Die Haut und der Andere: Under the Skin von Jonathan Glazer

Der Filmtitel Under the Skin ist ein Versprechen. Denn, was uns unter die Haut geht, dass berührt uns im besonderen Maße. Der Titel verspricht ein körperliches Erleben: Angst, Erotik oder Mitgefühl. Aber was unter der Haut ist, das ist auch unbekannt, fremd, manchmal ekelerregend. Die Haut ist eine Grenze und ein Kontakt. Sie ist immer zugleich die Flucht des Menschen aus seiner Einsamkeit und der Schutz dieser Einsamkeit. Wenn nichts mehr funktioniert, dann zieht man sich in sich selbst zurück. Damit legt Regisseur Jonathan Glazer bereits in seinen Titel das ganze Drama, das sich für seine Protagonistin, den Alien Laura vollzieht. Was bedeutet es Mensch zu sein? Was bedeutet es fremd zu sein? Ist das genuin Menschliche gar unsichtbar, unter der Haut, ist es vielleicht nicht so schön wie die gestylten und geglätteten Oberflächen des Alltags es vermuten lassen?  In tranceartigen Bewegungen durchlöchert der Film die Grenzen zwischen Versuchung und Abneigung, Geborgenheit und Angst, Gewalt und Sex, Schönheit und Hässlichkeit. Irgendwann ist es nicht mehr der Alien, der fremd ist, sondern der Film selbst. Under the Skin lässt einen sein eigenes entfremdetes Dasein empfinden und führt die unbeirrbare Einsamkeit vor Augen.

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Elliptisch wird von einer sexuell aufgeladenen Alieninvasion erzählt. Der von Scarlett Johansson im wahrsten Sinne des Wortes verkörperte Alien, der die Gestalt einer Frau angenommen hat, fährt mit einem großen Van durch schottische Arbeiterviertel und nimmt Männer mit. Sie scheint dem Willen eines stummen Mannes zu gehorchen, der als Cleaner mit dem Motorrad hinter ihr herfährt. Mit zunehmender Übung gelingt es ihr, die Männer zu verführen. Wie hypnotisiert folgen ihr die rauen Kerle in eine dunkle, herunterkommende Wohnung, in der sich der Alien – jedes Mal begleitet von der gleichen Musik – entkleidet. Die Männer tun es ihr gleich, ziehen sich auch nach und nach aus. Sie bemerken nicht wie sie ganz langsam im Boden versinken; nackt und sichtbar erregt fallen sie in ein schwarzes Loch und verschwinden. Warum dies geschieht, spielt keine Rolle. Der Alien zieht sich wieder an und macht sich auf die Suche nach dem nächsten Opfer. In der Zwischenzeit platzen die Körper der Männer. Körper, die durch das Schwarz der Leinwand schweben. Doch der Alien beginnt langsam, Neugier am Menschsein zu entwickeln. Immer häufiger betrachtet sie sich selbst im Spiegel, sie versucht etwas zu Essen, versucht zu verstehen. Auslösendes Ereignis für diesen Wandel könnte die Begegnung mit einem, an einer vererbbaren Hautkrankheit leidenden Mann sein. Sie nimmt ihn mit wie die anderen Männer zuvor und bemerkt erst dann dessen entstelltes Gesicht. Dennoch verführt sie den Mann. Wiederholt sagt sie ihm, dass er schöne Hände habe. Sie nimmt seine Hände und greift damit an ihren Nacken. Allerdings lässt sie ihn entkommen und flieht dann selbst. Ihr Partner auf dem Motorrad sammelt erst den entstellten Mann ein und macht sich dann auf die Suche nach dem Alien.  Laura hat inzwischen Unterschlupf bei einem herzenswarmen Mann gefunden. Dieser führt sie in eine familiäre Stimmung jenseits der kalten Arbeiterstraßen der ersten Hälfte des Films. Er macht ihr einen heißen Tee und hört Popmusik beim Abspülen. Nach einem romantischen Tag auf dem Land haben die beiden Sex. Während ihrer Entjungferung bekommt der Alien Panik. Sie untersucht ihr Geschlecht und flüchtet in die Nacht. Sie gelangt in einen Wald. Dort trifft sie auf einen einsamen Arbeiter. Sie geht weiter und findet eine leer stehende Hütte. Sie schläft ein. Als sie erwacht, vergreift sich der Arbeiter an ihr. Sie versucht zu flüchten, doch es gelingt ihr nicht. Im Kampf reißt der Mann dem Alien ein Stück der künstlichen Haut vom Rücken. Geschockt flüchtet er. Der Alien nimmt seine Oberfläche von sich und entblößt seine wahre Gestalt, die sich unter der menschlichen Haut verborgen hat. Der Arbeiter kommt zurück und überschüttet das fremde Wesen mit Öl. Er zündet es an. Der Alien verbrennt, der Mann auf dem Motorrad kommt zu spät.

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Schon mit seinen ersten beiden Langfilmen Sexy Beast und Birth hat Glazer, der unter anderem für Massive Attack und Radiohead Musikvideos drehte, eine ganz eigenwillige, filmische Sprache entwickelt, die man als „Cinematic Strangeness“ bezeichnen könnte. Er benutzt die filmische Sprache, um ein Gefühl von Andersartigkeit zu erzeugen, eine Entfremdung, die sich als Hypnose und Choreografie gleichzeitig dem Fremden hingibt und es ausschließt. Dabei geht es ihm weder um die vom Kino so gerne strapazierte Identifikation mit dem Monströsen (man denke an Hannibal Lecter oder Monsieur Verdoux), noch um eine nach Toleranz hechelnde Aussage à la „Das sind wir-wir sind alle gleich“, sonder vielmehr um die existentialistische Frage: „Was bin ich?“. Zunächst bedient sich Glazer in Under the Skin dafür einiger stilistischer Methoden, die Alterität als eine Empfindung jenseits intellektueller Ideen manifestiert. Augenfällig erscheint der häufige Einsatz von atemberaubenden Landschaftsbildern in totalen Einstellungen. Dabei wiederholen sich Formen und Farben, die man zuvor schon gesehen hat wie beispielsweise ein Dreieck der Dunkelheit zwischen zwei Berggipfeln, das zuvor in seinen Bildern aus dem Weltraum erkennbar war. Er versetzt den Zuseher in ein schweigendes Starren, ob dieser Bilder, die unwirklich wirken und kaum bewegt. In dieser Starre liegt ein Widerspruch zum Wesen des Bewegtbildes. Man merkt: Etwas stimmt nicht. Nebelschwaden, rauschendes Wasser und Dunkelheit gewinnen Überhand. Es war Camus, der in Der Fremde, ob eines solches Bildes geschrieben hat:  Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich ein wie eine Flut. Geometrische Tableaus bestimmen die Bildsprache von Under the Skin. Glazer hat sich genau Gedanken über Dunkelheit/Licht oder Formen gemacht. Schon in seiner ersten Einstellung kommt ganz langsam ein weißes Licht, das zunächst nur ein Punkt ist, auf uns zu. Immer wieder kreuzen Figuren horizontal oder vertikal das Bild. Der Bildkader verstärkt die Fremdheit, statt sie nur einzugrenzen.

