Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

"Fog Line" von Larry Gottheim

Viennale 2014: Kurzfilme

Was ich beson­ders an der öster­rei­chi­schen Film­land­schaft schät­ze ist, dass sie immer auch Platz für ver­gleichs­wei­se mar­gi­na­li­sier­te Film­for­men, wie Avantgarde‑, Doku­men­tar- und Kurz­fil­me bie­tet. Wie jedes Jahr war­tet die Vien­na­le mit einer gro­ßen Aus­wahl an Kurz­film­pro­gram­men auf – neben eini­gen Pro­gram­men zu Fil­men aus dem lau­fen­den Jahr, gibt es auch eine Retro­spek­ti­ve zum 16mm-Film zu sehen, die aus 13 Pro­gram­men besteht (12 davon sind Kurz­film­pro­gram­me). Es sam­melt sich also eine Men­ge an groß­ar­ti­gen Kurz­fil­men an, über die (zu) wenig geschrie­ben wird. Zur Halb­zeit des Fes­ti­vals will ich also die Gunst der Stun­de nut­zen und ein paar mei­ner bis­he­ri­gen Favo­ri­ten besprechen.

Mil­chig wei­ße Lein­wand, ein dunk­ler Sche­men rechts im Vor­der­grund. War­ten, dass etwas pas­siert. Es pas­siert nichts. Pas­siert nichts? Lang­sam, eigent­lich unmerk­lich wird der Sche­men deut­li­cher, wei­te­re Sche­men sind zu erken­nen. Eine Land­schaft. Am Ende sieht man eine nebel­ver­han­ge­ne Baum­grup­pe und ver­sucht sich das Anfangs­bild ins Gedächt­nis zurück­zu­ru­fen. Sub­ti­le Ver­än­de­rung. Film ist Raum in der Zeit. Fog Line ist Film. Ein Meis­ter­werk des (Struk­tu­ra­len) Films.

Fog Line lief im 16mm-Pro­gramm „Struk­tu­rel­ler und frei­er Film“. Dabei han­del­te es sich qua­si um ein Best Of des klas­si­schen Avant­gar­de­schaf­fens der 60er und 70er Jah­re in 16mm – soweit man bei einem 70-minü­ti­gen Pro­gramm über­haupt von einem Best Of spre­chen kann. Das soll die Qua­li­tät der aus­ge­wähl­ten Fil­me jedoch nicht schmä­lern. Neben Fog Line lie­fen in die­sem Pro­gramm noch acht ande­re Fil­me, die eigent­lich alle eine Erwäh­nung ver­dient hät­ten – ich beschrän­ke mich auf Bruce Con­ners Cos­mic Ray, das wohl bes­te Ray Charles-Musik­vi­deo aller Zei­ten. Con­ners Fil­me kann man eigent­lich nicht oft genug sehen, des­halb war ich sehr dank­bar für die Gele­gen­heit wie­der ein­mal in sei­ne Bil­der­wel­ten aus bei­ßen­der Polit­sa­ti­re und Film­ge­schichts­zi­ta­ten ein­zu­tau­chen. Cos­mic Ray ist Kunst und Krem­pel in einem. Ein Mei­len­stein des Found Foo­ta­ge-Films und des New Ame­ri­can Cine­ma allgemein.

Eben­falls als Mei­len­stein des New Ame­ri­can Cine­ma darf Bruce Bail­lies Qui­xo­te gel­ten. Bail­lie, dem mit „Oden an eine unter­ge­gan­ge­ne Welt“ ein eige­nes Pro­gramm gewid­met wur­de, löst hier­in die kali­for­ni­sche Land­schaft in Licht auf. Ele­gisch, flie­ßend, poe­tisch, lyrisch ist der Film, da gehen einem die Adjek­ti­ve und Super­la­ti­ve aus. Über vier­zig Minu­ten habe ich das Licht gese­hen – wohl mit ein Grund wes­halb Alek­sey Ger­mans Hard to be a God, der im Anschluss lief, so schlecht bei mir weg­ge­kom­men ist.

Qui­xo­te von Bruce Baillie

Aus der Ver­gan­gen­heit in die Gegen­wart. Einer der span­nends­ten öster­rei­chi­schen Fil­me­ma­cher der Gegen­wart ist zwei­fels­oh­ne Johann Lurf. Der mel­de­te sich auch mit einem neu­en Film zurück, der iro­ni­schen Essay­kom­po­si­ti­on Twel­ve Tales Told, einer melo­di­schen Kako­pho­nie aus Logo­vor­spän­nen gro­ßer Film­stu­di­os. „Melo­di­sche Kako­pho­nie“, ein Oxy­mo­ron, ganz wie die Ver­men­gung von Block­bus­ter­kul­tur und Filmavantgarde.

