Eine seltsame Beobachtung: Die Halbtotalen in Cobre von Nicólas Pereda sind bessere Nahaufnahmen als die Nahaufnahmen in Pietro Marcellos Duse. Ich will mit diesem Paradox ausdrücken, dass man manchmal mehr von einem Inneren sieht, wenn man das Äußere in Frieden lässt.
Ich bekomme einige Zuschriften, die sich aus unterschiedlichen Gründen für das Viennale-Tagebuch bedanken (oder mir neutral vermitteln, dass sie es zur Kenntnis nehmen) und das so formulieren, als wäre es bereits abgeschloßen. Aber es geht ja noch weiter, Freunde. Dieses Festival endet nicht. An die ersten Tage kann ich mich bereits nicht mehr erinnern. Die Menschen, die man damals im Kino gesehen hat, sind ganz andere gewesen. Es ist fast so, als wäre man auf einem anderen Festival gewesen.
Ich verbringe den Tag trotzdem zuhause. Ein Festival zeichnet sich schließlich nicht nur durch die Filme aus, die man sieht, sondern vielmehr noch durch die, die man sehen könnte. Aber im Gegensatz zu den ungelesenen Büchern im Regal spürt man die Gegenwart der Filme nicht, wenn man an den Kinos vorübergeht. César Aira schrieb in seinem 2010 verfassten Festival, das von der Viennale in deutscher Übersetzung herausgegeben wurde, dass sich die gezeigten Filme des Festivals in Buenos Aires im allgemeinen Bewusstsein vervielfältigten. Das ist ein schöner Gedanke aus einer Zeit, in der Vervielfältigung noch weniger bedrohlich klang.
«Wie auch immer, es herrschte das allgemeine Gefühl, eine Höllenmaschine habe sich in Gang gesetzt. Die Wirklichkeit selber war nicht verblödet (sie funktionierte einwandfrei), nur die Menschheit, die sie in Gang zu halten versuchte, verkam zusehends. Und wenn es nicht die unmittelbare Realität war, die diese Wirkung hatte, dann könnte es sehr wohl das Kino sein. Hier schloss sich jener Teufelskreis, des das Festival des unabhängigen Kino mit seinen Filmen, die sich niemand ansah, durchbrechen wollte.»
Ich lese Airas Text zum ersten Mal. Er beschreibt darin die Irrungen rund um einen belgischen Filmemacher, der für eine Retrospektive und als Juryvorsitzender zu einem Festival nach Bueno Aires reist, allerdings mit seiner schlechtgelaunten und nicht mehr ganz mobilen Mutter als Begleitung. Auf seine Art erzählt der Text auch von der Unvereinbarkeit eines Festivals mit Care-Arbeit und körperlichen Gebrechen. Ein durchaus politisches Thema. Ich denke an Jean-Luc Godard, der einmal meinte, dass sein Körper nicht für Filmfestivals gemacht sei, er wäre nicht vital genug. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Diese Kultur, die sich fünf Filme an einem Tag ansieht und dann noch stundenlang trinkt und diskutiert, um am nächsten Tag genau das gleiche zu vollziehen, ist allein körperlich für mich nicht erreichbar, mal abgesehen davon, dass es auch nichts ist, was ich anstrebe in meinem Leben.
Aira umkreist eine Sehnsucht nach der Gegenwart, dem Gegenwärtigen, die er nicht unbedacht im Dunstkreis eines Filmfestivals ausmacht. Dieses Gefühl «hier zu sein», die rasende Abfolge an Welt für und in der Dauer eines Filmes zu verlangsamen.
Ich bin mir nicht sicher, ob Willem Dafoe auf dem Festival ist. Es wurden kaum Bilder oder kleine Videos von ihm veröffentlicht seitens der Viennale. Niemand kam in die Versuchung, seine Präsenz für das eine oder andere Posting in den Sozialen Medien zu nutzen. Es wurden auch kaum Fotos gemacht und in den Zeitungen lässt sich nichts finden. Es ist fast so, als wäre dieser Dafoe unsichtbar. Da merkt man eben wieder, was für eine Weltstadt Wien ist, dass die Gegenwart eines bekannten Gesichts, nicht gleich alle in helle Aufruhr versetzt. In wie vielen Filmen ist dieser Dafoe eigentlich? Was? In mehr als Tilda Swinton in ihren besten Jahren? Und da hat er noch Zeit für einen Schnappschuss im Gartenbaukino? «War toll, in Wien zu drehen», titelt die Kronenzeitung. So toll.
Eine Kurznachricht aus Lissabon fordert mich dazu auf, mein Tagebuch doch für eine Betrachtung des an diesem Tag stattfindenden Fußballspiels zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona zu unterbrechen. Also sehe ich mir dieses Spiel an und spüre eine gewisse Erschöpfung, als ich bemerke, dass auch jenseits des Kinos vor allem über Bilder diskutiert wird. Kalte Bilder, die beweisen wollen, was niemand mit dem bloßen Auge sieht. Hier herrscht keine Sehnsucht nach Gegenwart, die diesen Sport an und für sich auszeichnet, sondern eine falsche Sehnsucht nach Messbarkeit und punktueller Gerechtigkeit, von der jene profitieren, die das Rationale brauchen, jene also, die mehr Geld haben als diejenigen, die im Vagen, Irrationalen oder Zweifelnden Schlupflöcher finden könnten. Gut aber, dass man in diesem Sport, trotz seiner jahrzehntelangen Symbiose mit Bildmedien, nichts von der in Bilder eingeschriebenen Ambivalenz gewusst hat. So starren jetzt Hunderttausende auf eine Videoaufnahme und wundern sich, dass sie nicht erkennen, was wahr und falsch ist.