Auffallend sind auch die weitwinkligen Einstellungen aus unterschiedlichen statischen Perspektiven von Laura am Steuer des Vans. Diese kommen auch deshalb zu Stande, weil Glazer manche der Begegnungen des Aliens mit den Männern mit versteckter Kamera festhielt. Durch dieses Vorgehen entstehen Momente des Unerwarteten, des Anderen und zudem wirken die dafür notwendigen Kameraperspektiven eigenwillig und fremdartig. Gewissermaßen liefert sich die filmische Präzision von Glazer hier dem Unbekannten aus, zugleich Versuchung und Tod des narrativen Filmschaffens. Die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung geraten ins Wanken. Man fährt mit dem als Frau auftretenden Wesen durch Schottland und fragt sich: Was passiert hier? Dabei ist ausgerechnet die bekannteste Darstellerin im Film der Fixpunkt des Fremden. Mit dem Casting von Scarlett Johansson beginnen die Grenzen zwischen dem Ich in meinem Kinosessel und dem Anderen auf der Leinwand zu verschwimmen. Die Idee, die hinter dem Starsystem der amerikanischen Traumfabrik steht, ist leicht vereinfacht auf den Punkt zu bringen: Eine Schauspielerin, die Zuseher bereits aus anderen Rollen kennen und über deren Privatleben sie Bescheid wissen, fungiert leichter als Identifikationsfigur (Kassenmagnet) als eine unbekannte Darstellerin. Scarlett Johansson ist ein solcher Star, aber in Under the Skin verschließt sie sich vor uns. Ist ihre Haut, ihre weltberühmte Oberfläche gar nur eine Täuschung? Der Film ließe sich als kritischer Kommentar auf das Starsystem verstehen. Statt Identifikation steht dann nur noch ein Fragezeichen auf der Leinwand. Wenn Identifikation bedeutet, dass man sich selbst auf der Leinwand sieht, was sieht man dann wenn das Identifikationsobjekt ein fremdes Wesen ist? Verstärkt wird dieses Gefühl der Entfremdung dadurch, dass der Film immer wieder durch die Augen der Figur auf die Umwelt schaut. Man bemerkt kleine Details wie das rhythmische Wippen des Mannes beim Abspülen oder betrachtet überfordert verzehrte männliche Fratzen hinter den Scheiben des Vans. „People are strange when you’re a stranger. Faces look ugly when you’re alone.”, hört man da fast Jim Morrison leiden und es wird langsam klar, dass das Andere immer bedrohlich scheint. Sobald wir im Film die Perspektive des Außenseiters einnehmen (und das machen wir oft), erscheint uns das „Normale“ falsch, monströs und gefährlich. Wir beginnen uns unserer Einsamkeit immer dann bewusst zu werden im Kino, wenn wir uns mit der einsamen Person identifizieren, wenn wir ihren Blick auf die Welt teilen, entfremdet und verloren. Wie sehen wir Menschen wohl aus Sicht eines Aliens aus, wie verhalten sich Männer im Angesicht der Oberfläche einer Frau? The Devil in Disguise, verlockendes Monster. Wenn wir schon bei der Musik sind, sollten wir uns auch mit dem verfremdenden und doch illusionären Einsatz von Musik in Under the Skin beschäftigen. Der tranceartige Elektrosound von Mikachu ist eigentlich klassisch nach Motiven aufgebaut. Aber immer wieder donnert er durch die Bilder hindurch, transzendiert sie oder bricht sie. Ein Beispiel findet sich als der mysteriöse Mann mit dem Motorrad den entstellten Mann, der nackt durch hohes Gras huscht, einsammelt. Die plötzliche Aggression in der Musik verstört und macht die Fremdartigkeit des Geschehens emotional greifbar.

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Ein weiterer fast komödiantischer Kniff findet sich in der Verwendung von Sprache im Film. Fast alle Männer sprechen mit extremem schottischem Akzent. Dieser ist wohl nur für Schotten tatsächlich verständlich und so findet man sich häufig in einer ähnlichen Situation wie Laura. Man lauscht verwundert den Lauten und Tönen aus den kantigen Mündern und versucht zu verstehen, was gemeint sein könnte. Der Sozialrealismus wirkt dabei verunsichernd. Warum verstehen wir die Menschen nicht und den Alien schon? Insgesamt wird sehr wenig gesprochen. Statt einer Eindeutigkeit der Sprache verschreibt sich Under the Skin der Ambivalenz und Ungreifbarkeit von Bildern. Die Erfahrungen von Laura in fremden, oft bedrohlichen Situationen sind Erfahrungen, in der zwei Welten aufeinander treffen. Allerdings weiß eine Welt das nicht. Es ist ein Spiel, ein sich Ausprobieren im Anderen, das immer wieder in brutaler Gewalt endet. Da man nichts oder wenig versteht, wird der Fokus auf die Körpersprache gelegt. Dies wird durch die Verweigerung einer klar nachvollziehbaren Handlung oder gar Psychologisierung der Figuren noch verstärkt. Der Körper rückt ins Zentrum des Geschehens, der Körper gewinnt an Aufmerksamkeit. Aber auch ihn können wir nicht ganz greifen, auch mit ihm stimmt etwas nicht. Der Body-Horror in Under the Skin bewirkt eine Verunsicherung gegenüber dem eigenen Körper. Die platzenden Körper unter Wasser, zu Grimassen verzogene Fratzen, das nüchterne Ausstellen menschlicher Nacktheit, Körper, die sich im Schwarz der Leinwand auflösen. Es ist offensichtlich und wichtig, dass erregte Geschlechter genauso ins Bild gesetzt werden wie die Betrachtung der eigenen Oberfläche im Spiegel. Es ist der Versuch, den Körper und damit den Menschen zu verstehen. Der Existentialismus in Under the Skin braucht einen Spiegel, um nichts zu sehen. Laura existiert nicht so, wie sie aussieht.

