Viennale 2015: Singularities of a Festival: GO WEST

Chaplin Immigrant

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel haben noch immer offene Augen, auch wenn am fünften Tag der Viennale vieles in ihrer Wahrnehmung ineinanderschwimmt, und das Kino wie das Treibgut eines ewigen Stroms an ihnen vorbei und vor allem durch sie hindurch fließt. Dementsprechend verbleiben ihre Notizen ohne Absicherung. Sie sind eine Wiedergabe von Erfahrungen.

Tag 1 + Tag 2+ Tag 3+ Tag 4

Charlie Chaplin Charlot

Patrick

  • Ein Schiff bewegt sich und auf ihm tanzt Chaplin, weil er fällt. Er tanzt, weil er fällt, er fällt, weil er tanzt, er tanzt fallend, er fällt tanzend und blickt so in die Augen einer Sache, die man auch den Mut einer Verzweiflung und die Verzweiflung eines Mutes nennen könnte. Ein verzweifelter Mut, eine mutige Verzweiflung und genau in diesen Wortspielereien drückt sich für mich letztlich diese immerwährende Gleichzeitigkeit von Drama und Komödie bei ihm aus, die – und eine solche Programmierung ist dann wohl nur auf diesem Festival möglich – einen wichtigen und richtigen Blick auf aktuelle politische Dringlichkeiten wirft. (The Immigrant ist mehr als das)
  • Ich habe nie so viele Kinder bei einem Filmfestival im Kino gesehen, wie auf dieser Viennale. Es war gut mit ihnen und Chaplin zu lachen.
  • Jia Zhang-kes Mountains May Depart ist die größte Enttäuschung des Jahres. Verglichen mit dem, was dieser Mann schon gemacht hat, ist es fast eine Frechheit. Jegliche Subtilität ist ihm verlorengegangen und stattdessen hat er einen Themenfilm gemacht, in dem das Thema “Go West, life is peaceful there” hundertfach ironisch, kritisch wiederholt wird. Dazu wird es mehr zu sagen geben.
  • Die Blätter in Wien sehen durch deine Sonnenbrille anders aus. Man läuft zwischen den Screenings über sie. Ich denke an die Bäume in den Filmen (vielleicht eine Abwehrhaltung gegen all die Tiere ). De Oliveira hat einen Baum der Geschichte in seiner hypnotischen, ersten Einstellung in “Non”, in Carol hängen die verdorrten Äste eines Baumes fast am Boden, in Hierba umranken jene der französischen Maler das Begehren,
  • Lieber Jia, du hast Szenen gedreht, in denen deine Kamera interessiert war an der Welt. Du hast Filme gemacht, in denen du Zeuge warst einer Welt und dann mit deiner Wahrnehmung darin geschwommen bist. Du hättest bis vor 2 oder 3 Filmen nie so geleuchtet, dass sich Figuren von ihrer Umgebung abheben. Ganz im Gegenteil, du hast es zum Prinzip erhoben, dass Bildhintergrund und Bildvordergrund eine Einheit in ihren Gegensätzen sind und dass die Dinge nicht so einfach sind als könne man sie zusammenhängend erzählen, du hast nie so getan, als ob du die Emotionen deiner Figuren verstehen könntest, weil man sie durch das Sehen verstanden hat. Du hast uns überrascht. Nicht mit Explosionen, sondern mit den Perspektiven, den Entscheidungen, den Blicken. Ja, ich habe gesehen, dass du nicht alles verloren hast, aber bitte mache wieder Filme mit deinen Augen, Ohren und deiner Haut.

