Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Träume in öffentlichen Räumen

Text: Leonard Geisler

Es ist beschämend, beim Schlafen erwischt zu werden, peinlich irgendwie, vor einem anderen
Menschen zurückzukehren in den unbewussten Zustand, mit geöffnetem Mund womöglich. Der Schlaf verweist wie der Bauchnabel auf das Säuglingsstadium des Körpers. Im Schlaf ist der Organismus verletzlich. Er ist nackt, den Bildern, die ihn heimsuchen, nackt ausgeliefert. Ein Topf kochender Spaghetti, dessen Deckel zittert, schließlich überschäumt mit Träumen, biochemischen Geflechten aus Begehren und Angst.

Der Kinosaal ist dunkel und warm. Die Körper in seinem Innern regen sich nicht. Sie atmen leise und flüstern heimlich wie Kinder, deren Eltern vor der Zimmertür stehen und lauschen, ob die Kleinen denn nun endlich zur Ruhe gekommen sind. Es hat etwas Verbotenes, die Körper auf der Leinwand zu betrachten, die den Blick nicht erwidern können, etwas Verbotenes, sich in Komplizenschaft zu wissen mit den anderen Sehenden in der Dunkelheit. Wir teilen denselben Blick, teilen dasselbe Geheimnis. Das Kino ist, wie der Traum, Sonderverwaltungszone des Begehrens.

„Gut, dann träume ich von dir“, sagt in Rudolf Thomes Berlin Chamissoplatz nicht zufällig die junge Filmemacherin zu ihrem Liebhaber, als dieser keine Zeit für sie hat. Sie versteht sich aufs Schlafen, denn sie kennt das Kino. Sie ahnt vielleicht, dass es bei beidem ums Vergessen geht, ums Verlieren der Gewissheit, ein Ich, ein kohärentes Wesen ohne Brüche zu sein. Wer träumt, ist namenlos. Wird man doch gerufen, dann so, als trage man den flüchtigen Rollennamen eines Schauspielers, abgeschnitten von jeder Vergangenheit. Das Kino macht uns zum Mensch ohne Eigenschaften, zum reinen Rezeptionskörper des filmischen Affekts, so wie der Schlaf uns vergessen macht, es am Morgen einige Sekunden braucht, um zu erinnern, wer man denn eigentlich ist.

Die Filmindustrie will vor allem eines: psychologische Gutachten ausstellen. Sie tut dies, weil es sich rechnet, weil das Benennen vermarktbar macht, weil die eindeutige Markierung der filmischen Erzählung eine außerfilmische Funktion zuweist. Sie tut dies vor einem Raum Namenloser, einer
Masse Rezeptionskörper, zerstückelter Augen und Ohren, deren Schönheit in ihrem mosaikhaften
Erleben liegt, so wie Schönheit des Kinos zwischen den Zeilen zu suchen ist, nicht in den einzelnen
Bildern, sondern in den Fugen, dem Dazwischen, das durch die sicht- und hörbaren Bausteine
beschworen wird. Es muss doch darum gehen, Atheist zu sein, nicht rückzugreifen auf Erklärmuster, die außerhalb – die hinter – dem Kinosaal liegen. Es muss doch darum gehen, orgastische Schauer (1) im Kinosessel zu beschwören, in Wirbelsäule, Zwerchfell und Tränendrüsen einzudringen, allein durch das Dazwischen der Bilder.

Vielleicht kamen die Talkies wirklich zu früh. Kein Wunder, dass Leos Carax, Erneuerer des französischen Kinos, sich in seinen ersten zwei Filmen, seinen besten, so viel Vitalität, so viel Slapstick vom Stummfilm borgt. Und vielleicht ist Sprache wirklich eine Art Virus, eine Erbkrankheit, weitergereicht von Generation zu Generation, die unsere Körper infiziert, die hereinprasselnden Affekte kanalisiert, in eine gesetzliche Ordnung zwängt. Vielleicht war Bresson deshalb so gegen das abgefilmte Theater-Kino, das den Text, der doch der Bühne gehört, in den Vordergrund rückt. Verlockend der Gedanke, dass die Filme ihre Auslegung uns, und nicht ihren Figuren, überließen.

Es gibt einen schönen Spruch von Haruki Murakami, der besagt, dass man sich, wenn ein rohes Ei gegeneine Betonwand geworfen wird, immer auf die Seite des Eis stellen muss. Ich möchte an diese Ei-Werdung anschließen: es gilt sich auf die Seite des Kinos zu stellen, das Gänsehaut evoziert, es gilt, im Kino gänzlich werdend, gänzlich reisend zu sein, sich dem Ereignischarakter der filmischen Sequenz hinzugeben. Das Kino vermag es, die Rezeptionskörper in seinem Inneren durch seltsame Affekte in neuartige, seltsame Schwingungen zu versetzen, wunderliche Klänge zu erzeugen. Dagegen wird auf den Gräbern der Filme, die alles richtig machen, die sich mit dem bereits Benannten, dem Oberflächlich-Politischen, dem Anekdotischen befassen, eben dies geschrieben stehen: Sie haben immer alles richtig gemacht, sich immer an die ‚Regeln‘ gehalten.

Ich den ersten zehn Minuten eines Kinofilms schlafe ich oft ein, doch nicht weil die Filme mich müde machen – ganz im Gegenteil, das Kino ist nicht tot, untot vielleicht, da jeder gesunde Organismus sich durchs partielle Absterben am Leben hält – und erst recht nicht, weil ich den Filmen vertraue. Mein Misstrauen will ich ihnen doch schenken können, mir ihrer nicht sicher sein können, von ihnen in neuartige affektive Zonen voller Wunder und Perversionen katapultiert werden. Es liegt wohl eher daran, dass ich, seitdem ich 14 bin, zum Einschlafen Podcasts höre, mein Hirn darauf gepolt ist, Dunkelheit und körperlose Stimmen an Schlaf zu binden. Im Kino träume ich nicht. Die Zeit, bis ich mit schlechtem Gewissen hochschrecke, schlagartig wieder hellwach bin, ist zu kurz dafür. Dennoch macht der Schlaf mich vielleicht gefügiger, rückt mich näher an den vorsprachlichen Säugling heran, um die Welt im Kino als Kind zu erfahren. Kinder verachten die Welt der Erwachsenen mit all ihren Regeln, ihren Schulen, ihrer Politik. Doch gerade in seiner Unschuld, seiner Freude, liegt vielleicht das politische Moment des Kindes – und des Kinos.

(1) Am orgastischen Schauer im individuellen Rezeptionskörper lässt sich die gelungene filmische Sequenz rückwirkend ablesen: sie erstreckt sich von Ozus Apfelschale über Schraders Goldenen Pavillon bis hin zur Naheinstellung auf den Ehering an Patricia Arquettes Hand in Lost Highway.