Aber ihr Aussehen verführt sie selbst. Sie möchte so sein, wie sie auf andere wirkt. In Zeiten der Online-Selbstdarstellung-Welten, in denen wir ein fremdes Ich als Wunschbild unserer Existenz aufbauen, ist ihr Verlangen nach dem Realwerden ihres äußeren Wunschbilds nur allzu nachvollziehbar. Sie will das Monster, das unter ihrer Haut lebt nicht wahrhaben, sie will es loswerden. Ihre Haut ist dann kein Gefängnis, sondern eine Flucht, trügerisch und hoffnungslos. Die Oberfläche als kulturell definiertes Konstrukt: Durch den Körper wird Laura akzeptiert und vor allem begehrt. Kein Wunder, dass die Begegnung mit dem entstellten Mann etwas in ihr auslöst, denn ihm ist das Glück der Akzeptanz und des Begehrens nicht möglich in einer Gesellschaft der Fremden, die ihre Einsamkeit loswerden wollen. Der Film selbst gibt sich diesen Wünschen hin, bewegt sich über seine eigene Oberfläche als eine beständige Trancemelodie der Schönheit. Die Schönheit der deformierten Körper erinnert an Auguste Rodins Skulpturen oder die Gemälde von Francis Bacon.  Der Filmemacher Bruno Dumont hat viel gesagt über die Wichtigkeit von Deformation in der Kunst: Man nimmt einen naturalistischen Gegenstand/Schauspieler, setzt ihn in ein naturalistisches Setting und sorgt dann für kleinere oder größere Deformierungen. Somit wird die menschliche Existenz hinterfragt oder die Natur als ganze und der Zuseher kommt in einen Denkprozess. Dumont sagt, dass er dafür an die Grenzen gehen muss als Filmemacher. Und um an die Grenzen zu gehen, müsse man immer etwas darüber hinausgehen. In der Dokumentation Das Schöne ist mein Dämon beschreibt Dumont exemplarisch eine Szene und wie er dort eine subtile Deformation herstellen konnte. Es geht um die Szene in seinem L’humanité, in der der Protagonist ein Paar beim Sex auf dem Boden beobachtet. Um einen deformierten oder nennen wir es entfremdeten Ausdruck zu bekommen, hat Dumont den Schauspieler nicht ein Pärchen auf dem Boden beobachten lassen, er hat dem Schauspieler auch nicht gesagt, dass er sich ein Pärchen auf dem Boden vorstellen soll, sondern er hat seine eigene Hand auf den Boden gelegt und gesagt: „Schau meine Hand an.“; die Reaktion ist selbstverständlich unerwartet und deformiert. Ein Prozess beginnt, wenn man nun die Reaktion des Mannes auf das Pärchen im Film sieht. Etwas stimmt nicht, aber man kann es nicht greifen. Und genau dann wird das Kino selbst zur Fremdheitserfahrung wie in Under the Skin. Am Ende stellt man sich dann die Frage: Was ist ein Mensch? Ein Alien? Ihr fremder, monströser Körper überlebt nur wenige Augenblicke in der fremden Welt. Er verbrennt und die Kamera folgt den zum Himmel steigenden Rauchschwaden. Liegt dort nochmal eine tiefere Schicht? Eine Seele, die sich unter der Alien-Haut befindet? Oder ist dort Nichts, nur der materielle Überrest eines Körpers, der genau so viel bedeutet wie er zeigt: Rauch.

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Unter ihrer Haut ist dieser Alien fremd auf der Erde. Und damit geht es ihr genau wie uns. Der französisch-litauische Philosoph Emmanuel Levinas bemerkte in Die Zeit und der Andere: „Durch das Sehen, durch das Berühren, durch die Sympathie, durch die Arbeit im allgemeinen sind wir mit den anderen. Alle diese Beziehungen sind transitiv; ich berühre einen Gegenstand, ich sehe den Anderen. Aber ich bin nicht der Andere. Ich bin völlig allein.“ Die Existenz alleine würde das Allein-Sein konstituieren. In Under the Skin ist der Alien immer alleine, immer fremd. Er kann nie das Andere sein, selbst wenn er genauso aussieht, selbst wenn er Bewegungen, Verhaltensweisen und Stoffwechselpraktiken übernimmt. Er wird immer als Alien existieren unter der Haut, als Monster, das in uns allen lebt. Und dort ist man immer einsam. Dasselbe gilt für die Kinoerfahrung, die man mit Levinas und Under the Skin auch als eine Erfahrung der eigenen Einsamkeit verstehen kann. Der Philosoph bemerkt die Nähe von Einsamkeit und Zeit. Zeit fungiert als Motor des Kinos. Nun mag man entgegenhalten, dass die Kinosituation nie einsam sein kann, sondern eher einem kollektiven Erlebnis, ja Gemeinschaftsritual gleicht. Aber Levinas versteht Einsamkeit nicht als Gegenpol von Kollektivität, sondern schlicht als Wesen der Existenz. Etwas findet unter unserer Haut statt jenseits aller anderen Zuseher selbst wenn sie uns noch so nahestehen. Glazer verstärkt diesen Eindruck gar durch seine deformierende Bildsprache, seine körperlichen Schocks und seine Tabubrüche, die Grenzen des Darstellbaren ausloten.  Denn dort wo Haut, also der Tastsinn im Film eigentlich nicht bedient wird, kann etwas, dass uns unter der Haut, in unserer eigenen Einsamkeit trifft doch genau eine solche körperliche Reaktion hervorrufen: Gänsehaut.

