Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Taubenblicke VIII

Verwechslung: Der Flügelschlag eines Vogels ist das Ausschütteln eines Teppichs aus einem hohem Fenster (Staubwirbel in der Luft, über dem Kopf)

Wunder: Den vor einem Jahr verlorenen Lieblingsbleistift – auf ihm das Bibelzitat: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ – in der Brusttasche eines vor ein paar Tagen gekauften Sakkos wiederfinden

Das eingeschlafene Liebespaar auf einer Bank in der Sonne, der Wind in ihren Haaren, der ebenso durch ihre Träume weht (Pötzleinsdorfer Park, 16. März)

Die Vorstellung, dass alle vereinzelt im Park gehenden alten Menschen verwitwet sind, doch gemeinsam eingehüllt in ihrer Einsamkeit wie in einer zusätzlichen Wärme an diesem bereits warmen Frühlingstag; am Wegrand die Veilchen und das Hallen der Kinderstimmen zwischen den Eichen (Pötzleinsdorfer Park, 16. März)

Eine junge Frau, die ihr Fahrrad am Rand einer durch den Wald führenden Landstraße schiebt, bleibt plötzlich stehen, schließt die Augen und senkt ihren Kopf, um sich in den allgegenwärtigen Gesang der unsichtbaren Vögel hineinzulauschen, während ihr Begleiter ein Eis isst und sie schweigend anblickt

Und die fünf Kinder, alle ebenso mit Eis in der Hand, sitzen auf einer Mauer, blicken auf den träge darunter fließenden Bach und zählen die Fische; jedes Mal ein anderes Kind die nächste Zahl in einem Singsang übernehmend, im gleichmäßigen Takt, als folgten sie alle den Noten eines im Wasser geschriebenen Musikstücks

Zwischen den Seiten eines vor Jahren gelesenen Buches eine Rechnung von der Post für einen abgeschickten Brief finden, und am Himmel ziehen dieselben Wolken von damals

Das Gelb der Forsythien und Löwenzähne in den kleinen Grasflächen entlang der Straßen Wiens als Hauptbegleiter dieses Frühlings…oder doch noch einer: das Klacken der drei Rosskastanien vom letzten Herbst in der linken Sakkotasche beim Gehen

Die Straßenbahntüren öffnen, obwohl es keine Haltestelle gibt, und da trabt ein herrenloser Dackel heldenhaft herein und die zuvor verkrampften Gesichter der Passagiere werden nun entspannt, friedlich, als wäre seine Erscheinung die lang ersehnte Lösung für alle ihre Leiden

Die abstoßende Selbstsicherheit der jungen Leute in den Cafés am Yppenplatz; wie sie selbstgefällig Kaffee trinken, den überteuerten Avocadotoast verzehren; alle ihre Gedanken, Gesten vorprogrammiert; leere Hülse ohne Inhalt…und die Vorstellung, ein riesiger Taubenschwarm würde auf sie alle herunterscheißen, vielleicht gewännen sie dadurch eine Art von Würde

An einer Buchhandlung vorbeigehen, in der gerade eine Lesung stattfindet und durch das Fenster sehen, wie das Publikum so wirkt, als ob es tatsächlich aufmerksam zuhören würde, während der Besitzer des Ladens in der hintersten Ecke sitzt, den Kopf in seiner Hand gestützt, die Augen zu

Der Holunderstrauch auf der Böschung des Rustenstegs, der von den darunter ein- und ausfahrenden Zügen des Westbahnhofs in leichte Bewegung versetzt wird