst seit Arthur Schnitzler so einige Ebenen bereithalten.

Mehr von uns zur Viennale

Ben Rivers Things

Patrick

  • Psaume von Nicolas Boone: Halluzinierende Afrikaner straucheln durch einen hypnotischen Film. Ein Mann, der aussieht wie Staub liegt auf einem Karren. Die Männer holen Wasser von einem Brunnen. Sie hören nicht auf zu trinken. Die Kamera bewegt sich schwebend auf sie zu und dann zurück zum Wagen. Der Mann aus Staub erhebt sich plötzlich. Er ist doch nicht tot.
  • Boone bleibt immer in Bewegung, seine Philosophie: Film als einmaliges Ereignis. Ich bin mir nicht sicher, was ich von dieser Philosophie halten soll, aber das gute an ihr ist, dass sie automatisch die Zeit, die Vorgänge brauchen, respektiert.
  • Die nächste Halluzination war bereits früher: Things von Ben Rivers. Er stellt die Frage, ob es genügt, wenn man in sich stimmige Elemente in einem Film kombiniert. Hier ist Film kein einmaliges Ereignis, sondern eine dauernde Erinnerung, ein Speicher, vielleichte ein Speicher dieses Ereignisses?
  • Der Preis für die cinephile Handlung des Tages geht an Florian Widegger vom Stadtkino, der sich nur in die Abendvorstellung des Filmmuseums begab für den Vorfilm, gut 10 Minuten Ermanno Olmi. (aber Achtung: Laut Hans Hurch ist Cinephilie eine Krankheit)
  • Das Programm The Colour of Things war eine Beleidigung für Ben Rivers.
  • In der Nacht träume ich tatsächlich davon, dass sich Freunde von mir in Affen verwandeln. Primate hat sich in mein Unterbewusstsein geschlichen. Ich bin etwas überrascht (nach wie vor) von der verbreiteten Annahme, dass sich Wiseman durch eine besondere Objektivität auszeichnen würde. Für mich waren bislang alle Filme, die ich von ihm sehen konnte (vielleicht fehlen mir entscheidende) Argumentationsketten, die durch ihre Struktur und eingestreute Nahaufnahmen klar Stellung beziehen. Das macht sie nicht schlechter oder besser, weil Wiseman so oder so ein unfassbarer Beobachter von Arbeit, Prozessen und unserer Kommunikation ist.

Ben Rivers Things

Ioana

  • Es war eine gute Entscheidung Things wieder zu sehen, ich fand ihn auch beim zweiten Mal genauso fesselnd. Aber es tat weh, die nächsten zwei Kurzfilme im Programm zu sehen.
  • Samuray-S is the haunting ghost of a film, everything about it resembles the way in which a long ago seen and loved film is remembered – the images and sound emerge from the thick fog of memory distorted, disjointed, misty. That which takes hold of our senses is a multilayered phantasm because in its turn, that which is remembered belongs to the realm of ghosts and magic – dreams that bring back dead lovers and healing powers.
  • Nach einer halben Viennale kann ich zwischen den Screenings nur noch schlafen.
  • Über Primate und Wiseman allgemein muss man noch lange nachdenken. Ich befürchte, dass die Hysterie des Festivals ihn verschluckt hat.

Cycling the Frame: Über die Verbindungen von Radsport und Film

Breaking Away von Peter Yates

Atemberaubende Helikopteraufnahmen, leidende Gesichter, erbarmungsloser Kampf zwischen Mensch und Natur. Die Überwindung der eigenen Grenzen ist emblematisch für Film, wie für Radsport. Mögliche Gemeinsamkeiten sind ebenso Thema des folgenden Gesprächs, wie die Unterschiede, die ein Vergleich einer Kunstform und eines Wettkampfs mit sich bringt. Dennoch lohnt es sich einen Blick auf den Radsport als ästhetische Kategorie zu werfen und dort, wie im Kino, nach einer Krise der Repräsentation zu suchen. Während also zuhause der Giro d’Italia auf den Bildschirmen flimmert, suchen Patrick und Rainer den Vergleich mit dem silver screen.

Rainer: Wir haben uns in letzter Zeit wiederholt über Radsport unterhalten. Du hast da einmal geäußert, dass das eine sehr kinematische Sportart ist. Dieser Gedanke hat mich nicht losgelassen und ich will nun in diesem Gespräch versuchen ein paar Dinge zu vertiefen, die mir interessant erscheinen.