Stop being in motion (pictures): 1999, baby

Es ist nicht wirklich möglich, über ein Kinojahr zu schreiben. Zu viele Faktoren spielen vor allem bei rückwirkender Betrachtung eine maßgebliche Rolle: Produktionsumstände, gesellschaftliche Strömungen, Kinobewegungen, Laufbahnen individueller Künstler, die eigene Wahrnehmung des Kinos zu jener Zeit und/oder zur Zeit des Betrachtens, Festivalpolitiken, Hollywoodpraktiken, Förderpolitiken, politische Ereignisse und Zufälle. Ein Jahr, das aber immer wieder in den Fokus rückt, ist 1999. Zum einen ist 1999 ein Jahr, indem es eine Art Realismus-Revolution im Kino gab. Hervorgehoben wird vielerorts das Filmfestival in Cannes, das im letzten Jahr des vergangenen Jahrtausends mit „Rosetta“ von Luc&Jean-Pierre Dardenne und „L’humantité“ von Bruno Dumont zwei Filme mit Preisen bedachte, die eine neue Alltäglichkeit, einen ehrlichen Schmutz des Lebens ins Kino warfen und somit in vielerlei Hinsicht einen filmpolitischen Ausruf tätigten. Zum anderen war 1999 ein Jahr der innovativen und frechen Filme aus den Vereinigten Staaten. Man sprach und spricht viel von einer eigenwilligen Suche nach neuen Möglichkeiten des narrativen Kinos, die aus verschiedensten Gründen 1999 ausgelotet wurde. Neben „Fight Club“ von David Fincher sind auch „Magnolia“ von Paul Thomas Anderson, „The Matrix“ von den Wachowski-Brüdern, „The Blair Witch Project“ von Eduardo Sánchez und Daniel Myrick oder „American Beauty“ von Sam Mendes zu nennen. Vielleicht prägt dieses Jahr auch den heutigen Film noch mehr als man glauben würde.

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Was allerdings kaum beachtet wird, ist das 1999 ein Jahr markierte, in dem viele Filme mitsamt ihrer Protagonisten die Sehnsucht entwickelten aus sich selbst, aus diesen immer gleichen Bewegungen auszusteigen. Die Figuren wollen der Gesellschaft, ihrem Leben und vor allem ihrer Aufgabe im Film entkommen. Es ist wie ein Anhalten und sich bewusst werden, dass man nichts ist außer einer Figur in einem Film. Und auch die Filme selbst haben einen Spiegel gefunden: Wir sind nur Filme und wir sind vor allem Filme. Wenn man ganz ehrlich ist, findet man für fast jeden Jahrgang genug Filme, um diesen Text zu schreiben. Bemerkenswert am Jahr 1999 ist jedoch, dass die filmische Form und die Prinzipien des Erzählkinos sich mit ihre Charakteren und diegetischen Welten beginnen aufzulösen.Zudem wird 1999 bezüglich dieser Bewusstwerdung eines filmischen Gefängnisses nicht unterschieden zwischen Industrie- und Kunstfilm. Die Filme wollen immer wieder aus ihrer Form ausbrechen, sie bezweifeln ihre eigene Realität und Logik, sie wiederholen ihre Bewegungen bis sie erschöpft zusammenbrechen und einfrieren, statt immerzu ihren narrativen Destinationen zu folgen. Lyrische, körperliche, zweifelnde Momente dringen so in Filme, die am Ende meist ihre eigene Machtlosigkeit erkennen müssen.

So beginnen die Charaktere in „Magnolia“, plötzlich zu singen. „Wise Up“ von Aimee Man:

It’s not what you thought
When you first began it.
You got, what you want
You can hardly stand it though
By now you know

It’s not going to stop
It’s not going to stop
It’s not going to stop
Till you wise up

Ein Lächeln in die Kamera am Ende des Films, lässt uns erkennen, dass wir erkannt wurden. Die Figuren wollen aussteigen, sie wollen ihren Fight Club gründen, in andere Welten reisen oder entwickeln ein sexuelles Parallelleben, der anhaltenden Versuchungen wie in Stanley Kubricks letztem Film „Eyes Wide Shut“. Sie verlassen ihre eigentliche Berufung, um ihre wahre Bedeutung zu finden wie in Michael Manns „The Insider“. Dabei ist ihr Eskapismus weder real noch realistisch. Ihre einzige Rettung sind die Filme selbst, die sie vielleicht, vielleicht auch nicht am Ende befreien während sie uns zuzwinkern und sagen, dass alles nur ein Film ist.. Werner Herzog könnte ein solcher zwinkender Mann sein. In Harmony Korines „Julien Donkey-Boy“ beschwert er sich bei seinem Sohn über diesen ganzen „artsy-fartsy bullshit“, ihn würden handfestere Dinge wie beispielsweise Dirty Harry interessieren. Ja, Werner Herzog, der im selben Jahr die Exzentrik seines Klaus Kinski in „Mein liebster Feind“ ausstellte. Doch „Julien Donkey-Boy“ ist wie meist bei Korine schon in sich selbst ein Eskapismus. Eine Flucht aus der gängigen Ästhetik (die er hier in den Dogmaregeln findet) und eine offene Thematisierung der Schizophrenie, die sich in der Form des Films, einem undeutlichen Farbenmeer wiederfindet. Ein plötzlicher Froschregen muss möglich sein, Rosenblätter aus dem schwarzen Nichts und kopflose Reiter. Wohin man blickt, sieht man Dinge, die man nie gesehen hat.

