Die Viennale wagt schon was. Da findet man sich plötzlich an einem dieser eiskalten Abende in Wien im neu gestalteten Metrokino und schaut sich ausgerechnet dort ein Programm zum Expanded Cinema im Rahmen der 16mm-Schau des Festivals an. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil das Expanded Cinema, das in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Hochpunkt erreichte, bekanntermaßen die gewöhnliche Raum- und Zeiterfahrungen des Kinobesuchs aushebelt und daher eigentlich nicht wirklich für den klassischen Kinosaal geeignet scheint. Die Tatsache, dass die Viennale sich dann auch noch für das Metrokino mit seinem Guckkasten-Aufbau aus Zeiten des bürgerlichen Theaters für die Doppel- und Dreifachprojektionen in 16 Milimeter entschieden hat, kann nur mehr als Statement gedeutet werden. Aber was ist das Statement?
Vier Filme waren im Programm zu sehen: Das scheinbar zufällige und doch komponierte Farbenspiel Retour d’un Repère von Rose Lowder aus dem Jahr 1979 machte den Anfang. Hierbei wurde in einer subtilen Überlagerung eine Veränderung der filmischen Information in Form eines hypnotischen Gedichts zelebriert. Ein technisches und doch gefühlvolles Experiment. Im Anschluss daran wurde einer weiteren Doppelprojektion auf die Leinwand geworfen, die sich diesmal nicht als Überlagerung sondern als Splitscreen offenbarte. Third Eye Butterfly von Storm de Hirsch zeigt wie ein explosives Imaginarium aus dem Einsatz einer leinwandsprengenden Ästhetik entstehen kann. Das Metrokino, das nach dem eher sinnlich-entleerenden Auftakt nach einem langen Festivaltag drohte einzudösen und das revolutionäre Potenzial dieser Form des Kinos in seinem Bauprinzip verschluckte, wurde belebt. Denn de Hirsch zeigt in seinem Film aus dem Jahr 1968, dass sich Expanded Cinema nicht nur auf die Form beziehen muss sondern auch auf die Wahrnehmung. So entstehen in diesem Film tatsächlich dritte Bilder zwischen den beiden sichtbaren Bildern und man wird mehr oder weniger Zeuge einer Geburt des Lichts. Formen und Farben der nebeneinander aufscheinenden Bilder vereinen sich zu einem Gesamtbild und Rhythmus. Im darauffolgenden Film sollte diese Geburt oder gar sexuelle Erzeugung von Bildern jedoch in eine Aggression verwandelt werden: Razor Blades von Paul Sharits aus dem gleichen Jahr ist ein Blitzlichtgewitter, das es auf völlig andere Art schaffte, das Metrokino zu bombardieren und so langsam wurde mir klar, warum man dieses Programm an diesen Ort brachte.
Sharits Film war der mit Abstand komplexeste im Programm, ein Meilenstein dieser Form des Kinos. Wie häufig beim amerikanischen Künstler ist der Film eine Mischung aus Zerstörung und Erleuchtung. Die rasenden Bilderfetzen zersetzen die Wahrnehmung und abwechselnd fühlt man sich heimisch wohl in den kühlen Polstern des Kinos und furchtbar unwohl, ob ders Flicker-Drucks zwischen Wortspielen, aufscheinenden Gesichtern, Rauschen und männlichen Geschlechtsteilen. Dieser Film scheint mir trotz allem sogar wie gemacht zu sein, in einem Kino zu laufen, weil man nur dort nicht flüchten kann und will. Eine mysteriöse Hypnose setzte ein und wurde mit dem letzten Film im Programm, der japanischen Rock’n Roll Ballade in Dreifachprojektion Tsuburekakatta Migime No Tame Ni (For The Damaged Right Eye) von Matsumoto Toshio zugleich bestätigt als auch von dem Druck im Kinosaal befreit.
Unmittelbar bevor es losging, waren über ein Funkgerät die angespannten Ansagen der Projektionisten zu hören und auch wenn der Kinosaal nicht verlassen wurde, hatte er sich doch verändert. Ein Blick in die müden Augen der meisten Besucher zeigte jedoch, dass man eine solche Schau leider kaum mit der Aufregung einer Kino-Gegenwart betrachtet sondern immer mit dem intellektuellen Gehabe einer historischen Distanz an die Werke herangeht. Matsumoto Toshio verband gewissermaßen die formalen Strategien der drei vorangegangenen Filme, da er zugleich eine Bildteilung als auch eine Überlagerung einsetzt und damit ein rauschendes Gefühl für eine Zeit entstehen lässt und einem insbesondere im klassischen Kino die Möglichkeiten des Kinos aufzeigt.
Der Programmierung unterlagen also durchaus sinnvolle Gedanken, weil sich gerade im Konflikt der Spielstätte mit den Filmen eine neue Ebene aufmachte. Es ist seit jeher Politik des Festivals Kino in seiner Gesamtheit zu denken und insbesondere mit der Geschichte des Österreichischen Kinos ist das Zeigen solcher Programme absolut wünschenswert und gehörte auch in diesem Jahr für mich zu den spannendsten Festivalerlebnissen. Vielleicht konnte die entsprechende Stimmung an diesem eher toten Ort nicht wirklich entstehen, aber das ist eine Frage des Blickwinkels. Das Sichtbarmachen experimentellerer Formen und das Zeigen dieser im gleichen Kontext wie narrative oder dokumentarische Werke wurden jedenfalls von der Präsentation all dieser Formen am gleichen Ort in seiner Relevanz erhöht. Es ist wichtig, dass weiterhin auf das Nicht-Existieren von Grenzen des Kinos hingewiesen wird und in diesem Sinn ist die Viennale tatsächlich ein Keeper of the Flame.
Die Frage bleibt, ob das Expanded Cinema an einem derartigen Ort eher wie ein Tiger im Käfig war oder ob wir uns nur so selbst in den unberechenbaren und wundervollen Urwald des Kinos mit all seinen Tigern getraut haben…