Patrick: Ja, also bei mir kam diese Faszination für diesen Sport fast zeitgleich mit der Faszination für das Kino. Das hat erstmal immer ganz banal an der Kameraarbeit bei den TV-Übertragungen gelegen, aber dann auch mit einem Gefühl für Geschichtlichkeit, Fiktionalität und natürlich Bewegung

Rainer: Bei mir kam der Radsport zuerst. Vor unseren kurzen Gesprächen, habe ich mir da auch nie wirklich Gedanken über mögliche Verbindungen gemacht, da meine Radsportbegeisterung über die Jahre etwas zurückgegangen ist. Nun ist mir aber letztens in den Sinn gekommen, dass meines Erachtens vor allem eine Sache Radsport und Film verbindet: beide erschließen sich nur über die Dauer. Die Zusammenfassung eines Radrennens macht im Gegensatz zu anderen populären Sportarten wie z.B. Fußball kaum Sinn, denn die wahre Kraft der Übertragung eines Radrennens liegt in der Multiplikation von Anstrengung und Dauer. Das ist im Kern nicht so verschieden wie die Filme einer Reihe von Filmemachern, die wir hier am Blog hervorzuheben versuchen.

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Patrick: Ja, ich verstehe. Aber die Dauer im Radsport ist doch auch ein Bewusstsein für die Geschichte des Sports. Also was bedeutet es, wenn man an diesem Pass eine Etappe enden lässt, wenn dieser Fahrer dem anderen den Vortritt lässt und so weiter. Sowas gibt es im Film nicht. Die Dauer einer Übertragung reicht im Radsport sehr schnell in den Mythos. Damit sind wir auch beim Film, oder? Nur, was ich bei deinem Argument nicht ganz nachvollziehen kann: Bei Filmen geht es um eine Aufmerksamkeit, ein ständiges Beobachten und Wachen und ja, in vielerlei Hinsicht um ein konstruiertes und geschlossenes System, das diese Konzentration fördern will. Dagegen ist Radsport etwas sehr Offenes. Ich würde dir Recht geben, dass man den Sport erst über die Dauer richtig erfahren kann. Aber diese Dauer kann erschließt sich nicht wie im Kino durch das Ansehen einer Etappe bzw. eines Films, sondern man muss viele Rennen sehen, um diese Dauer wertvoll zu machen. Und zudem stört es dabei nicht, wenn man nicht alles sieht. Ganz im Gegenteil…der Sport funktioniert ja sogar immer noch auch über Nacherzählungen, über Anekdoten und kleine Randgeschichten. Es geht nicht nur darum, was wir in dieser Dauer sehen, sondern tatsächlich darum, was alles passiert. Ohne mich darauf festlegen zu wollen, würde ich sagen, dass Radsport ein Sport der Gleichzeitigkeit ist während Film eine Kunst der Zeitlichkeit ist. Und wir reden da natürlich von den TV-Übertragungen, nicht vom Sport selbst.

Rainer: Mir geht es auch im Wesentlichen um die mediale Aufbereitung des Sports, wobei man sich auch kurz unterhalten kann, inwiefern der Eindruck des Radfahrenden einer kinematischen Erfahrung gleicht – aber das vielleicht später.

Klar kann man das alles nicht eins zu eins übertragen – das will ich gar nicht behaupten – und deine Einwände sind sicher richtig. In der Natur des Sports liegt aber auch, dass nicht alles gleichzeitig im Bild sein kann, weil sich das Fahrerfeld zumeist nicht innerhalb einer einzigen Kameraeinstellung einfangen lässt. Darin könnte man eine Betonung des Offs sehen, die mir dann doch wieder sehr kinematisch erscheint. Darüber hinaus, erschließt sich, wie du oben anführst, der Sport tatsächlich sehr stark über den Mythos, über die Geschichtlichkeit und über Narrativierungen, die durch die Erzählungen der Kommentatoren (die, wie ich finde, im Radsport besonders gut sind) entstehen. Im Grunde machen das andere Sportübertragungen nicht anders, sie sind immer Erzählmedien – aber im Radsport liegt da doch ein anderes Gewicht drauf. Was ich eigentlich vorhin sagen wollte, spielt da mit hinein: Gerade weil über so weite Strecken kaum etwas passiert, nimmt man die ereignisreichen Szenen umso intensiver wahr – ich denke sehr viele Filme im zeitgenössischen Kunstkino funktionieren ähnlich, ich denke da zum Beispiel an Tsai Ming-liang oder Lav Diaz.