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1999 ist auch ein Jahr der Repräsentationskrise. Wie filmt man Hitler? Das hat sich auch Alexander Sokurov in seinem „Moloch“ gefragt. Ein Film, der diese repräsentativ schwerbeladene Figur natürlich in einen Fluchtpunkt setzt, weit weg von dem, was wir glauben zu kennen, immer anders als wir erwarten und vor allem absurd. Die Figur selbst ist auf der Flucht vor dem Alltag. Urlaub, um sich von den Kriegsstrapazen zu erholen. Es wird klar, dass 1999 nicht unbedingt dabei hilft die Grenzen zwischen Darstellung und Realität zu definieren, viel eher verschwimmen sie in den milchigen Bildern von Sokurov oder den körnigen Landschaften in Nuri Bilge Ceylans „Clouds of May“ und den Meta-Körperauflösungen von David Cronenberg in „eXistenZ“. Was ist Film und was nicht? Wann ist es ernst und wann nicht? Was ist wahr und was nicht? It’s not what you thought when you first began it…ähnlich ergeht es einem auch im Schlussdrittell von Takashi Miikes Folter-Pleaser “Audition”. Hier werden auch Rollenmuster umgedreht, denn wenn Hitler ein Mensch sein kann, dann können, die Dinge die du besitzt auch beginnen, dich zu besitzen, ja dann werden Frauen Männer foltern und Krieg wird zur Poesie wie sowohl in Terrence Malicks „The Thin Red Line“, der zwar von 1998 ist, aber 1999 in Berlin den Goldenen Bären gewann und in „Beau travail“ von Claire Denis. Auch diese beiden Filme sind voller Eskapismus. Figuren, die ihre Aufgabe in einer kaputten Welt nicht mehr verstehen, Figuren, die sich weigern eine Maschine zu sein. Wohin kann man flüchten?

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Die Lösung findet sich in den Filmen. So endet „Beau travail“ mit einem Tanz, der alles wegwirft, das Leben und den Tod, den Film und die Liebe und genau damit alles rettet. In „Fight Club“ bewegt sich der Tod gar rückwärts und alles explodiert, „Where is my mind?“ und wohin schauen wir? „Fuck“, ist das letzte Wort in einem Film von Stanley Kubrick und er meint es nicht als Fluch, sondern als Bedürfnis. Bei Woody Allen werden 1999 Ratten geschossen in „Sweet&Lowdown“ und im betrachten von Zügen liegt eine Flucht aus dem zweitbesten Leben des zweitbesten Gitarristen der Welt. In „Bleeder“ von Nicolas Winding Refn wird die Filmgeschichte wortwörtlich in Namen durchdekliniert, als wolle man durch das Nennen von Namen einen inneren Rausch befriedigen, der immer nur der absolute Rausch einer Flucht ist, einer Flucht in viele unterschiedliche Dinge, die immer nur wieder zurück auf die Ursprungsfrage gehen: Wie komme ich aus diesem Film raus? Gewissermaßen ist dieser Text eine derartige Szene aus diesem Film. Was diese Filme eint, ist eine kurzzeitige Flucht, ein Schimmer der Hoffnung, sei es durch den Tod, die Liebe oder Gewalt. Wir können einfach aufhören, wenn der Film aufhört. Aber so einfach ist das nicht. Denn gleichzeitig sind sich diese Filme ihres eigenen Gefängnisses bewusst. Wenig Glück hat da die titelgebende „Rosetta“ bei den Dardennes. Ihre Fluchtversuche sind ein stetes Anrennen gegen eine Wand, ein Sprint über einen erdrückenden Acker wie bei Bruno Dumont, die Kamera, die sich auf sich selbst dreht wie in „Clouds of May“ und das Stück, dass sich mit der melodramatischen Realität verzweigt wie in „Todo sobre mi madre“ von Pedro Almodóvar. 1999 ist ein Jahr, in dem sich die Filme selbst umbringen wollen und mit ihm die Figuren.

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Niemand kann je die Tränen von Julianne Morre in „Magnolia“ vergessen, das Geräusch von Gas in „Rosetta“, den Sprung ins Wasser in „Ratcatcher“ von Lynne Ramsay… „The Virgin Suicides“, Slow-Motion Beauty-Deaths in 1999, baby. Die Kameras gehen aus, irgendjemand bringt einen letzten Kasten Drehschlussbier. Alle sitzen schweigend, denn keiner glaubt mehr an das, was er gemacht hat. Ein paar zynische Witze werden gemacht, es gibt keine Dispos für irgendeinen nächsten Tag, nur die Heimreise wird noch organisiert. Aber keiner weiß, wohin zu fahren. Irgendwann ist Winter und die Kamera steht im Eis, die Menschen haben sich vielleicht gerettet. In Abbas Kiarostamis „The Wind Will Carry Us“ ist es ein Warten auf den Tod. Die immer gleichen Wege, das Nachdenken über das Gute und Böse und die Absurdität der kleinen Momente, die einen am Leben oder in Bewegung halten. Bei jedem Anruf muss der Protagonist mit seinem Auto auf einen Hügel fahren, um Empfang zu haben. Einmal dreht er dort eine Schildkröte auf den Rücken als wolle er wenigsten in ihr den Tod finden, den er so sehr in einer anderen Person sucht. Aber als er schon lange gefahren ist, dreht sich die Schildkröte wieder um. Sie bleibt noch etwas im Gefängnis. Dies ist einer der schockierenden Momente des Kinojahres 1999. So viele Selbstmordversuche misslingen. Der Tod wäre eine Befreiung wie dieses Bild von Edward Norton im kollidierenden Flugzeug…der Heroinrausch von Xaver Beauvois in „Le vent de la nuit“ von Philippe Garrel, der auch mit Selbstmord (wie so oft) in Berührung kommen wird. Dabei geht es aber nicht um fatale Romantik oder eine Ausweglosigkeit, sondern um den tatsächlichen Eskapismus aus dem Film, die einzige Chance, der Bewegung zu entgehen. Düstere Wolken voller schöner Farben, die über die Leinwände spritzen wie Funken einer tatsächlich von der Zeit geprägten Kinosprache. Ich werde nicht die Frage stellen, warum man diese Farben heute nicht mehr so sieht wie vor 15 Jahren, weil ich glaube, dass man sie tatsächlich noch immer sieht. Das Spezielle an 1999 ist, dass sich das industrielle Kino und das Kunstkino vereinen, um zu flüchten. In „Pola X“ von Leos Carax führt diese Flucht in die größtmögliche Dunkelheit, die schön und unmöglich bleibt, ein Fluss aus Blut, der magisch und tödlich ist, nicht erlaubte Versuchung, eine neue Wand. In „The Talented Mr Ripley“ führt sie in das Licht Italiens und schließlich auch in die Dunkelheit. Sie erzählen von Menschen, die nicht mehr in ihrer Haut sein wollen, die nicht mehr sie selbst sein können. Selbst Filme wie „Toy Story 2“, „The Cider House Rules“ oder „The Green Mile“ schicken ihre Protagonisten auf Selbstfindungstrips ins Nichts. Vielleicht hat ausgerechnet M. Night Shyamalan mit „The Sixth Sense“ den Nerv dieser Zeit getroffen, weil er klarmachte, dass das Nichts womöglich sogar etwas ist, was wir von uns selbst nicht denken. Unsere Wahrnehmung gerät ins Wanken und wir sehen Gestalten in der Dunkelheit, die scheinbar atmen, scheinbar blicken, scheinbar lieben, aber vielleicht auch nur eine Fortsetzung der schwarzen Umgebung sind oder ein imaginierter Fleck auf einer Leinwand am Ende des Jahrtausends.