Chaplin The Immigrant

Ioana

  • Chaplin hat heute alles andere überschattet. Jede Geste war eine Überraschung, obwohl ich die Filme (vielleicht vor zu langer Zeit) schon gesehen hatte. Letztendlich war ich so überwältigt, dass ich eher weinen als lachen musste. [Vielleicht  weil mein Körper nicht daran gewöhnt ist, fast ein einhalb Stunden ununterbrochener Freude (am Kino, im Kino) auszuhalten.]
  • Tag der Ohrwürmer.  Das Lied aus Las Pibas hat mich von Pet Shop Boys – Go West “befreit”.
  • In Mountains May Depart fehlt mir so vieles, was ich an anderen Filmen von Jia Zhang-ke mag, dass ich mir nur wünschen kann, dass das sein Jimmy P. ist. Auf einer oberflächlichen Ebene und grob gesagt, fehlen mir die verwirrende Übertriebenheit von A Touch of Sin, die energische Coolness von Pickpocket, die drückende Kontemplation von ruinierten Orten und Entfremdung von Still Life und der elaborierte Umgang mit Form.
  • Es war lustig herauszufinden, dass man zahlen muss, um das nicht-wesentlich-größer-als-meine-Küche Ausstellungszimmer im Metro Kino zu besuchen. Wir sind nur zufällig illegal reingestolpert vor einem Screening, aber jetzt muss ich mich fragen, was für Schätze dort gehalten werden und wie viel die Eintrittskarte kostet. Habe ich eigentlich falsch geschaut, gibt es dort mehrere Zimmern?

The World von Jia Zhang-ke

Der melodramatische Reigen in einem Freizeitpark: Der Welt-Park in Peking, man muss nicht reisen, um die ganze Welt zu sehen. Das ist wie im Kino. Nur politisch fragwürdiger. In „The World“ (2004) blickt Jia Zhang-ke in seinem ersten staatlich autorisierten, aber nicht weniger gefährlichen Film auf die Liebesgeschichten von Mitarbeitern des real existierenden Freizeitparks in Peking, der einen mit einer Schwebebahn in nur wenigen Minuten um die ganze Welt schickt. Die Künstlichkeit dieser Welt, droht die Protagonisten zu verschlucken, die Menschen wirken gefangen, weil Jia Zhang-ke die Absurdität des Eifelturms oder der Tower-Bridge in Peking in weitwinkligen Porträtaufnahmen unterstützt und dabei von einer Isolation und Fehlkommunikation erzählt. Dabei reden wir aber nur selten von Wes Anderson Postkarten-Chic, sondern meist von einem tatsächlichen Leben in und zwischen den absurden Gebäuden. Tao, eine Performerin im Park, die in einer bemerkenswerten Eröffnungssequenz nach einem Pflaster schreit und begleitet von der Kamera, die stets den unverstellten Blick sucht, durch die Back-Stage Bereiche eines riesigen Show-Areals marschiert, energievoll und eigenwillig, ist in einer Beziehung mit Taisheng, einem Security-Mann auf dem Gelände. Die Arbeiter kommen aus der Provinz oder gar aus Russland.