Patrick: Das ist alles sehr logisch. Spannend finde ich dann, dass diese Filme von einer Entschleunigung ausgehen, während es im Radsport ja eigentlich darum geht, schneller zu sein. Also Dauer hat im Radsport ja nichts mit Entschleunigung zu tun.

Rainer: Ist das so? Aus Sicht des Sports natürlich nicht, aber in Hinblick aufs Fernsehen sehe ich da schon entschleunigende Tendenzen. Die Geschwindigkeit von TV-Sendungen nimmt doch insgesamt zu, wenn man da beim Zappen auf eine Übertragung eines Radrennens stößt, wirkt das denk ich schon entschleunigend. Das gleiche trifft natürlich auch auf Segelregatten und Snookerpartien zu.

Lance Armstrong

Patrick: Ich glaube, dass auch in Radsportübertragungen da ein Bemühen erkennbar ist, das Tempo zu erhöhen. da gibt es zum einen jenen durchgehenden Kommentar, der jedes „Loch“ in der Geschichte des Rennens mit Anekdoten, usw. füllt, dann gibt es die Tendenz zum Spektakel, man filmt besondere Bauwerke oder überlegt sich wilde Dinge, wie bei der letztjährigen Tour de France als Kameras an Helmen befestigt wurden oder gar an Schafen am Streckenrand. Wenn man sich ansieht wie Filmemacher an den Radsport getreten sind, dann war das so weit ich das überblicke auch immer eine Sache von Tempo und Körperlichkeit. Das Leiden der Gesichter ist da filmisch, nicht die Zeit. Ich glaube auch, dass in den sogenannten langsamen Filmen immer unglaublich viel passiert, also Dinge, die gerade in dieser Langsamkeit sichtbar werden, während im Radsport, wenn ein Peleton lange Zeit zusammen fährt, oft auch nichts passiert. Ich habe bei Lav Diaz oder Tsai Ming-liang, um deine Beispiele weiter zu bemühen, mich noch nie gefragt: Wann passiert wieder was? Wann ist der nächste Berg, das nächste Highlight? Während Radsport eben durchaus auf einem solchen Warten aufbaut. Mit den Kameras kann ich dem Fahrer ins Gesicht schauen und ich frage mich, ob er in guter Form ist, wenn ich ins Gesicht von Lee Kang-sheng blicke, dann geht das darüber hinaus. Vielleicht, weil ich Film mehr als Erfahrung sehe und Radsportübertragungen, dann trotz deiner richtigen Bemerkungen am Ende ein Ergebnis haben.

Rainer: Radsportergebnisse sind sehr offene Angelegenheiten. Das tatsächliche Ergebnis wird doch erst ein paar Jahre später, nach Öffnung der B-Proben ersichtlich. Achtung, das war ein Witz.

Patrick: Ja, da liegt auch etwas Interessantes drin. Nämlich die Frage nach Fiktionalisierung und dem Spannungsfeld zwischen Helden und Anti-Helden. Wenn wir Radsport hier wirklich als ästhetische Kategorie begreifen wollen, das über den bloßen Sport hinausgeht, dann ist diese Frage nach der Fiktionalisierung der gesehenen Leistungen durch eine Verfälschung ganz ähnlich zu der im Film, oder? Ist das, was wir da sehen echt? In diesem Sinn ist Radsport in einer Krise der Repräsentation.