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Diese Dunkelheit findet sich in den schlaflosen Nächten 1999. Als wäre man in der Nacht weiter weg, als könne man nachts wirklich flüchten. Die Nacht erzählt dieselbe Lüge wie das Kino…nur kälter. In „Bringing out the dead“ von Martin Scorsese wird sie zum Rauschzustand, ähnlich in „Eyes Wide Shut“ (eine Verkleidung, Masken, ein Tanz der anonymen Erregung) oder „Fight Club“. Der Wind in der Nacht ist ein Wind des Kinos. Die Tränen bemitleiden sich selbst, wenn sie niemand sehen kann, das Lächeln kann nur noch für eine Sekunde von der Kamera erhascht werden, ein leises Flüstern statt Gesang, ein letzter Blick zurück und dann schließt irgendwer die Augen und tut sich weh. Wenn es Nacht wird, dann kann man nichts mehr sehen außer der Leinwand. Die Bilder lassen die Figuren nicht fliehen, aber retten sie dadurch vor dem Sterben. Denn selbst wenn sie es noch so sehr versuchen, unsere Blicke halten sie und wenn sie merken, dass diese Blicke voller Liebe sind, dann werden sie vom Wind getragen.Irgendwo liegen die Figuren im Dreck. Sie können sich nicht mehr bewegen und verhaaren in ihrer Machtlosigkeit. Ihre Blicke vermögen uns zu fesseln, aber nur weil sie leer sind. Erschöpft fallen sie auf Betten, brechen unter der Hitze ihrer Müdigkeit und Verwirrung zusammen.

Rosetta

American Beauty

Einzig der Traktor von David Lynch fährt durch die Dämmerung. Als wolle Lynch sagen: Ich habe es euch schon immer gesagt. Aber letztendlich ist auch dieser Film eine Flucht vor dem Film und dem Leben. Für den Protagonisten und für den Regisseur ganz sicher auch.

Das Kino der Deformation

Es gibt mehrere Gründe, warum das Kino der Deformation das aufregendste ist, was man mit dem Medium Film machen kann, vielleicht sogar das einzige sein muss, was man mit dem Medium Film, wenn man es nicht als industrielle Massenware betrachtet, tun sollte. Bruno Dumont verwendet diesen Begriff in mehreren Interviews, um zu beschreiben wie er Regie führt. Für ihn besteht die Aufgabe einer Kunst darin zu deformieren. Man nimmt einen naturalistischen Gegenstand/Schauspieler, setzt ihn in ein naturalistisches Setting und sorgt dann für kleinere oder größere Deformierungen. Somit wird die menschliche Existenz hinterfragt oder die Natur als ganze und der Zuseher kommt in einen Denkprozess. Ob dieser verstörend, belastend oder voller Erkenntnisse ist, darf meiner Meinung nach keine Rolle spielen. Es geht nur darum einen Konflikt im Rezipienten zu verursachen, ihn auszuliefern, ihm entgegenzuwirken, ihn zu bearbeiten, ihn arbeiten zu lassen. Auf keinen Fall geht es darum glücklich das Kino zu verlassen. (Obwohl es das auch geben soll.)

