Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Taubenblicke IX

Der Sperling sitzt auf einer Bank in der überfüllten, stickigen, grauhässlichen Wartehalle des Grazer Hauptbahnhofs, als warte er, die Geduld verkörpernd, auf seinen Zug, ohne die üblichen Kopfbewegungen, ohne einen Laut von sich zu geben, ohne Blick für die eilenden Reisenden (die ihm ebenfalls keine Aufmerksamkeit schenken), sondern völlig still, schweigend, gelassen, als gehe ihn das alles nichts an (und so gelangt er zu seinem neuen Taufnamen: „Geduldiger Sperling“)

Die lesende Frau im Zug legt ihr Buch auf den leeren Sitz neben sich, faltet die Hände in den Schoß und schaut aus dem Fenster, während im selben Moment der Mann hinter ihr eine Zeitung aufschlägt und sie vor das Fenster hält

Im Speisewagen: Im langsamen Abendwerdens (die vorvorletzten Sonnenstrahlen immer noch auf den weißen Tischtüchern spielend), ist der Greis bereits eingeschlafen, sein Kopf, klein wie der eines Kindes, gegen das Fenster gelehnt, sein lautes Schnarchen erfüllt den ganzen Raum, als wäre es schon tiefe Nacht

Der dreibeinige Hund im Grazer Stadtpark hinkt würdevoll unter einem Kastanienbaum, dessen Blätterschatten sanft über sein Fell streifen

Ein paar Meter weiter: Eine Frau schiebt einen Kinderwagen, öffnet die Bedeckung und heraus springen drei Chihuahuas, die in drei verschiedene Richtungen über die Wiese rasen

Wiederholung: Derselbe Zitronenfalter wie letztes Jahr flattert die Mur entlang und im flimmernden Blattwerk der Linde im Augarten zwitschert derselbe unsichtbare Vogel und unter dem Baum steht dasselbe Kind mit der übergroßen grauen Kappe, das sich ins grünende Laub vertieft

Die weißen Kinderhandabdrücke auf dem Baumstamm und die dunkelrote Kirsche im eigenen Handteller

Die Verachtung für die Menschen im Wald, die im Gehen nur auf ihr Handy schauen, wird gemildert durch die Anwesenheit der liebegewonnen Insekten

Im Wald gehen, stehenbleiben, einen Blick über die Schulter auf den gerade zurückgelegten Weg werfen; der Boden, ein unaufhörlich zitterndes Geflecht aus Licht und Schatten; ein Raum, der sich mit jedem Atemzug weiter entfernt; und zwischen den Baumstämmen führt ein nie zuvor entdeckter Vogel seinen Lufttanz vor, seine Erscheinung wie der erste Satz eines Märchens

Stundenlang mit demselben Stock gegen die Baumstämme klopfen, ihn durch die Luft fliegen lassen, ihn durch den Kies hinter sich ziehen, ihn über dem Kopf, wenn einem Leute entgegenkommen, hin-und herschwingen (nicht als Bedrohung, sondern als Begrüßung) und ihn dann an einer beliebigen Stelle, ohne Grund, fallenlassen

Zum ersten Mal dieses Jahr barfuß im Gras gehen, sich dann hinlegen, die Zehen spreizen, um den Wind durch ihre Zwischenräume wehen zu lassen; auf die Laubbäume blicken, wie die Luft ihre Blätter in leichte Bewegung versetzt (die heftiger wird, als ein Hubschrauber nah über den Baumwipfeln fliegt), als würden die Blätter mit der Luft atmen; Wolken, die wie aufgebauschte Bettdecken den Himmel schmücken; ein Hundegebell irgendwo, das sogleich verstummt; die Weißlinge, die in ihrem Flug zwischen dem hohen Gras plötzlich verschwinden und einen Atemzug später wieder auftauchen; bei geschlossenen Augen eine Ahnung des Verkehrslärms der Westautobahn hinter dem Wald (doch vielleicht ist es nur der Wind in den Bäumen); ich phantasiere die Strecke von Wien bis zur deutschen Grenze herbei (dazu ein Bild eines an einem See geparkten Autos, dessen Fahrer, mit weit aufgerissenen Augen, auf den Schnee blickt, der auf den Gipfeln der umgebenden Berge liegt); und bei all dem eine heitere Traurigkeit empfinden, wie schon seit langem nicht mehr, so innig, dass nicht einmal der laute Mann am Telefon in der Nähe sie zerstören kann

Und dann, nach dem Gehen im Wald, ist der Stadtlärm um so bedrückender, einengender, leibzerstörender; sogar das ansonsten so liebenswerte Singen der Vögel wird ein Brüllen in den Ohren