Rainer: Uh, jetzt packen wir die großen Theorien aus. Der Unterschied ist wahrscheinlich, dass die Radfahrer am Ende des Tages in realiter auf den Berg rauf müssen, dabei echt schwitzen und echt leiden. Die Leistung wird also tatsächlich erbracht, das ist unumstößlich, zumal es heute, anders als in den Anfangszeiten des Sports nicht mehr möglich ist illegale Abkürzungen zu nehmen. Möglicherweise wird bloß in der Erbringung dieser Leistung mit unfairen Mitteln gespielt, die sie verfälschen. Das ist aber ein anderes Verfälschen, als das Spiel des Akteurs, der die Leiden mimt, oder die Verfälschung der Montage, die bloß bruchstückhaft den Aufstieg in die Berge filmt, später zusammensetzt und damit den Eindruck einer durchgehenden Fahrt entstehen lässt. Aber natürlich gibt es auch hier Überschneidungen. Es soll ja so manchen Sportler geben, der absichtlich sein Gesicht verzerrt um angeschlagen zu wirken um später zu attackieren, und mancher Schauspieler leidet tatsächlich beim Dreh, um einem Authentizitätsideal nachzukommen (das auf der Leinwand womöglich gar nicht von gespieltem Leid zu unterscheiden ist).

Patrick: Jetzt verwechselst du aber endgültig die TV-Übertragung und den Sport selbst. Ich habe ja vorausgestellt, dass wir dann Radsport als ästhetische Kategorie begreifen müssen. Und dann schaue ich mir das an und ich sehe das Bemühen von den Übertragungen die Berge möglichst steil wirken zu lassen, die Zuschauermengen möglichst groß, die Gesichter möglichst leidend. Wenn ein Profi damit spielen kann, um so spannender für die Ästhetik, oder? Und die Illegalität kommt vielleicht nicht durch Abkürzungen, aber sie kommt umso heftiger durch unerlaubte Hilfe, vielleicht unsichtbar. In diesem Zusammenhang war es natürlich unglaublich, dass US-Postal damals ihre Spritzen praktisch sichtbar vor allen im Teambus bekommen haben sollen. Das wäre dann vergleichbar mit der letzten Szene aus Taste of Cherry von Abbas Kiarostami. Das Fiktionale liegt praktisch vor uns, aber was machen wir jetzt mit dem, was wir vorher gesehen haben, dem was wir sehen wollten, bei dem wir vielleicht sogar gefühlt haben?

Rainer: Ich muss jetzt zurückrudern. Du hast Recht, dass diese Ungewissheit immer mitschwingt. Kiarostami ist da ein perfektes Beispiel – da fragt man sich auch, was daran nun echt ist und was gespielt und wer da vor und hinter der Kamera eigentlich wieviel weiß. Dieses Gefühl ist vergleichbar mit dem ständigen Hinterfragen der Legalität der Leistungen der Fahrer. Da attackiert Contador am Ende einer langen Etappe mit einer unfassbaren Explosivität und keiner kann ihm folgen, und man fragt sich wie das möglich ist, zumal Contador auch immer wieder mit Dopingvorwürfen in Verbindung gebracht wurde und ihm sogar schon Titel aberkannt wurden. Dann wissen wir, dass manche Teams ganz schamlos, nur wenige Meter vom Medienzirkus entfernt, ihre Spritzen verteilt haben. Nicht einmal die Allgegenwärtigkeit des Kameraauges reicht also mittlerweile aus, um diese Zweifel zu beseitigen.

Patrick: Genau. Und irritierenderweise führt das dann auch gleich wieder in einen Unterschied, der für mich so unglaublich erheblich ist in der Relation von Film und Radsport. Ich meine die Möglichkeiten von Naivität, Traum und Heldentum… Im Film und zwar gerade in dem, was man so unter Slow Cinema versteht (auch wenn ich den Begriff furchtbar finde, er umschließt aber halt Filmemacher wie Tsai Ming-liang, Lav Diaz, Ben Rivers oder Lisandro Alonso) verliere ich mich, es ist eine sinnliche Erfahrung, ein völliges hingeben, während mir diese Naivität im Radsport nicht mehr erlaubt ist. Ich kann mich den Bildern nicht einfach hingeben, keine Chance. Nun würden manche sagen, dass dies im Film auch nicht (mehr) geht. Sie haben vielleicht recht, vielleicht nicht. Es hängt wohl an persönlichen Haltungen oder Themen. Aber es gibt eine Hypnose im Film, von der man nicht fliehen muss. Im Radsport sollte man das vielleicht tun und vielleicht liegt darin der Tod des Sports, den Godard ja nicht umsonst spätestens mit Kiarostami für das Kino gesehen hat. Wenn man nicht mehr träumen kann, wenn es keine Helden mehr geben darf, wenn alles in seiner Repräsentation, in seiner Verlogenheit offen vor uns liegt, was können wir dann noch tun? Im Radsport gibt es da ganz ähnliche Authentizitätsbemühungen wie im Film. Herstellung von Glaubwürdigkeit. Aber ja, diese Glaubwürdigkeit wird im Film von großen Filmemachern heute auch durch einen Zweifel erreicht. So ist das eben bei Kiarostami. Bei ihm existieren, ganz wie Jean-Luc Nancy das geschrieben hat, Illusion und Zweifel gleichzeitig. Ich kann mich gerade deshalb hingeben, weil ich weiß, dass es konstruiert ist. Sein Close-Up ist ein Musterbeispiel diesbezüglich. Und ob sowas im Radsport möglich ist, weiß ich nicht, glaube ich nicht.

