Überfliegt man die Rezensionen der neuen Wolf-Haas-Adaption Das ewige Leben von Wolfgang Murnberger findet man durch die Bank Bemerkungen über die Abweichungen von der Romanvorlage, den tollen Cast und den fortschreitenden Verfall des Hauptcharakters Simon Brenner, dem die äußere Gestalt von Josef Hader, auch außerhalb dieser Filmrolle bedrohlich nacheifert. (Gibt es eigentlich einen anderen so beliebten Filmschauspieler, der so ungesund ranzig aussieht?) Es geht also zumeist um schauspielerische Leistungen, um Anknüpfungspunkte zu den anderen Filmen der Reihe, um die düstere Atmosphäre und um den Schauplatz Graz.
Warum aber liest man nirgends, dass Das ewige Leben eigentlich ein Avantgarde-Film ist? Zugegeben, diese Formulierung schießt etwas über das Ziel hinaus. Niemand wird bestreiten, dass Das ewige Leben in erster Linie ein stringent erzählter Krimi ist, aber ohne dem Film seine Qualitäten in dieser Hinsicht absprechen zu wollen, wird er aus filmischer Sicht erst wirklich interessant, wenn man den Blick auf die Flashbacks wirft, in denen die Ereignisse vor fünfunddreißig Jahren gezeigt werden, die den Hintergrund für die Verstrickungen des Plots liefern. Diese Flashbacks sind lose, fragmentiert, zunächst nicht kontextualisiert und unterscheiden sich in ihrem Stil deutlich vom restlichen Film.
Ein Blick zurück hilft vielleicht, um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist. Wir schreiben das Jahr 1990, der Jungregisseur Wolfgang Murnberger hat soeben seinen ersten Langfilm fertiggestellt. In Himmel oder Hölle, verarbeitet er semi-autobiographisch seine Kindheit als Sohn von Kinobesitzern im ländlichen Ostösterreich. Das Leben des jungen Protagonisten wird episodenhaft dargestellt, während immer wieder Momente poetischen Innehaltens den Erzählfluss durchbrechen. Diese Bilder ähneln stark den Erinnerungsbildern in Das ewige Leben – sie sind sonnendurchflutet, nostalgisch, seltsam verklärt und dienen mehr dazu eine bestimmte Atmosphäre aufzubauen, als den Plot voranzutreiben.
Vier Jahre nach Himmel oder Hölle legte Murnberger mit Ich gelobe einen weiteren semi-autobiographischen Film vor; dieses Mal ließ er seine Bundesheerzeit Revue passieren. Ich gelobe zeigt Murnbergers Geschick im Umgang mit der österreichischen Mentalität, die hier, ähnlich wie in den Brenner-Filmen, nicht explizit zum Thema gemacht wird, aber immer nebenher mitverhandelt wird. Der Film endet mit dem Unfalltod von einem der Kameraden, die zusammen ihren Präsenzdienst absolvieren – sie sind in etwa im gleichen Alter wie die vier Freunde in den Flashbacks aus Das ewige Leben. Hat Murnberger also hier eine Synthese aus seinen zwei persönlichsten Filmen von vor zwanzig Jahren gezogen und die formalen Aspekte von Himmel oder Hölle und inhaltliche Gemeinsamkeiten zu Ich gelobe mit der fiktiven Vorlage eines anderen Autors verwoben?
Diese Mutmaßung lässt sich für den Moment nicht überprüfen, und ist für den weiteren Argumentationsverlauf auch nicht unbedingt von Belang, aber sie zeigt, dass Murnberger in Das ewige Leben womöglich einen persönlicheren Zugang wählte, als in den früheren Brenner-Filmen. Es sind also nicht die Krimielemente, die aus der Romanvorlage übernommen wurden, nicht die treffende Zeichnung des österreichischen Lokalkolorits, sondern diese Momente der Erinnerung an eine bessere Zeit, die immer wieder in den Film hineindringen und als Überbrückung fungieren, wenn Brenners Gedächtnis aussetzt oder seine Migräneanfälle ihn übermannen, die den Film von der Masse abheben. Die Szenen werden allerdings nie so gezeigt, dass man davon ausgehen könnte sie seien Brenners eigene Erinnerungen; sie werden nicht durch Kamerazufahrten auf den Kopf Brenners eingeleitet und sie sind nur bis zu einem gewissen Grad subjektiv. Entweder lässt Brenners Amnesie oder die zeitliche Distanz zu den Ereignissen diese Erinnerungen undeutlich werden, womöglich sind die Erinnerungen an diese Momente im Alkohol- und Adrenalinrausch per se undeutlich – oder aber, bei den Szenen handelt es sich gar nicht um Brenners Erinnerungen, sondern um Sehnsuchtsbildern, in denen die Figuren aus der Geschichte, die in diesen Szenen am ehesten anhand ihrer Fortbewegungsmittel identifiziert werden können, aus der Perspektive eines unbenannten Anderen zeigen. Ein Blick, wie er häufig in den Trancefilmen der frühen US-Avantgarde zu sehen ist, ein mythischer und poetischer Blick, der in sich wenig Bedeutung trägt – die Szenen werden erst durch die Thematisierung in den Dialogen des normalen Handlungsverlaufs verortet und verständlich gemacht – und in erster Linie ästhetische und atmosphärische Funktion hat. Man hätte das alles sehr viel stringenter, einfacher, simpler und langweiliger machen können, wie das Gros der gegenwärtigen Kinofilme, doch Murnberger und Co wählen einen sehr viel spannenderen Weg, lassen vieles im Ungewissen, decken Zusammenhänge erst im Nachhinein auf und lassen den Film ohne Auflösung enden.
In Zeiten, in denen im Kino erfolgreich ist, was dem Publikum alles, was es zu wissen gibt auf dem Silbertablett serviert, ist den Machern von Das ewige Leben hoch anzurechnen, dass sie sich diesem Trend (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) widersetzen.