Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Taubenblicke XI

Menschen, die bei den ersten, kleinsten Regentropfen sofort ihren Regenschirm aufspannen und die anderen, die sich sorgenlos beregnen lassen 

Der Greis, der im Seufzen zu husten anfängt und das Kind, das von einem Weinen übergangslos in einem Lachen übergeht

Das Kitzeln einer Ameise auf dem Rücken beim Lesen und die Flecken der toten Fliegen auf der Seite des Buches

Auf dem Weg zu einem Treffen mit einem alten Schulfreund, den man lange nicht gesehen hat, und denken: „Ich habe ihm so viel zu erzählen!“ und im ersten Moment des Wiedersehens sofort der Gedanke: „Eigentlich habe ich ihm gar nichts zu sagen.“

An einem ländlichen Bahnhof die noch brennende Zigarette im Schotterbett, die ständig wechselnden Spiralformen des in der Luft schwebenden Rauches, die dann im Wind von einem vorbeifahrenden Zug auf dem Nebengleis verwehen, ist eine Wiederholung der Halbschlafbilder von gestern Abend, die ebenso sofort verschwanden, als der Nachtwind das Fenster des Gasthauszimmers offenblies

Selbst im Unterwegssein am Land, fern von einer Stadt, zum Beispiel in einem Wald oder an einer Lichtung mit Blick auf einen Berg in einer abgelegenen Ecke Österreichs, ist es unmöglich einen stillen Ort zu finden – einen Ort zum Schauen, Hören, vor allem zum Nichts-Tun – ohne das Auftauchen von Schönheitsverderbern und Blickverschmutzern, wie gerade jetzt eine sich gegenseitig anbrüllende Gruppe Cross-Country Mountainbiker, ihre lächerlich bunten, ins Auge stechenden Sportlertrikots wie fortbewegende Kotzflecken in der Landschaft

Und dann doch ein Ort der Stille: Als ich gestern am späten Nachmittag als einziger Passagier in einer Lokalbahn im Traunviertel einstieg und allmählich einnickte, wachte ich mit einem Ruck auf, und sah mich umgeben von einer Schulkasse auf dem Heimweg von einem Ausflug am letzten Tag vor der Sommerferien; jedes Kind schlief entweder mit dem Kopf nach unten geneigt, so wie man es bei alten Menschen beobachten kann, die auf einer Bank eingeschlafen sind, oder schaute müde aus dem Fenster auf den Traunstein, der mit jeder Kurve des Zuges eine andere Seite zeigte, als drehte er sich im Kreis

Dann an der Haltestelle Karl z‘ Neuhub, stieg ein bebrilltes Mädchen aus, das sich auf dem Weg zu dem einzigen Haus in der leeren Ebene machte und im Gehen seine hellrosa Regenjacke in die Luft warf, die sofort vom Wind aufgefangen, emporgeblasen und wie ein Papierdrachen heftig herumgewirbelt wurde, bis sie mit ausgestreckten Ärmeln innehielt und langsam auf das Gras niedersank

Der alte Chinese, der beim Zeitungslesen den Bahnsteig in Ebensee pfeifend auf und ab geht, unterunterbrochen, jeden seiner Schritte mit einer Leichtigkeit und Selbstsicherheit vorgeführt, als übe er gerade seine Haupttätigkeit im Leben aus, seine Augen nur für die Zeitung, sodass die anderen Wartenden ihm ständig ausweichen müssen

Im Warteraum eines Bahnhofs irgendwo den gelangweilten Bahnbeamten fragen, ob der Zug von hier nach Attnang-Puchheim fährt und als Antwort ein bloßes Kopfschütteln bekommen

Im Überqueren der Traunbrücke in Gmunden – auf der einen Seite der Fluss, auf der anderen der See und das Gebirge – den Wunsch verspüren, lebenslang über diese eine Brücke von dem einen Ufer zum anderen zu gehen

Die müde Stimme des Zugbegleiters, der bei der Einfahrt nach Wien, nach einer achtstündigen Fahrt durch das gesamte Land, in seiner Ansage plötzlich verstummt und zu kichern anfängt, worauf alle Passagiere im Waggon, auch ich, mit ihm kichern

Aber dann ist es doch eine Wohltat, nach dem tagelangen In-die-Ferne-Schauen auf die pittoreske, aber nun überdrüssig gewordene Gebirgs- und Seelandschaft – aus dem Zugfenster oder von wo auch immer – endlich mal wieder leicht betrunken in einem stinkigen Pissoir in einer Bar zu stehen und die mit Hastigkeit gemalten Zeichnungen von männlichen Geschlechtsteilen verschiedener Größen auf den weißen Fliesen direkt vor den Augen zu haben