Interview Ben Russell : Having Profound Dreams

Auf dem Filmfestival in Rotterdam hatte Ioana Florescu die Gelegenheit, sich mit dem Filmemacher Ben Russell über dessen Greetings to the Ancestors zu unterhalten. Im Gespräch geht es vor allem um die Arbeitsweise des amerikanischen Künstlers zwischen der Substanz profunder Träume, der Kontrolle über den Stoff, das Suchen und Finden von Kollaborateuren, die Arbeit mit der Kamera und transparente Untertitel.

Ben Russell Greetings

Ben Russell

Ioana Florescu: I want to talk to you mainly about your film Greetings to the Ancestors (which competed in the Tiger Awards short film section and won). It is the third part of your trilogy called The Garden of Earthly Delights. Could you talk a bit about the idea behind this trilogy?

Ben Russell: The title is taken directly from the Hieronymus Bosch painting, which is a three panel painting made a very long time ago. It depicts Eden, heaven and hell and the style rendering is very Christian. It’s not very clear which is heaven and which is hell and where this things exist. So it seemed like a really good framework, like another level to think about these three films together, as all are attempts to produce some kind of earthly paradise or utopia in the contemporary moment. It functions as a loose structure. There is also a Stan Brakhage film called The Garden of Earthly Delights. That is also there a bit but it is not quite as strong an influence. The first film of the trilogy is Let us persevere in what we have resolved before we forget which is shot in Vanuatu and deals with cargo cult mythology but also has a bit of Samuel Beckett within it. And the second film is Atlantis, which is a kind of imagining of what Thomas More’s Utopia would be like if it were happening in the present. In fact, Atlantis deals with what the limits of utopia might be. The third section, Greetings to the Ancestors is a bit more directly spiritual and posits another kind of energy within the space of the film. That energy is maybe Christian, maybe non-Christian but definitely looks towards the invisible world, towards embodiment.

For Greetings to the Ancestors you had as a starting point stories about a substance that causes really profound dreams. How clear a concept did you have when starting to shoot? What is the proportion between working with what you found in that place and following your original plans?

Well, I think that it is pretty difficult to go to a place where you’ve never been with a very firm idea of what is going to transpire. So the structures that I set up beforehand are just guidelines for me to figure out where they might lead me. In the case of Greetings to the Ancestors, I initially had three things that I was after. Only one of them materialized but they all led me to other things. I had heard about this traditional healer who also ran a mortuary. He would wear a suit in the front to greet people and then in the back he would wear traditional clothes. So was  he going to be on both sides, in the traditional and the contemporary space. But he didn’t want to be filmed. That was one thread. Another one was the Silene Capensis, which is the root that produces these dreams, that was the thing that that I was searching out. I got in touch with an ethnobotanist in Johannesburg. He put me in touch with this healer which I never ended up meeting but I somehow met this other healer and the other people. So that was still there but I kind of hoped that I would find some Silene Capensis and have some really profound dreams for the time that I was travelling as well. Well, it’s not that easy. So yeah, the short answer is that there are things …they’re just like openings. The research also takes place in this space and it has a lot to do with seeing who is available and interested.

There are many dreams recounted in your film. Which was you criteria for the order in which you arranged them? How did you choose how they would connect to each other and how they should be presented?