L’humanité von Bruno Dumont
Dumont sagt, dass er dafür an die Grenzen gehen muss als Filmemacher. Und um an die Grenzen zu gehen, müsse man immer etwas darüber hinausgehen. In der Dokumentation Das Schöne ist mein Dämon beschreibt Dumont exemplarisch eine Szene und wie er dort eine subtile Deformation herstellen konnte. Es geht um die Szene in seinem L’humanité, in der der Protagonist ein Paar beim Sex auf dem Boden beobachtet. Um einen deformierten oder nennen wir es entfremdeten Ausdruck zu bekommen, hat Dumont den Schauspieler nicht ein Pärchen auf dem Boden beobachten lassen, er hat dem Schauspieler auch nicht gesagt, dass er sich ein Pärchen auf dem Boden vorstellen soll, sondern er hat seine eigene Hand auf den Boden gelegt und gesagt: „Schau meine Hand an.“; die Reaktion ist selbstverständlich unerwartet und deformiert. Ein Prozess beginnt, wenn man nun die Reaktion des Mannes auf das Pärchen im Film sieht. Etwas stimmt nicht, aber man kann es nicht greifen. Damit verkehrt Dumont die russischen Montagetheoretiker in ihr Gegenteil. Wo Lew Kuleschow gezeigt hat, dass die immer gleiche Reaktion eines Mannes assoziiert mit unterschiedlichen Bildern im Zuseher immer eine dem Gegenstand entsprechende Reaktion hervorruft, da zeigt Dumont, dass da etwas Unsichtbares mitschwingt, etwas Unkontrollierbares, etwas Unerwartetes und das darin die Qualität von Filmen, ja von Kunst allgemein liegt. Nicht umsonst zitiert Dumont immer wieder Maler. Denkt man etwa an Francis Bacon wird der Begriff von der Deformation plötzlich plastischer. In den deformierten Gesichtern des Malers liegt eben jene Grenze zwischen naturalistischer Darstellung und einer Veränderung, die das Menschsein in Frage stellt und eine tiefergehende Reflektion erst auslöst.
Twentynine Palms von Bruno Dumont
Die Überlegenheit eines solchen Kinos, zu dem natürlich viele Filme zu zählen sind, gegenüber eines Kinos der Schönheit oder eines Kinos der Spannung oder einer Neuauflage eines Kinos der Attraktionen, wie es derzeit in vielen Hollywood-Blockbustern zu finden ist, liegt auf der Hand. Das Kino der Deformation greift über seine bloße Existenz im Kinorahmen hinaus. Das, was man als die Zeit mit dem Film betrachtet, wird aufgelöst, weil der Film ins reale Leben einzudringen vermag. Statt das Fehlen einer Fluchtmöglichkeit als unbequem zu betrachten, sollte man diese Form auf den höchsten aller Podeste stellen, weil hier kommt Film dazu sein Potenzial jenseits eines lauten Unterhaltungsmediums auszuschöpfen. Es geht auch gar nicht darum, dass dieses Kino zwangsläufig ein intellektuelles Kino sein muss. Gerade bei Dumont spielt Körperlichkeit und die Rauheit des Daseins eine wichtige Rolle. Alles ist verständlich und nie verkompliziert. Gerade in der Direktheit liegt ja das bedrohliche Element in seinem Kino. Oft muss Dumont gar nicht mehr deformieren, weil er Menschen in einer derartigen Direktheit zeigt, dass dies schon fast unsere Schamgrenzen übersteigt und dadurch als deformiert wahrgenommen wird.
Valhalla Rising von Nicolas Winding Refn
Das Schauspiel scheint mir dabei mit am leichtesten deformierbar zu sein. Die Verweigerung des Ausdrucks und die subtile Psychologie, die nicht nur laut Dumont in der Nahaufnahme zum Vorschein kommt, sind fester Bestandteile aller schauspieltheoretischen Diskurse. Der Wille des Zusehers zu lesen, was da in den Figuren vorgeht, die Möglichkeit in Filmen Dinge/Menschen länger und intensiver zu betrachten als im normalen Leben, geben dem Kino kein Recht als Abbild der Realität sondern sogar mehr, als intensivere Wahrnehmung der Realität. Und nur darin kann und soll eine Deformation sichtbar werden. Derzeit steht Nicolas Winding Refn hoch im Kurs, insbesondere beim jüngeren Kinopublikum. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass er Wahrnehmungen deformiert. Zunächst deformiert er das Aussehen und das Spiel seiner Charaktere. Sie erwidern nicht jene Emotionen, die man normal aus Filmen gewohnt ist. Und in diesem „normal“ steckt auch schon seine zweite Deformation, denn Refn deformiert, was man normalerweise von einem Genre erwarten wurde, durch seine Montage, die zum Teil surreal-assoziativ durch die weiten nordischen Welten eines „Valhalla Rising“ oder durch thailändische (rote) Interiors von Only God Forgives schneidet, durch seine Verzögerung der Zeit in der Mise-en-scène, die etwas zu suchen scheint in den Szenen, was dort gar nicht ist. Die Kamera scheint immer wieder von neuem auf die Charaktere zuzufahren, die Räume zu betrachten, Blicke zu erhaschen. Das für die diversen Genres, die Refn (nicht) bedient klassische Spannungsmoment fällt. Fast gegenteilig, aber mit einem ähnlichen Hang zur Deformation arbeitet(e) der amerikanische Regisseur Steven Soderbergh. Bei ihm wird Genre gebrochen, indem er das Tempo beschleunigt. Auch er scheint die Erwartungen des Publikums zu kennen und  im Gegensatz zu Refn bedient er diese sogar häufig, aber er arbeitet fast ausschließlich mit Andeutungen und geht dann in der Montage schon eine Szene weiter. Wenn in Haywire jemand verraten wird, dann vermag er in dem Moment in die Action zu schneiden, indem dem Zuseher klarwerden konnte, dass es sich um Verrat handelt, ohne dass Soderbergh es aussprechen musste. Fast wie ein Jazz-Musiker kann er sich so in unheimlicher Geschwindigkeit verschiedenen Motiven immer ein bisschen, nie aber ganz hingeben. Die schnell geschnittenen Actionfilme der vergangenen Jahre versuchen diese Genrebrüche seltsam unreflektiert auf einer formellen Ebene zu bedienen. Unreflektiert, weil durch die Handkamera und schnellen Schnitte ein gesteigertes Maß an Realität hergestellt werden soll, statt damit die Realität zu deformieren.
Jerichwo von Christian Petzold
Erstaunlich dann, wenn im deutschen Kino nach Genres geschrien wird. Betrachtet man Christian Petzold als den vielleicht interessantesten Genre-Regisseur in Deutschland dann deshalb, weil er seine Genres deformiert. In einem klassischen Melodram wie Jerichow schwingt immer  eine andere Bewegung mit, fast als wären Genres Drifterfilme bei Petzold. Er wirft einen individuellen Blick auf das Genre, legt seinen Fokus oft auf unerwartete, widersprüchliche Emotionen. Aber Petzold geht es dabei wie Dumont. Wenn jemand eine Hand betrachtet, obwohl er gerade eine Sexszene sieht, dann spricht man schnell von toten Handlungen, toten Charakteren und Film sei doch Handlung und blabla. Für mich ist Film in erster Linie Bild und Ton. Diese formen eine Geschichte, Charaktere, ein Gefühl. Ob dabei gehandelt wird oder geschaut wird, erscheint mir zweitrangig. Nicht umsonst hat Deleuze ja schon vor langer Zeit den beobachtenden Protagonisten im Neorealismus ausgemacht. Egal ob ein objektiver Blick auf das Geschehen geworfen wird oder ein nach Anteilnahme schreiender, scheint mir der Blick auf die blickende Figur mindestens von gleichem Interesse zu sein wie der Blick auf die handelnde Figur. Zweites nimmt mich vielleicht mehr gefangen, aber ersteres bringt mich zum Nachdenken und hat das weitaus größere Potenzial zur Deformation. Natürlich kann eine Handlung auch ein Automatismus sein. Dann sind wir beispielweise bei den Dardenne-Brüdern oder bei einem Olivier Assayas oder Cristi Puiu. Hierbei tritt die Fähigkeit zum Vorschein in alltäglichen Bewegungen in einen Denkprozess zu gelangen, weil man sich nicht mehr aus den Bewegungen befreien kann und weil man sich nicht darauf konzentrieren muss. In „Rosetta“ bewegt sich die Protagonistin praktisch den ganzen Film. Dennoch sind es fast ausschließlich innere Bilder, die das Regie-Duo inszeniert. Das innere Bild ist jenes zu dem die Regisseure gelangen, wenn sie ihre Bilder deformieren.
Rosetta von Jean-Pierre und Luc Dardenne

