Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Viennale 2025: Zehnter Tag

Die Jor­o­pop-Ses­si­ons ver­sü­ßen den blin­zeln­den Mor­gen­him­mel­blick. Di quién es feliz und ein zu star­ker Kaf­fee, wäh­rend ich beglei­tet von mich anstar­ren­den Neu­fund­län­dern nach Schwarz­kohl in von in der Son­ne glän­zen­den Schne­cken bevöl­ker­ten Gemü­se­kis­ten am Kutsch­ker­markt grei­fe. Es tut gut, etwas anzu­grei­fen, bei all den Spiegelungen.

Ich sehe noch­mal Isa­bel Pagli­ais Fan­tai­sie. Ein Film, der ver­steht, dass die Hel­lig­keit, mit der wir uns umge­ben, kei­nen Schutz vor den Schmer­zen lie­fert. Statt­des­sen taucht er ins Obsku­re ein, ins Schwarz der Lein­wand und fin­det dar­in eine mög­li­che Nähe.

Selbst­re­dend gibt es auch bei Pagli­ai Hun­de (und eine Kat­ze). In den Wäl­dern der Bre­ta­gne spie­len sie am Was­ser wie Ker­be­ros am Ufer der Arve in ihrem Orfeo. Das Werk die­ser erstaun­li­chen Fil­me­ma­che­rin erzählt bis­lang auch davon, dass die Kind­heit nicht­mal am Ein­gang zur Höl­le endet.

Eine Sze­ne, in der Loui­se Morel ihre Mas­tur­ba­ti­on beschreibt, offen­bart die sich zwi­schen Spra­che und Bild öff­nen­den Poten­zia­le. Manch­mal wirkt es fast so, als woll­te das Bild, die Wor­te stop­pen und anders­her­um. Kein Entkommen.

Frü­her wur­de wäh­rend der Vien­na­le min­des­tens ein Film von Daniè­le Huil­let und Jean-Marie Straub gezeigt. Eigent­lich wäre das not­wen­di­ger denn je. Ein­fach nur, um dem Bil­der­sturm etwas ent­ge­gen­zu­hal­ten. Am Abend sehe ich Schwar­ze Sün­de. Ich neh­me die Stur­heit des Elfen­bein­turm­be­woh­ners an den Hän­gen des Etna stär­ker wahr als beim letz­ten Sehen. Als Pau­sa­ni­as ihm von einem ruhi­gen Haus erzählt, in dem er doch auch leben könn­te, gräbt sich die Hand von Empe­do­k­les in die Ascheer­de. Dort in der dunk­len Mit­te des Gebirgs will er auch nicht sein. «Mir blüht es anders­wo», sagt er in Höl­der­lins Wor­ten und die Kame­ra beginnt die blü­hen­den Wald­hän­ge des Vul­kans abzu­schwen­ken, als wäre sie nicht sicher, ob die­ses anders­wo das Jen­seits oder das unbe­ding­te Dies­seits meint. Dann wird lang­sam klar, wie eng das Äthe­ri­sche und die Natur zusam­men­hän­gen, wohl immer noch ein radi­ka­ler Gedanke.

Die Müdig­keit vor der Wirk­lich­keit ist in die­sem Film auch eine Demut vor der Zeit, die in sie ein­ge­schrie­ben ist.

Ich den­ke an den Text, den Jean Epstein über den Etna geschrie­ben hat. Le Ciné­ma­to­gra­phe vu de l’Etna. Dar­in beschreibt er, wie er nach Sizi­li­en kam, um den Aus­bruch des Vul­kans 1923 zu doku­men­tie­ren. Wo bei Schwar­ze Sün­de eine Ver­in­ner­li­chung der Natur­phä­no­me­ne statt­fin­det, herrscht bei Epstein das Spek­ta­kel der Ober­flä­chen. Den­noch gibt es im Blick auf die Land­schaft einen ent­schei­den­den Berüh­rungs­punkt, der sämt­li­che «König­rei­che der Natur in einer gemein­sa­men Ord­nung fasst».

Es ist eine ver­pass­te Chan­ce, dass eine sol­che Film­schau wie jene, die Epstein gewid­met ist, nicht auch nach­drück­li­cher auf des­sen Lite­ra­tur ein­geht. Eine Lesung wäre schon ein Anfang, denn Epstein ist ohne sein Schrei­ben gar nicht zu den­ken. Das bereits 2008 bei Film­mu­se­um­Syn­e­ma­Pu­bli­ka­tio­nen erschie­ne­ne Buch Bon­jour Ciné­ma und ande­re Schrif­ten zum Kino (Über­set­zun­gen von Ralph Eue) ist sehr zu empfehlen.

In B wie Bart­le­by zeigt Ange­la Sum­me­re­der die römi­sche Auto­fahrt ihres ver­stor­be­nen Ex-Part­ners Bene­dikt Zulauf aus Geschichts­un­ter­richt von Huil­let, Straub. Sie sagt mir, dass das Bild­for­mat und das Film­ma­te­ri­al ihren Aus­gangs­punkt im Film der Straubs haben. Ihre Arbeit ist also auch ein Fort­schrei­ben. Ein Fort­schrei­ben des gemein­sam begon­ne­nen Films mit Zulauf, ein Fort­schrei­ben von Her­man Mel­vil­les Bart­le­by-Text, ein Fort­schrei­ben von Geschichts­un­ter­richt. Ich kann nicht jede Rich­tung, in die sie damit geht, nach­voll­zie­hen. Wohl aber kann ich stets nach­voll­zie­hen, woher sie kommt.

Ah, Bart­le­by! Ah, humanity!