Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Viennale 2025: Elfter Tag

Eine selt­sa­me Beob­ach­tung: Die Halb­to­ta­len in Cob­re von Nicólas Pere­da sind bes­se­re Nah­auf­nah­men als die Nah­auf­nah­men in Pie­tro Mar­cel­los Duse. Ich will mit die­sem Para­dox aus­drü­cken, dass man manch­mal mehr von einem Inne­ren sieht, wenn man das Äuße­re in Frie­den lässt.

Ich bekom­me eini­ge Zuschrif­ten, die sich aus unter­schied­li­chen Grün­den für das Vien­na­le-Tage­buch bedan­ken (oder mir neu­tral ver­mit­teln, dass sie es zur Kennt­nis neh­men) und das so for­mu­lie­ren, als wäre es bereits abge­schlo­ßen. Aber es geht ja noch wei­ter, Freun­de. Die­ses Fes­ti­val endet nicht. An die ers­ten Tage kann ich mich bereits nicht mehr erin­nern. Die Men­schen, die man damals im Kino gese­hen hat, sind ganz ande­re gewe­sen. Es ist fast so, als wäre man auf einem ande­ren Fes­ti­val gewesen.

Ich ver­brin­ge den Tag trotz­dem zuhau­se. Ein Fes­ti­val zeich­net sich schließ­lich nicht nur durch die Fil­me aus, die man sieht, son­dern viel­mehr noch durch die, die man sehen könn­te. Aber im Gegen­satz zu den unge­le­se­nen Büchern im Regal spürt man die Gegen­wart der Fil­me nicht, wenn man an den Kinos vor­über­geht. César Aira schrieb in sei­nem 2010 ver­fass­ten Fes­ti­val, das von der Vien­na­le in deut­scher Über­set­zung her­aus­ge­ge­ben wur­de, dass sich die gezeig­ten Fil­me des Fes­ti­vals in Bue­nos Aires im all­ge­mei­nen Bewusst­sein ver­viel­fäl­tig­ten. Das ist ein schö­ner Gedan­ke aus einer Zeit, in der Ver­viel­fäl­ti­gung noch weni­ger bedroh­lich klang.

«Wie auch immer, es herrsch­te das all­ge­mei­ne Gefühl, eine Höl­len­ma­schi­ne habe sich in Gang gesetzt. Die Wirk­lich­keit sel­ber war nicht ver­blö­det (sie funk­tio­nier­te ein­wand­frei), nur die Mensch­heit, die sie in Gang zu hal­ten ver­such­te, ver­kam zuse­hends. Und wenn es nicht die unmit­tel­ba­re Rea­li­tät war, die die­se Wir­kung hat­te, dann könn­te es sehr wohl das Kino sein. Hier schloss sich jener Teu­fels­kreis, des das Fes­ti­val des unab­hän­gi­gen Kino mit sei­nen Fil­men, die sich nie­mand ansah, durch­bre­chen wollte.»

Ich lese Airas Text zum ers­ten Mal. Er beschreibt dar­in die Irrun­gen rund um einen bel­gi­schen Fil­me­ma­cher, der für eine Retro­spek­ti­ve und als Jury­vor­sit­zen­der zu einem Fes­ti­val nach Bue­no Aires reist, aller­dings mit sei­ner schlecht­ge­laun­ten und nicht mehr ganz mobi­len Mut­ter als Beglei­tung. Auf sei­ne Art erzählt der Text auch von der Unver­ein­bar­keit eines Fes­ti­vals mit Care-Arbeit und kör­per­li­chen Gebre­chen. Ein durch­aus poli­ti­sches The­ma. Ich den­ke an Jean-Luc Godard, der ein­mal mein­te, dass sein Kör­per nicht für Film­fes­ti­vals gemacht sei, er wäre nicht vital genug. Das kann ich sehr gut nach­voll­zie­hen. Die­se Kul­tur, die sich fünf Fil­me an einem Tag ansieht und dann noch stun­den­lang trinkt und dis­ku­tiert, um am nächs­ten Tag genau das glei­che zu voll­zie­hen, ist allein kör­per­lich für mich nicht erreich­bar, mal abge­se­hen davon, dass es auch nichts ist, was ich anstre­be in mei­nem Leben.

Aira umkreist eine Sehn­sucht nach der Gegen­wart, dem Gegen­wär­ti­gen, die er nicht unbe­dacht im Dunst­kreis eines Film­fes­ti­vals aus­macht. Die­ses Gefühl «hier zu sein», die rasen­de Abfol­ge an Welt für und in der Dau­er eines Fil­mes zu verlangsamen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Wil­lem Dafoe auf dem Fes­ti­val ist. Es wur­den kaum Bil­der oder klei­ne Vide­os von ihm ver­öf­fent­licht sei­tens der Vien­na­le. Nie­mand kam in die Ver­su­chung, sei­ne Prä­senz für das eine oder ande­re Pos­ting in den Sozia­len Medi­en zu nut­zen. Es wur­den auch kaum Fotos gemacht und in den Zei­tun­gen lässt sich nichts fin­den. Es ist fast so, als wäre die­ser Dafoe unsicht­bar. Da merkt man eben wie­der, was für eine Welt­stadt Wien ist, dass die Gegen­wart eines bekann­ten Gesichts, nicht gleich alle in hel­le Auf­ruhr ver­setzt. In wie vie­len Fil­men ist die­ser Dafoe eigent­lich? Was? In mehr als Til­da Swin­ton in ihren bes­ten Jah­ren? Und da hat er noch Zeit für einen Schnapp­schuss im Gar­ten­bau­ki­no? «War toll, in Wien zu dre­hen», titelt die Kro­nen­zei­tung. So toll.

Eine Kurz­nach­richt aus Lis­sa­bon for­dert mich dazu auf, mein Tage­buch doch für eine Betrach­tung des an die­sem Tag statt­fin­den­den Fuß­ball­spiels zwi­schen Real Madrid und dem FC Bar­ce­lo­na zu unter­bre­chen. Also sehe ich mir die­ses Spiel an und spü­re eine gewis­se Erschöp­fung, als ich bemer­ke, dass auch jen­seits des Kinos vor allem über Bil­der dis­ku­tiert wird. Kal­te Bil­der, die bewei­sen wol­len, was nie­mand mit dem blo­ßen Auge sieht. Hier herrscht kei­ne Sehn­sucht nach Gegen­wart, die die­sen Sport an und für sich aus­zeich­net, son­dern eine fal­sche Sehn­sucht nach Mess­bar­keit und punk­tu­el­ler Gerech­tig­keit, von der jene pro­fi­tie­ren, die das Ratio­na­le brau­chen, jene also, die mehr Geld haben als die­je­ni­gen, die im Vagen, Irra­tio­na­len oder Zwei­feln­den Schlupf­lö­cher fin­den könn­ten. Gut aber, dass man in die­sem Sport, trotz sei­ner jahr­zehn­te­lan­gen Sym­bio­se mit Bild­me­di­en, nichts von der in Bil­der ein­ge­schrie­be­nen Ambi­va­lenz gewusst hat. So star­ren jetzt Hun­dert­tau­sen­de auf eine Video­auf­nah­me und wun­dern sich, dass sie nicht erken­nen, was wahr und falsch ist.