Wie lächerlich erscheint es da, dass an der Filmhochschule in München nach mehr Genreaffinität bei den Studenten verlangt wird. Es gibt immer noch junge Leute, die Kino machen wollen! In Deutschland, liebe Leute, gibt es keine Genretradition. Wozu also dieser Schrei nach: „Es muss wieder mehr Genre geben.“ Die wichtigen deutschen Regisseure seit dem 2.Weltkrieg waren meist keine Genreregisseure. Natürlich sind wir amerikanisch geprägt, natürlich darf und soll man Genre im Kino machen, aber die Realität (auch für Dominik Graf und eben Petzold unter anderen) ist, dass man Genre im Fernsehen macht. Das muss nicht schlimm sein und qualitativ schlechter als Genre im Kino, aber ein Regisseur, der Kino machen will und darf, sollte sich darum bemühen Genres zu deformieren, nein eigentlich die Realität zu deformieren und in diesem Zusammenhang gibt es keine Genres, womöglich sind wir dann beim Autorenfilm, der lächerlicherweise in Frage gestellt wird. Wenn ein Filmemacher wie Thomas Arslan mit seinem wunderbaren Im Schatten straightes Genrekino liefert, dann deformiert er es. Nicht unbedingt auf eine Dumont-Art, sondern in dem er ein Genre bedient, das eigentlich tot ist und es trotzdem in der Geschwindigkeit und dem Rhythmus inszeniert, in dem es einst bei Regisseuren wie Jean-Pierre Melville zu finden war. Damit deformiert er die Erwartungen und schließlich die Wahrnehmung selbst. Was ist also gewonnen, wenn junge Studenten sofort Richtung Tatort gehen? Sicherlich kein deutsches Kino.

Offret von Andrei Tarkowski
Andrei Tarkowski hat in seinen Filmen nicht nur die Menschen oder das Menschliche an seinen Schauspielern deformiert, sondern die gesamte Natur. Er hat das zum Teil  mit einer ähnlichen Direktheit gemacht, wie Dumont seine Figuren in Widersprüche setzt. Bei Tarkowski gehorcht die Natur oft nicht ihren eigenen Gesetzen. Es gibt Erdbeben, plötzliches Feuer, Menschen, die keine Schwerkraft mehr besitzen. Das setzt den Zuseher in einen ständigen Zustand des Zweifels, ja der Angst. Tarkwoski dringt in die Wahrnehmung ein, weil auch er innere Bilder produziert, die nicht unbedingt denen eines Protagonisten zu entsprechen haben, sondern durchaus auf eine Weltanschauung des Filmemachers hinweisen. Damit wären wir wieder bei der Malerei. Damit wären wir wieder bei der Lächerlichkeit des Hinterfragens von Autorenschaft im Film. Das innere Bild scheint mir immer ein deformiertes Bild zu sein, weil es wie durch ein Filter durch die Wahrnehmung der Figuren, des Filmemachers und schließlich die des Rezipienten läuft. Dumont sagt, dass wenn er eine Wüste filmt, dann filmt er nicht die Topographie einer Wüste, sondern das innere Bild dessen, der sie betrachtet. Und damit kommt man dann dem Wesen von Film näher, denn im Inneren ist alles Bild und Ton und der Versuch zur Reflektion muss schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt sein.  Deformation wird oft mit Surrealismus in Verbindung gebracht. Luis Buñuel und David Lynch sind schließlich auch in einem scheinbar durchgehenden Prozess der Deformation involviert. Aber bei ihnen setzt oft die Verortung des deformierten Geschehens in eine naturalistische Umgebung aus (bei Lynch deutlich mehr als bei Buñuel ) Der spanische Regisseure scheint mir immer dann am besten zu seiner Sprache zu finden, wenn er in völlig naturalistischen Situationen ein deformiertes Element, wie beispielweise den mysteriösen Kasten in Belle de jour bringt. Wenn die ganze Umgebung von einer Deformation durchdrungen ist, wie in Inland Empire von Lynch, dann nimmt man den Film selbst nicht mehr als Steigerung der Realität war, sondern eigentlich wieder als ein Kino der Attraktionen, indem der Film nicht in den Zuseher einzudringen vermag, wie er nicht in seine Figuren eindringt.. Und genau dort liegt die große Versuchung des David Lynch.
Inland Empire von David Lynch
Eigentlich muss ich meine Anfangsaussage bezüglich eines Kinos der Deformation als überlegene Form revidieren. Das Kino der Deformation ist das genuine Mittel, um mit dem Kino innere Bilder zu produzieren und es damit auf die höchste Stufe, dessen was heute mit kinematographischer Sprache möglich ist, zu heben. Denn nur wenn die äußeren Bilder auch innere Bilder sind, wenn man unter der Oberfläche etwas erkennen kann, kann sich Kino völlig entfalten.
Belle de jour von Luis Buñuel