Die US-Ame­ri­ka­ne­rin Debo­rah Strat­man ist alters­mä­ßig zwi­schen dem 32-jäh­ri­gen Lurf und dem 83-jäh­ri­gen Bruce Bail­lie anzu­sie­deln. Jedes Jahr stellt die Vien­na­le unab­hän­gi­ge Fil­me­ma­cher der Gegen­wart vor. 2014 lau­fen die­se Fil­me unter dem Pro­gramm­punkt „Bro­ken Sequence“. Strat­man ist neben ihrem Lands­mann Kevin Jero­me Ever­son und der Öster­rei­che­rin Dorit Mar­grei­ter eine der drei Künst­ler und Künst­le­rin­nen deren Arbei­ten hier prä­sen­tiert wer­den. Und zurecht. Strat­mans O’er the Land kann ohne Zwei­fel zur Rie­ge der ganz gro­ßen Stu­di­en zum Wesen der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft gezählt wer­den. Aus­ge­hend vom Schick­sal des Pilo­ten Wil­liam Ran­kin, der anno 1959 aus rund vier­zehn Kilo­me­tern Höhe über und durch eine Gewit­ter­wol­ke sei­nen Kampf­jet mit­tels Schleu­der­sitz ver­las­sen muss­te. Das ist bis heu­te der ein­zi­ge bekann­te Fall in dem solch ein Manö­ver von einem Pilo­ten über­lebt wur­de. Da Ran­kin wegen sei­nes Alters nicht für ein Inter­view bereit­stand (wie einer auf­ge­zeich­ne­ten Nach­richt von Strat­mans Anruf­be­ant­wor­ter zu ent­neh­men ist), macht die Fil­me­ma­che­rin sich auf Hero­is­mus und Pseu­do-Hero­is­mus ihres Lan­des einem kri­ti­schen Blick zu unter­zie­hen. So folgt sie unter ande­rem den Prot­ago­nis­ten eines Ree­nact­ments einer Schlacht aus dem Ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­krieg, Feu­er­wehr­män­nern und Grenz­pa­trouil­len bevor sie sich selbst in die Wol­ken stürzt und eine gera­de­zu magi­sche Sequenz aus Him­mel und Wol­ken auf die Lein­wand zau­bert und im Off-Kom­men­tar Rank­ins Beschrei­bung sei­nes ein­zig­ar­ti­gen Erleb­nis­ses zu hören ist. An Strat­man ist eine beacht­li­che Action­thril­ler-Regis­seu­rin ver­lo­ren gegan­gen – ein Ver­lust für die Film­in­dus­trie, ein Gewinn für den unab­hän­gi­gen Film.

O’er the Land von Debo­rah Stratman

O’er the Land ist eine eth­no­gra­fi­sche Stu­die des Lan­des und mit dem Stich­wort Eth­no­gra­fie sind wir schon beim letz­ten Abschnitt die­ses klei­nen Zwi­schen­be­richts ange­kom­men. Ich keh­re zurück zu einem der 16mm-Pro­gram­me. „Radi­ka­le Eth­no­gra­fie“ ver­eint acht Fil­me, die über Men­schen und ihre (teils skur­ri­len) Lebens­wei­sen erzäh­len. Dabei geht es nicht bloß um vene­zo­la­ni­sche India­ner­stäm­me (wie in Children’s Magi­cal Death) oder Tanz­ri­tua­le in einem afri­ka­ni­schen Dorf (wie in Tou­rou et Bit­ti), son­dern auch um uns nicht ganz so frem­den Milieus, wie der Wrest­ling­s­ze­ne in Mon­tré­al (in La Lut­te) oder einem Bade­see in Mas­sa­chu­setts (in Quar­ry). Wenn es dem Pro­gramm dar­um ging das Poe­ti­sche des All­tags­le­bens auf­zu­de­cken, dann hat Alma­da­bra Atunei­ra von Antó­nio Cam­pos die­se Auf­ga­be am befrie­di­gends­ten bewäl­tigt. Sei­ne wort­lo­se Stu­die über por­tu­gie­si­sche Fischer zeugt nicht bloß von einem immensen Ver­ständ­nis für Arbeits­ab­läu­fe und Lebens­wei­sen, son­dern auch von einem unglaub­li­chen Gespür für die Schön­heit von Licht und Schat­ten. Das Glän­zen des Son­nen­scheins auf den Wel­len der Algar­ve­küs­te ist das ele­gi­sche Licht Bruce Bail­lies. Das Glän­zen des Son­nen­scheins ist Nebel. Das Glän­zen des Son­nen­scheins ist Film.