Wenn es so etwas wie ein High-Pitch-Installationsarbeit gibt, dann sind es die Walker-Filme von Tsai Ming-liang. Ein Mönch geht in kaum wahrnehmbarer Langsamkeit durch die Welt und wird von dieser ignoriert, betrachtet, belächelt, bewundert und vor allem überholt. In seinen Arbeiten, die aus einer Performance von Lee Kang-sheng am chinesischen Nationaltheater entstanden sind, erforscht Tsai Ming-liang die Langsamkeit, die Poesie der einzelnen Einstellung, Körper und die Zeit. Irgendwo hallt die ursprüngliche Idee einer Adaption nach literarischem Vorbild der Reise eines buddhistischen Mönches in den Westen im 6.Jahrhundert durch die Bilder, aber wie meist bei Tsai Ming-liang bleibt davon nur die Essenz, das Gefühl.
Auf der vergangenen Berlinale hat „Journey to the West“ eine große Begeisterung ausgelöst. Für den Walker-Film in Marseille (sein erster in Europa) konnte Tsai Ming-liang Denis Lavant gewinnen, mit dem der Film auch beginnt. Ein atmendes Wesen, ein Kratergesicht in der Höhle voller Leere und Traurigkeit; Schönheit. „Er sieht aus wie ein Drache“, bemerkt der Regisseur im Publikumsgespräch. Einmal wollte er Lavant gar als Drache in einem Film casten. Diesmal ginge es allerdings um die rohe Präsenz. Dann kommt der Mönch in rot-orangenem Gewand, elegant, langsam hebt er seinen Fuß oder senkt er ihn, einmal weiß ich es. Immer dringt Licht wie ein Schatten durch die dunklen Korridore, die Kamera sie ist so zärtlich wie der Protagonist. Lavant am Meer, sein Gesicht gleicht dem, der in das Wasser ragenden Felsen. In einer der polemischten und gleichzeitig poetischsten Einstellungen, die ich kenne, bewegt sich der Mönch hinab in den Abgrund. Oben ist das Tageslicht. Hell. Er geht Schritt für Schritt eine lange Treppe hinunter. Eine lange Zeit. Auf der linken Seite der Treppe passiert ihn ein ganzes Volk, eine ganze moderne Menschheit. Die Faszination dieser Einstellung beläuft sich auf ihr Wechselspiel zwischen formalistischer Brillanz (Zweiteilung des Bildes in der Vertikale und Horizontale, Bewegung auf uns zu), Gesellschaftskritik, Versteckte Kamera, Humor, Traurigkeit und einem fast schwebend-religiösen Touch wie es ihn seit Carl-Theodor Dreyer im Kino nicht mehr gegeben hat.
Am Ende von „No Form“ blickt Lee Kang-sheng durch die Kamera und macht die Traurigkeit, die Godard im Blick von Harriet Anderson bei Bergman spürte, zu einer völligen Hingabe, einer andersweltlichen Existenz, einer Macht. Dazu Nina Simone: It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life for me. Selten wurde der tiefere Sinn einer Pilgerreise so offenbar wie in diesen letzten Sekunden von “No Form”. In „Walker“ ist es ein Biss in ein Sandwich, für die Ewigkeit gestreckt, aber nicht im Sinn eines Eindringens in die Zeit, sondern lediglich als ihr nacktes und absurdes Abbild, das sich dem Bewusstsein in der Modernität mehr und mehr entzieht. Das Standbild des eigenen Sinns, festgefroren und doch immer auf einem Weg; nur um einen selbst ist alles in Bewegung, was entsteht ist kaum aushaltbarer Druck, wie im Topf des sehr reduzierten „Diamond Sutra“, der aus dem Off dampft, ja aus dem Off dampft. Langsam. Er könnte der Mutter von Hsiao-kang gehören. Sie kocht mit einem solchen Topf. In „Visage“ haben wir sie verloren.
Irgendwann beginnt Lavant dann den Mönch zu verfolgen. Auf einer Straße in der Altstadt vor einem Café. Was sind denn eigentlich Körper auf der Leinwand? Was ist eine Bewegung? Ich bekomme Lust auf einen Walker-Flashmob. Cineasten aller Welt treffen sich an Plätzen und beginnen, in der Geschwindigkeit des Walkers zu gehen. Die Welt kann dann dem Kino zusehen, wie es die Aufmerksamkeit schärft; Slow-Cinema als Politik der Wahrnehmung. Man sollte darüber sprechen, denn wenn alles von Flüchtigkeit und Kürze geprägt ist in der Virilio-Welt, eine Beschleunigung bis nichts mehr überbleibt, dann ist es das Kino, das uns noch an den Blick erinnern kann, an die Zeit, den Ablauf, die Realität, die es vielleicht nicht mehr geben wird. Die spirituelle Aufladung erscheint da genauso unnötig wie die selbstironische Abstraktion eines „Sleepwalk“. Wenn sich der Mönch in abstrakten Räumen bewegt, dann verliert er seine Bedeutung. Dann scheint das Walker-System, zur reinen Provokation zu verkommen; zumindest im Kinorahmen. Anderes gilt für „Walking on Water“, den Tsai Ming-liang in Malaysia gedreht hat, an dem Ort, an dem er aufgewachsen ist. Er erforscht die Begegnung des Mönchs mit seiner eigenen Erinnerung. Hier wird der Mönch dann doch zu einem Geist, als würde der Regisseur diesen Ort segnen. Vielleicht ist es nicht allzu sinnvoll, sich die Walker-Reihe in einem gemeinsamen Programm anzusehen, aber es verändert die Wahrnehmung. Und wenn Kino die Wahrnehmung verändert, könnte es ganz bei sich sein.