Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Viennale 2025: Viennoiserien

Es ist nicht schwer zwei Fil­me wie כן! (Ken) von Nadav Lapid und صوت هند رجب (The Voice of Hind Rajab) von Kaou­ther Ben Hania ein­an­der gegen­über­zu­stel­len. Bei­de Fil­me eint ihre bedrü­cken­de Ohn­macht gegen­über der Wirk­lich­keit und zugleich unter­schei­den sie sich kaum deut­li­cher bei der Wahl ihrer Mit­tel. Wäh­rend Hania die wah­re Geschich­te eines Mäd­chens erzählt, das in Gaza inmit­ten des Kriegs­ge­sche­hens aus einem Auto mit einem Ret­tungs­team in der West­bank tele­fo­niert, und dafür die ech­ten Ton- und Video­auf­nah­men ver­wen­det, insze­niert Lapid eine Tour de Force durch die per­sön­li­chen Abgrün­de eines israe­li­schen Pia­nis­ten bei der Kom­po­si­ti­on einer neu­en Natio­nal­hym­ne. Auf der einen Sei­te wird ein Doku­ment zum Anspiel­part­ner der Fik­ti­on, auf der ande­ren Sei­te offen­bart eine fik­ti­ve Figur das Rea­le, ja gera­de die Phy­sis, an der Wirk­lich­keit zu schei­tern und sei­nen Kopf zu ver­lie­ren. Lapid schüt­telt die Kame­ra so wie die Men­schen ihre Köp­fe vor Schau­dern, nur um sie in Bild­schir­me zu ver­wan­deln, auf denen das Grau­en des Mas­sa­kers vom 7. Okto­ber und das der israe­li­schen Angrif­fe auf Gaza sicht­bar wer­den sol­len. Lapid zeigt jedoch nichts davon, erst ein wenig spä­ter wird eine ohren­be­täu­ben­de Auf­zäh­lung des­sen bei einer Auto­fahrt hör­bar, die zum Weg­se­hen drängt, wo nichts zu sehen ist. Hania been­det ihren Film mit einem Inter­view der Mut­ter von Hind Rajab, danach fol­gen zen­sier­te Auf­nah­men von der Lei­chen­ber­gung in den Trüm­mern. Nicht der sen­ti­men­ta­le, son­dern der poli­ti­sche­re Film will The Voice of Hind Rajab gegen­über Ken sein. Aber auch der Film, der das Kino hin­ter sich lässt, als er nicht näher am Kino sein könn­te: Zwei ent­fern­te Orte, ver­bun­den durch eine insta­bi­le Ver­bin­dung, kaum anders bei Hitch­cock. Lapid macht hin­ge­gen kei­nen Hehl aus sei­ner Ver­bin­dung zum Kino, wenn er nach dem Por­trät einer Per­son ohne Moral sucht: ein Wes­ter­ner im Gewand einer Felli­ni-Figur. Es könn­te eine Ret­tung sein. Dabei klagt kei­ner der bei­den Fil­me etwas an, zumin­dest nicht auf die Wei­se, einen Schul­di­gen zu benen­nen, mög­li­cher­wei­se steckt die Schuld schon in den Bil­dern selbst, was bei­de Fil­me so schwer aus­hal­ten lässt. Man kann Hani­as aus­beu­ten­den Umgang mit den Doku­men­ten so wie man Lapids Obs­zö­ni­tät für frag­wür­dig hal­ten. In bei­den Fäl­len, Ver­glei­che zu Paisà oder L’avventura lie­gen nicht fern, gibt sich aber ein Pro­blem des Rea­lis­mus zu erken­nen, das weni­ger mit den Fil­men als ihrem Echo in Fes­ti­val­ki­nos zu tun hat und hier sowohl auf frucht­ba­ren Boden wie tau­be Ohren stößt. Dem Publi­kum des hie­si­gen Fes­ti­vals lässt sich bekann­ter­ma­ßen eine gewis­se Lethar­gie, gepaart mit geküns­tel­ter Auf­re­gung beschei­ni­gen. Dahin­ter steckt ein Har­mo­nie­be­dürf­nis zwi­schen den Ansprü­chen, von einem Film zum Den­ken und Füh­len gebracht wer­den zu wol­len, und wie­der­um sei­ne eige­nen Gedan­ken, gegen die des Films stel­len zu müs­sen. Im Unter­schied zu ande­ren Fes­ti­vals muss hier das Publi­kum nicht belehrt wer­den, viel­mehr muss es ver­stan­den wer­den, und vor allem will es sich selbst ver­ste­hen. Ver­stan­den wer­den muss zum Bei­spiel, war­um acht Jah­re nach dem Tod des ewi­gen Fes­ti­val­di­rek­tors, sei­ne Nach­fol­ge­rin sich immer noch mit ihm mes­sen muss. Das bringt ein umständ­li­ches, hin und wie­der jedoch auch ein über­ra­schen­des Ver­hält­nis zur Wirk­lich­keit her­vor. Den Wie­ner Rea­lis­mus soll­te man sich wie einen Blät­ter­teig vor­stel­len: zwi­schen jede Teig­schicht kommt eine hauch­dün­ne aus But­ter, im Ofen geht alles auf, luf­tig und kna­ckig muss es sein. So kann man in Wien dar­auf ver­trau­en, dass zwei Din­ge neben­ein­an­der ste­hen blei­ben, die sich zu wider­spre­chen schei­nen. Gleich­zei­tig kann man nicht sicher sein, ob sich eine Ver­bin­dung zwi­schen bei­dem jemals fin­den lässt, denn die Tren­nung fun­giert als Gerüst. Es wirkt fast so, als hät­ten die Din­ge nichts mit­ein­an­der zu tun; und plötz­lich scheint es um mehr zu gehen als um Fil­me. Einer­seits lässt sich auf der Vien­na­le zwi­schen Hania und Lapid eine auf­wen­di­ge Distanz­wah­rung ver­neh­men. Nichts wiegt schwer im Magen und doch bleibt etwas phan­tom­haft zurück. Ande­rer­seits kann man den selbst­ver­ges­se­nen Klän­gen zu John Fords 3 Bad Men beim Film­kon­zert in der Koope­ra­ti­on mit Wien Modern lau­schen. Mit Musik wird jede ver­meint­li­che Objek­ti­vi­tät nivel­liert, das weiß man in Wien. Kon­se­quent rea­lis­tisch wäre aller­dings, erst einen Film zu sehen und danach die Musik zu hören, um stum­me Bil­der zum Klin­gen zu brin­gen. Sowohl in Ken als auch in The Voice of Hind Rajab geht es mehr um das Hören als das Sehen, manch­mal auch das Auf­hö­ren. Aber was bedeu­tet das für die Vien­na­le? Wie­ner Rea­lis­mus heißt, für sich selbst zu sehen und zu den­ken – ein Rea­lis­mus, der sich mit sich selbst beschäf­tigt. Man zwei­felt gern, oft als Selbstzweck.