I actually didn’t know what anybody was saying until I got back and had it all translated. I was not at all interested in the translation and the interpretation of dreams. I just wanted the people who had a profound experience to speak about that experience in the first person as much in the present tense as it could be. So that is what I asked each of this people to do. The woman who speaks at the beginning didn’t do that. She misunderstood, I think, or it was mistranslated. So she actually talks more about her origin as a single man. It is like a single radical surprise. It was sort of a gift to get that because it actually sets the frame for this other things that happen. I think the remarkable thing about being open to possibilities is that you can be really pleasantly surprised. Things happen, you know. They work out and they work out like…really profoundly.

Can you get back to something you talked about in your masterclass, to the camera? Why did you choose to use hand-held camera? And how does this choice influence the perspective of the film?

In some way it’s really practical just to go with the camera and not bring a tripod and to be able to have your own recording with you and to do everything yourself. If I had wanted or needed to have a tripod or a dolly I would simply have rented one. But it was with the hand-held camera that I envisioned being in this place and moving through there. So I would be the primary presence and the relationships that happens between myself and this people would be initiated and activated through me, through the camera, through this particular kind of agreements. For me the most striking image of the film is the first image of this woman, the first storyteller. I’m 6 foot 2, so I’m pretty tall, and with the camera I need to stand up straight, so I’m even taller and she probably came up to my chest. Which meant that when I was filming her, I was looking down on her. That creates a particular kind of power perspective. I think it is uncomfortable when it first happens in the film. When you first see it and you are not sure what the relationship is. I kept it in the film because when the woman turns and begins to speak or each time she actually turns and looks at the camera, where that power is located shifts. I think it is really important to have those moments take place where a theory is seeded. But for me it’s much more important to have my subjects do the things that they want to do and not the things that I want them to do, or rather to not have them do things. I don’t feel like cinema (or my cinema) is so important that it’s worth offending people or being an asshole. But it totally determines the way that I interact with people.

Greetings to the Ancestors3

You said you have the feeling that your camera creates discomfort. What is just as uncomfortable in your film is the use of sound, sound being also the main connection between this world and the world of dreams.

For me sound is at least fifty percent of the film. Often it is more important than the image because the image has so much authority when it presents itself, when you see it, that you do not really question what it is. But through sound the image can get undermined. So creating other sorts of sonic spaces that challange the way that you are able to watch an image is always very important for me. In case of the dreams depicted, in particular, sound moves everything away from this fairy tale space and more into a visceral space, a space that is somewhere between the screen and the audience.

Do the filters you use at times in the film, red plastic actually, also serve this purpose? Are they also meant to create or accentuate that space inbetween?

Yes. They are really clear interruptions. There’s a hand that’s moving in but in spite of our knowledge of what’s happened, that we know that there is a filter being put in front of the lens, the space changes with this red view in front of us. So it is a way of having a direct effect on the space, of allowing that space to oscilate between present, exterior, interior, to create more movement in an image that otherwise would be really fixed.

The subtitles you use look in a certain way. They are almost transparent at some times. It made me think that they are also a motif of this inbetweenness. They look like that in the other films of the trilogy as well and have an unusual function. Why did you decide to make them look like that?

With these three films it was kind of a strategy, it was a formal thing meant to link them together. But in the first two parts of the trilogy, the text is sometimes altered. In Atlantis there is a sequence where some men are singing and the text is not what they are saying but it appears to be it when they are saying it. It’s a mistranslation. It’s credited, at the end it says „subtitles from Thomas More’s Utopia”. So I think there are two intentions regarding the subtitles. Firstly a formal one. Secondly, subtitles are usually presented as evidence, so as an audience we never have any reason to question this. It’s there, it tells us what is being said, so we never think that there is some kind of manipulation happening. But when the text recedes, it becomes part of the image. Then, in the same way that we question what the image is doing, we also ask questions or think about what the text is doing. I feel like I’ve avoided using dialogue and text for a long time in my work, in part because that’s always where knowledge is located and so it supersedes everything else, it has a authority over image, it has authority over sound, it overdeclares what is happening. So for me using subtitles in this manner is a way to resist all that and to allow text to be image, to have you follow it hopefully the same way. So that you are aware that you are looking at it, you are aware that it is information, that it is this thing that is not trying to disappear, it’s there, it’s part of the film.

Greetings to the Ancestors

Greetings to the Ancestors was a commissioned work. How much freedom do you have when doing commissioned work?

