Dienstag: Das diesjährige VIS beginnt mit Regenwetter, was an und für sich nicht der Rede wert wäre, doch da die Eröffnung im Gartenbaukino stattfindet, dessen Foyer nicht einmal annähernd dafür ausgelegt ist, dass die über siebenhundert Besucher darin Platz finden (von den dortigen tropischen Temperaturen will ich gar nicht sprechen), verweilt man vor Filmbeginn draußen – im Regen. Man sieht und wird gesehen, denn diese Eröffnung ist ein Lifestyle-Event mehr denn ein Filmscreening. Das erkennt man unter anderem auch an der Menge an Studienkollegen, die mir über den Weg laufen, und die sich sonst nur in Ausnahmesituationen in ein Kino verirren. Filmfestivals sind hip und das VIS ist womöglich das allerhipste unter ihnen in Österreich. Das Team gibt sich dabei echt Mühe seine Professionalität hinter sympathischer Geselligkeit und Hipster-Chic zu verstecken, doch dem geübten Besucherauge bleibt der reibungslose Ablauf nicht verborgen und auch die sorgsam kuratierten Programme nehmen jedes Jahr an Anspruch und Finesse zu. Dieses Jahr hat das Angebot gar meine Zeitressourcen gesprengt: Ich habe es weder in den U/Tropia-Showroom geschafft, noch ins Liegekino, noch zu den Cinema Sessions.
Die eindrucksvolle thematische und formale Breite zeigte sich schon im Programm, das im Rahmen der Eröffnung gezeigt wurde: Eine norwegische Roadtripkomödie (Subtotal von Gundhild Enger), ein experimentelles tableau vivant (Evidence of the not yet known von Maria von Hausswolff) eine digitale Installation (Vitreous von Robert Seidel), Animation brute in Handarbeit (Unhappy Happy von Peter Millard), ein Familiendrama-Psychospiel (Alles wird gut von Patrick Vollrath) und zum Auftakt Don Hertzfeldts Special Opening für die 26. Staffel der Simpsons. Natürlich hat so ein Programm seine Höhen (Vitreous) und seine Tiefen (Alles wird gut), aber wie schon letztes Jahr imponierte mir vor allem die Zusammenstellung, das gleichwertige Nebeneinanderstellen von vergleichsweise konventionellen Spielfilmen und total abstrakter Avantgarde, ohne dass dabei das eine das andere erschlägt oder übertrumpft. Der Spielfilm, der so oft die experimentelleren Formen des Filmschaffens überschattet (nicht zuletzt durch seine übliche Länge von eineinhalb bis zwei Stunden, die Experimentalfilme selten erreichen), wird hier von seinem Podium gehoben und tatsächlich finden sich die interessantesten Filme in den Programmen zum Avantgarde- und Animationsfilm.
Von der Eröffnungsnacht blieben mir auch insbesondere diese Filme in Erinnerung, allen voran Robert Seidels ursprünglich als Installation konzipierte Farb- und Formorgie Vitreous und Peter Millards absurder Highspeedklamauk Unhappy Happy. Das mag aber zum Teil auch an meinem Sitzplatz gelegen haben. Aus der zweiten Reihe im kolossalen Gartenbaukino gelingt es nicht immer optimal die notwendigen Informationen aus dem Bild zu extrahieren um der Handlung zu folgen – man kommt schlichtweg nicht mit dem Schauen nach – wohingegen Experimentalfilme, wie die oben angesprochenen, zwar anders wahrgenommen werden, diese unterschiedliche Perzeption jedoch keine Form von Sinnverlust bedingt.
Mittwoch + Donnerstag: Ein Grund, weshalb ich viele der Programmpunkte nicht aufsuchen konnte, war ein Amerikaner mittleren Alters, der das VIS dieses Jahr als Stargast beehrte. Der Name Don Hertzfeldt prangte seit der Ankündigung seines Besuchs in breiten Lettern auf meinem Kalender. Zwei eineinhalbstündige Programme und eine Master Class waren angekündigt und als einzige Veranstaltungen in meinem Programmheft fett unterstrichen. Die Vorfreude war nicht umsonst, denn alle drei Veranstaltungen waren großartig. Das ist nicht zu kleinen Teilen dem Filmemacher selbst zu verdanken, der mit seiner lockeren Art das Publikum zu fesseln wusste, aber sich dennoch nicht in Witzchen und Anekdoten verlor, sondern dabei seine Auffassung von Film kundtat und Einblicke in seine Arbeitsweise bot. Ein Blick zurück auf seine Ausführungen lässt erahnen, dass dieser Mann wohl in sehr vielen Bereichen erfolgreich geworden wäre. Er arbeitet intuitiv und eint ein natürliches Talent für Rhythmus und Timing (beides essentielle Fähigkeiten für einen Animateur) mit einer asketischen Arbeitsmoral. Die seltsame ökonomische Situation, in der sich unabhängige Filmemacher in den USA befinden, die ihre künstlerische Vision unangetastet lassen wollen, aber ihre Werke als Produkte am Markt verkaufen müssen, um davon Leben zu können, hat hier in Kombination mit dem postmodernen Zeitgeist und Humor der 90er Jahre, den medialen Formen und Verformungen des Internetzeitalters und typisch amerikanischer Bescheidenheit und Pragmatik einen großen Denker herangezüchtet, der sein Denken ausschließlich über sein künstlerisches Werk vermittelt. Hertzfeldt hat zwar immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, aber ist gewiss kein Mann der großen, bedeutungsschwangeren Worte. Hertzfeldt sieht sich selbst als Künstler, scheut aber vor allzu tiefgehender Analyse seines eigenen Werks zurück, da ihn eine solche blockiere. Er ist der Theorie und Kritik nicht abgeneigt (auch das wäre eine typische europäische Reaktion), jedoch praktiziert er sie nicht selbst, sondern konzentriert sich auf seine künstlerische Arbeit – Diskursfordismus wenn man so will. So wenig Hertzfeldt wohl selbst von dieser Überlegung angetan wäre, so sehr sehe ich in ihm eine letzte Inkarnation des Geniegedankens des 19. Jahrhunderts, einen Mann, der von Passion und der Muse angetrieben kompromisslos seine Kunst verfolgt, ohne dabei groß Rücksicht auf Moden und Technologien zu nehmen und sich das Leben durch seine primitiven Gestaltungsmittel allzu oft selbst schwer macht.
Freitag: Grillparty.
Samstag: Nach der Master Class ein letzter Abstecher in eines der drei Programme der Animation Avantgarde Sektion. Dort wartete der spätere Sieger des Avantgardefilmpreises auf mich, den ich während der Diagonale aufgrund eines technischen Problems nicht vollständig sehen konnte. Moon Blink von Rainer Kohlberger ist ein monumentales Fest für die Augen. Ein Test der Wahrnehmung, zehn Minuten der puren epileptischen Ekstase, die nicht einmal durch tratschende Zuschauer getrübt werden konnte. Ein Film, der alles übertönt und überwuchert und sich in langsamen pulsierenden Wellen in grellem Weiß und satten Farben der kaleidoskopischen Allmacht der Algorithmen hingibt. Die Augen schmerzen angesichts der totalen digitalen Abstraktion – ganz im Gegenteil zu Robert Seidels geradezu organischen, sanften Formen – und wenn das Flackern und Pulsieren wieder abebbt und sich der Herzschlag wieder beruhigt, dann wünscht man sich zurück in diese heile Welt der bedeutungsvollen Bedeutungslosigkeit, in der man dem Leben entfliehen und in purer Perzeption aufgehen kann. Ein bisschen so wie das Leben nach einem Filmfestival.