In der Wohnung der Theaterregisseurin Mariana Marin in Radu Judes Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari steht das Buch The Crime and the Silence von Anna Bikont recht prominent platziert auf einem Tisch. Darin geht es um das polnische Massaker an Juden in Jedwabne 1941, das die Autorin mit einer Mischung aus historischen Berichten und einem Recherchejournal vergegenwärtigt. Um eine ganz ähnliche, auch strukturell verwandte Vergegenwärtigung geht es auch in Radu Judes neuem Film. Der Titel geht zurück auf ein Zitat von Ion Antonescu aus dem Jahr 1941. Der „Staatsführer“ Rumäniens während des Zweiten Weltkriegs war einer der Hauptverantwortlichen für die ethnischen Säuberungen und Massaker an Juden in Rumänien. Es ist ein Kapitel der Geschichte, über dem lange Zeit ein Mantel des Schweigens hing, auch weil Antonescu eine postsozialistische Rehabilitierung erfuhr. Jude filmt in mal scheinbar dokumentarischen und mal hochfiktionalen Sequenzen den Versuch von Mariana subversiv die Verbrechen an den Juden in eine Performance zu integrieren, die sich mit Hilfe des Bukarester Rathauses auf einem Stadtplatz mit der rumänischen Geschichte auseinandersetzen soll.
Doch Radu Jude, der sich in den letzten Jahren als Autor und Chronist einer verdrängten und bisweilen schamvollen Geschichte seines Landes etabliert hat, gibt sich genauso wenig wie seine Protagonistin mit einer bloßen Wiedergabe dieser unter den Teppich gekehrten Realitäten zufrieden. Schließlich hängt unweit des Tisches mit dem Buch in der Wohnung Marianas auch Paul Klees Angelus Novus an der Wand, über den der ehemalige Besitzer des Buches Walter Benjamin in seinem berühmten Text Über den Begriff der Geschichte schrieb:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Judes Film ist eine Referenzkammer. Immer wieder führt ein Zitat, eine filmische oder fotografische Quelle, eine Überlegung, ein Dialog in einen neuen Konflikt. Beispiele dafür sind heroisch-nationale Bilder der Befreiung Odessas (dort, wo das Massaker an Juden stattgefunden hat), ein Film von Sergiu Nicolaescu, antisemitische Sprüche auf Plakaten oder Texte von Giorgio Agamben, Isaac Babel sowie von Antonescu selbst. Dieses Vorgehen macht immer wieder bewusst, dass Geschichte nicht gegeben, sondern konstruiert ist. Bereits in seinem Aferim! hat der Filmemacher vermittelt, dass die Wahrnehmung von Geschichte immer gelenkt ist. Der Film bestand zu größten Teilen aus Zitaten aus der rumänischen Literatur. Geschichte als Konstrukt, Geschichte als Fiktion; in Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari geht er noch einen Schritt weiter. Dabei verheddert sich Jude weder im Diskurs noch in der Realität, sondern balanciert mit erstaunlicher Leichtigkeit dazwischen.
Es geht Jude um die Arbeit an der Vergegenwärtigung. Darin findet dann sowohl die Repräsentation statt als auch deren Brechung in ein Jetzt. Beim Abarbeiten an der Geschichte fallen Späne auf den Boden, die von der Gegenwart in der Geschichte erzählen. Dass der Film dafür hier und da beinahe didaktisch daherkommt, ist notwendig. Es gibt hier eine Warnung, eine Verzweiflung und eine dringliche Souveränität der Argumente. Wenn jemand mit dem Zeigefinger auf etwas zeigt, was jeder sehen sollte, ist das immer bestimmend. In der Begegnung mit der Geschichte gibt es eine oberflächliche Ebene, jene der Nostalgie, der Klischees, der Ästhetik, der vorgeschobenen Genauigkeit, des beiläufigen Humors und sich zunickenden Konsens, und sie trifft in diesem Film auf eine aufrichtige Ebene, eine des Nachfragens, des Nicht-Glaubens, der Neugier, des Wissens, des Aufzeigens. Im Kino wird dieser Konflikt oft im Gegenüber aus „authentischer“ Repräsentation und analytischer Brechung verhandelt. Dieser so relevante Konflikt schlägt im Herzen von Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari und entfesselt anhand der jungen Theaterregisseurin Mariana eine Kaleidoskop aus Verklärung, Aufklärung, Ignoranz und Idealismus. Wie in diesem Jahr vielleicht sonst nur Ruth Beckermanns Waldheims Walzer legt der Film ganz offen seinen Finger in die Wunden und Fragen unserer Zeit: Wie sich mit Geschichte befassen? Wie halten wir bestimmte Verbrechen im Bewusstseins? Wie stark wiederholen sich die geschichtlichen Muster und wie kann man als Künstler oder Künstlerin damit arbeiten? Am Ende des Films zeigt Jude Menschen, die dem hochkritischen Theaterstück folgen und sich dennoch beinahe blind in eine Nostalgie begeben. In Interviews äußerte der Filmemacher, dass es ihm mit seinem Aferim! ganz ähnlich ergangen wäre. Auch in Österreich erlebten ich einen zumindest für mich etwas merkwürdigen Nostalgieschub in den Publikumsgesprächen nach Waldheims Walzer. Selbst in einem so klar nicht-illusionistischen Film gibt es scheinbar einen Raum, der durch das Kino in Zeiten transportiert und Gefahr läuft notwendige Distanzen zu überbrücken.