I had a lot of freedom. I actually started doing the film before I got the commission. There aren’t many opportunities in the US for art making. There is not much funding available, there are not that many people supporting it. So it’s sort of a relief for Americans to find opportunities outside of the US to make this sort of work. This was an open call for submissions at the Berwick Film and Media Arts Festival. They asked for proposals that were related to a particular theme, they had a deadline and they had a certain amount of money that they would provide. They didn’t have any requirements beyond that, which is good. I made a music video once, though. That’s the furthest I’ve gone in terms of making films for people. It’s better for me to make things the way I think they should be made.

Are you working on a film with Ben Rivers again?

Yes, we probably won’t start shooting until the end of this year or the beginning of next year but it is something that we have been talking about for a while. It takes one of the characters from A spell to ward off the darkness and follows him on this sort of secular, spiritual pilgrimmage. It’s great to work with Ben, he’s like totally hilarious, great storyteller, big weirdo.

Viennale 2014: Dialog: Die Einsamkeit der Inspiration

Nachdem wir uns endlich in den gleichen Filmen wiederfanden, haben Rainer und ich unsere Tradition von der diesjährigen Diagonale fortgeführt und einen kurzen (diesmal wirklich) Dialog über die Filme des Tages geführt. Mit dabei: Sobre la marxa von Jordi Morató, National Gallery von Frederick Wiseman und ein 16mm-Programm.

Sobre la marxa Viennale 2014

Sobre la marxa von Jordi Morató

Patrick: Also wir haben ja gerade Sobre la Marxa gesehen. Ein Film über einen sehr beeindruckenden Mann. Für mich ein Film, der es mir erlaubt hat völlig naiv den unglaublichen Bauten und Aktionen dieses Dschungelmanns zu folgen. Eine Inspiration einfach…war das für dich ähnlich?

Rainer: Inspiration ist ein starkes Wort. Ich habe den Film sehr genossen, er hat den Festivalalltag entschleunigt und es hat Spaß gemacht diesem Mann zuzusehen. Auf der anderen Seite ist Sobre la Marxa wohl kaum ein Film ohne den die Menschheit nicht weiterbestehen kann.

Patrick: Inspiration meine ich tatsächlich im Hinblick auf die Figur des Mannes und nicht auf den Film selbst. Ein Spanier, der 45 Jahre lang seine eigene ungalubliche Stadt aus Holz und Steinen in einem Wald baute und dreimal alles wieder abreißen muss nur um es wieder aufzubauen. Für mich lag darin eine derartige Romantik und Tragik, eine solche Leidenschaft, die ich einfach nur als berührend empfand und seine Bauten waren zudem wundervoll. Ich finde es wichtig, dass man sowas auf Film festhält. Entschleunigt klingt interessant? Sind wir nicht kurz davor aus einem kontemplativen 16mm (Die Gegenwart des 16mm-Films) Programm gekommen?

Rainer: Ja, in Bezug auf den Mann (Garrell) gebe ich dir mit Sicherheit recht, auch wenn ich weder Ambitionen noch Hoffnung habe jemals eine eigene Stadt zu bauen. Ich finde es noch immer interessant, dass du dieses Programm als kontemplativ wahrgenommen hast – gut die Hälfte der Filme war dermaßen schnell, dass sie knapp an der Grenze zum Flickerfilm angesiedelt waren und nach Runa Islams This Much is Uncertain taten mir regelrecht die Augen weh. Alles in allem konnte ich diesem Programm leider nicht so viel abgewinnen wie du. Da war sehr vieles dabei, dass ich so, oder so ähnlich, bereits in besserer Ausführung gesehen habe.

Patrick: Es geht auch gar nicht darum, dass man eine Stadt bauen muss. Es ist ein Lebensmodell und es atmet eine Freiheit, die glaube ich für alle inspirierend sein kann. Und so ganz ohne war der Film dann in seinen Reflektionen über Fiktionalität und Realität, Feuer und Wasser und mit einem brennenden Teddybären auch nicht. Ich habe dieses Programm davor tatsächlich als Programm genossen und auch so wahrgenommen. Und in diesem Sinn war es für mich sehr kontemplativ vom Sonnenuntergang über den Nebel bei Ben Rivers bis zu abstrakten Hubschraubern. Ich finde, dass die Filme da ineinander geflossen sind und This Much is Uncertain habe ich tatsächlich ganz anders wahrgenommen was auch für den Film spricht. Ein Programm voller Einsamkeit. Ich hatte da immer das Gefühl, dass die Bilder in einsamen Momenten aufgenommen wurden. Das bringt mich wieder zurück zu unserem Helden Garrell aus Sobre la Marxa. Ist das für dich ein einsamer Mann?