The World3

Es entfaltet sich ein präzise beobachtetes Beziehungsgeflecht bei dem die Frage nach Vertrauen mindestens genauso wichtig ist wie jede kleine Regung dazwischen. Jia Zhang-ke schafft es immer wieder, den toten Moment in der Kommunikation zwischen Mann und Frau zu finden. Es ist in diesen Augenblicken, wenn Peinlichkeit und Anziehung, Angst und Erregung zu einem Gefühl verschmelzen. Damit bewegt er sich immer an der Grenze zum Klischee, aber geht jederzeit Meilen darüber hinaus, weil er sich gerade für die Ausbreitung eines Klischees in der Zeit interessiert. So versucht Taisheng Tao in einem Hotelzimmer dazu zu bringen, sich mit ihm aufs Bett zu legen. Die Bewegungen, die Scham und die Anziehung passieren vor uns, sie sind echt. Sie will nicht, er zieht sie zu sich und als er versucht mit ihr zu schlafen, weicht sie zurück. Später wird Taisheng mit einer anderen Frau ähnliches erleben. Die Unbeholfenheit von Mann und Frau sah noch nie ungezwungener aus. Die Szene beginnt wie ein Kinotraum. Taisheng kommt im Atelier der Modedesignerin Qun an und dort tanzt sie gerade mit ihren zwei Cousinen zu einem Lied. Sofort übernimmt Taisheng das Kommando und tanzt mit der jungen Frau, die er von nur einer anderen Begegnung kennt, die ihn aber zu sich eingeladen hat. Die Kamera bewegt sich leicht und schwer zugleich, sie tanzt mit den Emotionen und Bewegungen der Figuren. Die Cousinen verschwinden. Ein peinlicher Moment, denn bisher war es ein Tanz als Performance, jetzt beginnen sie den Atem des jeweils anderen zu spüren und wir im Kino mit ihnen. Sie setzen sich auf ein Sofa als die Musik langsam leiser wird. Taisheng, der die Gunst der Nähe vollenden möchte, versucht Qun zu küssen. Sie verweigert sich und nimmt seinen Arm von ihrer Schulter. Sie sitzen auf dem Sofa, sehen sich an. Einer dieser poetischen toten Momente, die Jia Zhang-ke immer wieder bedient. Plötzlich gibt es eine entscheidende Bewegung in der Szene, denn die beiden beginnen sich über ihre jeweiligen Beziehungen zu unterhalten. Fast jede Szene führt an ein Gefühl, dass man am Anfang der Szene nicht erahnen konnte. Die scheinbare Ruhe täuscht nur den unaufmerksamen Zuseher. Jia Zhangke gibt uns die Freiheit, Menschen wirklich zu sehen. Meist steht die Kamera dann ruhig und lässt das Geschehen in detaillierten Tableaus, die an Yasujirō Ozu und demnach auch Hou Hsiao-hsien erinnern, in all seinen Facetten entstehen. Häufig bedient er sich auch langsamer Schwenks, die ein aufregendes Spiel zwischen On- und Off-Screen entfachen, indem ein Blick entscheidend sein kann und man sich der Limitierung seines eigenen Sehens bewusst wird. Zudem erreichen die Schwenks zusammen mit den langsamen Zufahrten durch die engen Korridore im Film eine fließende Wirkung, die einen in die Fatalität der Liebesgeschichte einladen. Eine Sucht entwickelt sich, die vor allem von der scheinbaren Autonomie der Kamera ausgeht. Wie der Geist eines Autors schwebt sie durch die Innenräume als die Seele eines schlechten Gewissens, das jederzeit einen Effekt bewirkt, der mir sagt, dass die Welt im Kino ein Fenster ist.

Jia Zhang-ke betreibt ein Wechselspiel aus formaler Strenge und völliger Verspieltheit. So verwandelt sich das Bild bei jeder ankommenden SMS für einige Momente in einen Comic. Am bemerkenswertesten ist der Einsatz dieser Ästhetik als eine Blüte durch einen Schacht in das Gebäude fliegt, in dem Taisheng auf Qun treffen wird…der Einfluss westlicher Kultur und Lebensweisen kracht subtil mit den traditionellen Vorstellungen und Merkmalen der Figuren aufeinander. Ehrgeiz ist hier immer eine Frage der Perspektive, denn er ist eingebettet in ein System. Die Figuren träumen nicht. Vielleicht weil sie nicht leben: You are a fugitive but you don’t know what you are running from… Neben den animierten Sequenzen gibt es dokumentarisches Material von Auftritten im Welt-Park, Tanzsequenzen, auf Mauern erscheinende Schriften, Truffaut-Zitate und Lieder. Es ist einfach erstaunlich wie Jia Zhang-ke ein unheimliches Gefühl für die Wahrheit der Dinge mit einer surrealistischen Nonchalance verbindet. In „Still Life“, der kurz darauf entstand, sollte er diesen Hang perfektionieren.

The World4

Die Welt ist ein Fenster, die Welt ist eine Illusion. Die Illusion könnte sich im Blick auf ein vorbeifliegendes Flugzeug offenbaren und der Frage, wer eigentlich in diesen Flugzeugen fliegt. Die Geschichte und Politik Chinas ist hier nicht Thema sondern schlicht ein Teil der Existenz. Erst dadurch vermögen diese Aspekte jenseits intellektueller Interpretationen zu berühren. Sie sind unübersehbar, aber keiner der Schauspieler spielt sie mit. Aber die Welt ist immer noch eine Illusion und ähnlich wie Tsai Ming-liang oder Apichatpong Weerasethakul ist es die Schönheit des Anderen, des Fremden, des vielleicht Nicht-Existierenden, die sich in der Dauer der Momente entblößt. Die Traurigkeit eines Rhythmus zwischen nächtlichen Autofahrten und einer Fontäne vor dem Triumphbogen, die Eifersucht als einziger Kanal der Unzufriedenheit. „The World“ berührt jederzeit in einer Art, die man nicht kennt: Unknown Pleasures.