In bisweilen komischen und schockierenden Szenen trifft die in ihrer trotzigen Lässigkeit bewundernswerte Regisseurin früher im Film auf Zweifelnde, Kritisierende und Rückgratlose. Sie hat eine idealistische, moralische, nach Wahrheit suchende Ausrichtung, aber die Mitarbeiter wollen nur ein bisschen Geld verdienen. Selten hat man die Farce und das Loch, das sich zwischen einem relevanten Vorhaben und der Rezeption beziehungsweise Arbeit daran auftut so schmerzvoll gesehen. Mit welchen Hindernissen und Widersprüchen sich die Regisseurin auseinandersetzen muss, ist bisweilen absurd, manchmal traurige Wahrheit. Jedoch geht es hier niemals um ein allwissendes Gegenüberstellen von Richtig und Falsch. Stattdessen etabliert Jude mit der erstaunlichen Figur Movila, einem Beamten des Bukarester Rathauses, eine philosophische Ebene, die festgezurrte Wahrheiten ins Wanken bringt. Er vertritt in brillanter Eloquenz die dominante Stimme der Kulturindustrie, des Anti-Subversiven, funkelnd und mit widerwärtiger Selbstgerechtigkeit changieren seine Argumente in den spektakulären Dialogen mit Mariana zwischen Verblendung und Wahrheit. Man hat das Gefühl, dass Jude hier auch immer wieder auf Diskurse aus der rumänischen Öffentlichkeit zurückgreift, die einem internationalen Publikum entgehen. Das wirkt aber nicht weiter schlimm, weil die Diskussionen zwischen moderner Zensur, öffentlichen Geldern, Geschichtsaufarbeitung, Kritik und Ideologie wohl überall mehr oder weniger große Rollen spielen.
Der Film bricht seine eigene Illusion, schafft aber wiederum eine Illusion, die politische Intervention attraktiv erscheinen lässt bis sie schließlich in trauriger Wirkungslosigkeit verpufft. Es geht hier nicht um einen brecht’schen Ansatz, sondern darum den Fokus von der Repräsentation auf die Repräsentierenden zu legen. Die Energie der Kamera und der Protagonisten zwischen Büchern, Inszenierungen und Streitereien erinnert wie Veronica Lazăr und Andrei Gorzo richtig bemerkten an den politischen Modernismus von Miklós Jancsó bis Jean-Luc Godard. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass von Anfang an klar ist, dass man einem Film zusieht. Hauptdarstellerin Ioana Iacob sagt uns, nachdem wir die Klappe, den Tonmann und weitere Elemente des Drehs erblicken, dass sie Mariana Marin spielen würde. Diese wäre im Gegensatz zu ihr eine Atheistin. Mariana Marin ist auch der Name einer rumänischen Poetin, die in einem ihrer Gedichte schrieb, dass sie durch ihr Heimatland eile, als wäre morgen bereits gewesen. Obwohl sich Iacob traurig darüber zeigt, dass sie nicht die Poetin spielen würde, scheint ihre Kampf zwischen Enthusiasmus und dem Druck des Schweigens durchaus gewisse Verwandtschaften mit dem Leben und Werk der Poetin im Ceauşescu-Regime zu haben.
Bleibt noch etwas über die Freude zu schreiben mit der sich der Film all dieser Heftigkeit widmet. Jude zelebriert sein Kino hier mit einer schwebenden Wucht, die nichts mit der bemühten Intellektualität zu tun hat, mit der man über den Film schreiben muss. Immer wieder rutschen Szenen ins Komische oder Absurde und bis zum Ende gibt es einen gewissen Schauwert, der mit großer Farbenpracht und Schauspielermomenten zu tun hat. Am Ende dann findet man sich in einer Präsenz, die es so sehr selten gibt in historischen Filmen. Mit offensichtlich niedrigerer Bildqualität filmt Jude die Performance am Stadtplatz. Es wirkt so, als wäre es eine Live-Mitfilmung. Die Kamera zeigt die Gesichter der Zusehenden und man ist sich nicht sicher, ob es sich um Statisten handelt oder Menschen, die tatsächlich dem historischen Schauspiel beiwohnten. Durch diese Unsicherheit und das plötzliche stilistische Einbrechen einer sogenannten „dokumentarischen“ Ebene wird einem ähnlich wie am Ende von Inimi cicatrizate die Vergegenwärtigung in Bildern gezeigt. Jude findet dadurch einen Weg die Denkprozesse zu einem puren Filmerlebnis werden zu lassen, seinen Film denken zu lassen.
Was also haben wir hier? Eine Ohnmacht vor der Geschichte? Oder doch ihre gelungene Neu-Verhandlung, ihre Vergegenwärtigung? Es ist ambivalent und wirkt sehr verletzlich in der offensiven und doch ambivalenten Art, in der Jude seine Protagonistin auf Realitäten prallen lässt. In Wien wird derzeit jeden Donnerstag gegen die Regierung demonstriert. Ob in dieser notwendigen Erhebung einer demokratischen, nicht-einverstandenen Stimme jedoch ein Optimismus vernehmbar ist, ob es sich um zielgerichtete, geteilte Aktionen handelt oder letztlich nur um hoffnungslose Wiederholungen bekannter Demonstrationsformen sei dahingestellt. Wie sehen die Bilder aus, die wir von diesen Ereignissen machen? Wie kann sich ein Protest in künstlerischer oder gesellschaftlicher Form manifestieren, der mit den Mitteln seiner Zeit arbeitet und nicht Modi der 68er übernimmt? Die Bedeutung von Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari liegt genau in diesen Fragen, die auf der einen Seite klar in rumänischen Konflikten (etwa argumentative Annäherungen zwischen Kommunismus und Faschismus, die in Deutschland schwer denkbar wären) verhandelt werden, aber auch – das zeigen auch die Zitate des Films – universell relevant sind.