Es ist nicht schwer zwei Filme wie כן! (Ken) von Nadav Lapid und صوت هند رجب (The Voice of Hind Rajab) von Kaouther Ben Hania einander gegenüberzustellen. Beide Filme eint ihre bedrückende Ohnmacht gegenüber der Wirklichkeit und zugleich unterscheiden sie sich kaum deutlicher bei der Wahl ihrer Mittel. Während Hania die wahre Geschichte eines Mädchens erzählt, das in Gaza inmitten des Kriegsgeschehens aus einem Auto mit einem Rettungsteam in der Westbank telefoniert, und dafür die echten Ton- und Videoaufnahmen verwendet, inszeniert Lapid eine Tour de Force durch die persönlichen Abgründe eines israelischen Pianisten bei der Komposition einer neuen Nationalhymne. Auf der einen Seite wird ein Dokument zum Anspielpartner der Fiktion, auf der anderen Seite offenbart eine fiktive Figur das Reale, ja gerade die Physis, an der Wirklichkeit zu scheitern und seinen Kopf zu verlieren. Lapid schüttelt die Kamera so wie die Menschen ihre Köpfe vor Schaudern, nur um sie in Bildschirme zu verwandeln, auf denen das Grauen des Massakers vom 7. Oktober und das der israelischen Angriffe auf Gaza sichtbar werden sollen. Lapid zeigt jedoch nichts davon, erst ein wenig später wird eine ohrenbetäubende Aufzählung dessen bei einer Autofahrt hörbar, die zum Wegsehen drängt, wo nichts zu sehen ist. Hania beendet ihren Film mit einem Interview der Mutter von Hind Rajab, danach folgen zensierte Aufnahmen von der Leichenbergung in den Trümmern. Nicht der sentimentale, sondern der politischere Film will The Voice of Hind Rajab gegenüber Ken sein. Aber auch der Film, der das Kino hinter sich lässt, als er nicht näher am Kino sein könnte: Zwei entfernte Orte, verbunden durch eine instabile Verbindung, kaum anders bei Hitchcock. Lapid macht hingegen keinen Hehl aus seiner Verbindung zum Kino, wenn er nach dem Porträt einer Person ohne Moral sucht: ein Westerner im Gewand einer Fellini-Figur. Es könnte eine Rettung sein. Dabei klagt keiner der beiden Filme etwas an, zumindest nicht auf die Weise, einen Schuldigen zu benennen, möglicherweise steckt die Schuld schon in den Bildern selbst, was beide Filme so schwer aushalten lässt. Man kann Hanias ausbeutenden Umgang mit den Dokumenten so wie man Lapids Obszönität für fragwürdig halten. In beiden Fällen, Vergleiche zu Paisà oder L’avventura liegen nicht fern, gibt sich aber ein Problem des Realismus zu erkennen, das weniger mit den Filmen als ihrem Echo in Festivalkinos zu tun hat und hier sowohl auf fruchtbaren Boden wie taube Ohren stößt. Dem Publikum des hiesigen Festivals lässt sich bekanntermaßen eine gewisse Lethargie, gepaart mit gekünstelter Aufregung bescheinigen. Dahinter steckt ein Harmoniebedürfnis zwischen den Ansprüchen, von einem Film zum Denken und Fühlen gebracht werden zu wollen, und wiederum seine eigenen Gedanken, gegen die des Films stellen zu müssen. Im Unterschied zu anderen Festivals muss hier das Publikum nicht belehrt werden, vielmehr muss es verstanden werden, und vor allem will es sich selbst verstehen. Verstanden werden muss zum Beispiel, warum acht Jahre nach dem Tod des ewigen Festivaldirektors, seine Nachfolgerin sich immer noch mit ihm messen muss. Das bringt ein umständliches, hin und wieder jedoch auch ein überraschendes Verhältnis zur Wirklichkeit hervor. Den Wiener Realismus sollte man sich wie einen Blätterteig vorstellen: zwischen jede Teigschicht kommt eine hauchdünne aus Butter, im Ofen geht alles auf, luftig und knackig muss es sein. So kann man in Wien darauf vertrauen, dass zwei Dinge nebeneinander stehen bleiben, die sich zu widersprechen scheinen. Gleichzeitig kann man nicht sicher sein, ob sich eine Verbindung zwischen beidem jemals finden lässt, denn die Trennung fungiert als Gerüst. Es wirkt fast so, als hätten die Dinge nichts miteinander zu tun; und plötzlich scheint es um mehr zu gehen als um Filme. Einerseits lässt sich auf der Viennale zwischen Hania und Lapid eine aufwendige Distanzwahrung vernehmen. Nichts wiegt schwer im Magen und doch bleibt etwas phantomhaft zurück. Andererseits kann man den selbstvergessenen Klängen zu John Fords 3 Bad Men beim Filmkonzert in der Kooperation mit Wien Modern lauschen. Mit Musik wird jede vermeintliche Objektivität nivelliert, das weiß man in Wien. Konsequent realistisch wäre allerdings, erst einen Film zu sehen und danach die Musik zu hören, um stumme Bilder zum Klingen zu bringen. Sowohl in Ken als auch in The Voice of Hind Rajab geht es mehr um das Hören als das Sehen, manchmal auch das Aufhören. Aber was bedeutet das für die Viennale? Wiener Realismus heißt, für sich selbst zu sehen und zu denken – ein Realismus, der sich mit sich selbst beschäftigt. Man zweifelt gern, oft als Selbstzweck.