The Coming Race Ben Rivers

The Coming Race von Ben Rivers

Rainer: Diese Frage ist für mich eigentlich nicht beantwortbar, denn wir sehen ja quasi nichts von ihm, außer seiner Filmchen und seine Arbeit im Wald. Aber selbst wenn das wirklich sein gesamtes Leben ist, also er ohne Familie und Freunde ein Eremitendasein fristet ist es zumindest ein erfülltes Leben – da fällt dann die Einsamkeit auch nicht mehr so stark ins Gewicht. Aber das ist alles Spekulation. „Ein Programm voller Einsamkeit“ – ein spannender Ansatz, für mich war es eher ein Programm des Tonalen – das begann mit der Stille in Tacita Deans The Green Ray und endete im visualisierten Helikoptergeräusch bei Rouard. Da fehlt mir der mythisch-romantische Zugang, wie du ihn wählst, ein bisschen in meinem Wesen – da bin ich zu sehr Kopfmensch. Denkst du ist Frederick Wiseman auch ein Kopfmensch?

Patrick: Ich denke, dass Wiseman-und das zeigt auch sein National Gallery-vor allem ein geduldiger Mensch ist, ein Beobachter und Arbeiter. Aber da ist ja etwas, das Sobre la Marxa und National Gallery verbindet. Man sieht niemanden zuhause. Die Menschen in ihrer Arbeit, Kunst und Leidenschaft. Für mich ist es immer einsam, wenn mögliche Näheverhältnisse eine Sache des hors champs sind. Und das spiegelt wiederum die Festivalerfahrung an sich, denn man ist ja zumeist außer Haus, alleine mit sich und der Kunst. Da kann man noch so viel drüber sprechen.

Rainer: Das klingt ja ziemlich suizidal… Ich finde Festivals ganz und gar nicht einsam. Da ist man doch ständig unter Leuten und in Gesellschaft toller Filme. Was wäre wohl aus Sobre la Marxa geworden, wenn Wiseman den gedreht hätte? Wäre er dann durch Garrells Konstruktionen gewandert und hätte jeden Winkel erforscht? Oder ebenfalls wie Jordi Morató auf das Material aus früheren Jahren zurückgegriffen?

Patrick: Ich glaube, dass mir im Kino die Einsamkeit fehlt. Ich vermisse die Anonymität, die Unsichtbarkeit, da ich inzwischen zu viele Gesichter hier kenne. Aber ja, vielleicht hat das auch was Schönes. Mit der Einsamkeit eines Festivals meine ich aber dann doch die kurzen Begegnungen, die nie mit den Stunden, die man im Kino erlebte mithalten können und mir daher sehr oberflächlich erscheinen. So oder so kommt es mir einsam vor. Wiseman hätte diesen Film nicht gedreht. Aber fandest du die Found Footage Sache schlecht bei Morató?

Rainer: Zwischenzeitlich hatte das schon seine Längen… Also zum Beispiel diese Tarzan-Ausschnitte in dieser Ausführlichkeit zu zeigen, noch dazu mit wenig Erklärung vorne weg, war schon etwas gewöhnungsbedürftig. Ich finde das waren die schwächsten Momente des Films, da man die Analogie zwischen seiner Tarzan-Persönlichkeit auf der Flucht vor der Zivilisation und seinem Kampf gegen die Vandalen, die seine Bauten beschädigen auch in kürzerer Zeit aufbauen hätte können. Da braucht es keine endlosen, primitiven Videoaufnahmen, wo er in Lendenschurz auf Bäumen klettert.

Patrick: Das war wohl der absurde Trashfaktor. Sehe das ähnlich, aber für mich hat sich retrospektiv dadurch ein schöner Wandel in meiner Wahrnehmung von Garrell ergeben, weil er mir zunächst wie ein Nerd vorkam und am Ende wie ein Genie.